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PARTEIEN/237: Britischer Wahlkampf im Zeichen der Finanzkrise (SB)


Britischer Wahlkampf im Zeichen der Finanzkrise

Labour, die Tories und die Liberaldemokraten buhlen um Wählergunst


Am 6. Mai sollen die Wähler im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland über die Vergabe der 646 Sitze im House of Commons, dem Unterhaus des britischen Parlaments in London, und damit auch über ihre künftige Regierung entscheiden. Lange Zeit stand die bevorstehende Wahl im Zeichen eines Titanenkampfes zwischen der regierenden Labour-Partei um Premierminister Gordon Brown und den oppositionellen Tories um David Cameron. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die Sozialdemokraten und die Konservativen die politische Landschaft Großbritanniens dominiert. Doch seit der ersten Fernsehdebatte zwischen den Parteiführern, die am 10. April stattfand, sehen sich Brown und Cameron plötzlich unerwarteter Konkurrenz ausgesetzt.

Bei der ersten von drei Fernsehdebatten zu den Themen Innen-, Außen- und Wirtschaftspolitik - hat ihnen Nick Clegg, der Vorsitzende der Liberaldemokraten, der ewigen "dritten Kraft" der britischen Politik, die Schau gestohlen und liegt seitdem in den meisten Umfragen vorn. Cleggs Fernseherfolg hat wiederum den Prozentanteil der Menschen, die in Umfragen erklären, sie beabsichtigten, bei der Wahl für die Liberaldemokraten zu stimmen, hochschnellen lassen. Sie liegen nun bei rund 27 Prozent gleichauf mit Labour und nur leicht hinter den Tories mit rund 32 Prozent. Der unerwartete Popularitätszuwachs von Clegg und den Liberaldemokraten hängt mit der großen Unzufriedenheit der britischen Wähler mit Labour, die seit 1997 - bis 2007 war es mit Tony Blair als Premierminister und Brown als Schatzmeister - regiert, und mit den Konservativen, die unter Margaret Thatcher und John Major in den 18 Jahren davor das Sagen hatten und bis heute ihren Ruf als Partei der Wohlhabenden nicht loswerden, sowie nicht zuletzt mit der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise zusammen.

Der britische Staat - diesjähriges Defizit 11,8 Prozent, Gesamtverschuldung 60 Prozent des Bruttosozialprodukts - und die britischen Privathaushalte sind stark verschuldet. Es werden für die kommenden Jahre radikale Ausgabenkürzungen bei einer eher schwächelnden Volkswirtschaft befürchtet. Auf der Führungsebene der drei genannten Parteien ist eine Ausgabenkürzung in allen Ministerien in den nächsten vier Fiskaljahren von rund 20 Prozent im Gespräch, um bis Ende der nächsten Legislaturperiode das laufende Haushaltsdefizit zu halbieren. Um dies zu erreichen, werden vermutlich viele Menschen aus dem Staatsdienst - wie zum Beispiel Lehr- und Krankenhauspersonal - entlassen werden. Der ohnehin seit Jahren zu verzeichnende Trend zur Privatisierung vormals hoheitlicher Aufgaben wie Müllabfuhr und öffentlicher Verkehr wird sich fortsetzen und die ohnehin riesige Armee an Menschen, die im Billiglohnsektor arbeiten, weiter vergrößern.

Die anstehenden Einsparungen haben Clegg dazu veranlaßt, öffentlich das bisherige Festhalten Großbritanniens an seinem geldverschlingenden, u-boot-gestützten Atomwaffenarsenal in Frage zu stellen. Der Liberaldemokrat hat angeregt, im Rahmen von US-Präsident Barack Obamas Initiative der internationalen Atomwaffenabrüstung sollte London anbieten, auf die anstehende, auf 80 Milliarden Dollar geschätzte Erneuerung des britischen, mit Nuklearsprengköpfen ausgerüsteten Raketensystem Trident samt der zugehörigen U-Boote zu verzichten. Gegen diesen Vorschlag, der bei der Bevölkerung populär ist, laufen Labour und die Tories Sturm und behaupten, ohne die Atomwaffen wäre Großbritannien keine Großmacht mehr und würde seinen Sitz als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verlieren. Interessanterweise haben in einem offenen Brief, der am 21. April in der Times of London veröffentlicht wurde, vier ranghohe Militärs den Clegg-Vorschlag als einzige Möglichkeit begrüßt, die notwendigen Gelder freizusetzen, um die in Afghanistan kämpfenden Soldaten angemessen auszurüsten und die Armee, Marine und Luftwaffe von Grund auf zu modernisieren.

Selbst wenn Clegg bei den nächsten beiden Fernsehdebatten nach Meinung der Zuschauer und der Medienkommentatoren erneut Brown und Cameron schlagen sollte, werden die Liberaldemokraten bei der Wahl dennoch nicht die meisten Sitze im Unterhaus gewinnen. Dieser Umstand erklärt sich unter anderem aus dem britischen Wahlsystem des First past the Post. Es gibt keine Listenplätze. Die Abgeordnetensitze im Parlament werden auch nicht prozentual nach dem landesweiten Ergebnis der politischen Gruppierungen verteilt. Statt dessen will jeder Sitz im Unterhaus vor Ort im Wahlbezirk gewonnen werden. Die Person, welche die meisten Stimmen für sich verbuchen kann, ist der Sieger. Wenn es viele Kandidaten gibt, was auch meistens der Fall ist, kann der Sieger auch mit weit weniger als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen gewinnen.

Hinzu kommt, daß es viele Wahlbezirke gibt, bei denen von vornherein feststeht, daß die eine oder andere bestimmte Partei sie gewinnen wird. Traditionelle Labour-Bastionen in ärmeren Innenstädten oder den früheren Schwerindustriegebieten Nordenglands sind für die Konservativen nicht zu erobern genauso wie umgekehrt die Erfolgschancen der Sozialdemokraten im wohlhabenden Tory-Heartland im Speckgürtel Londons und im Südosten Englands gleich null sind. Deshalb investieren Konservative, Sozialdemokraten und Liberaldemokraten die meiste Energie in den sogenannten "marginals", jene etwas mehr als 200 Sitze, bei denen nicht von vornherein feststeht, an welche Partei sie gehen.

Um die Parlamentswahlen zu gewinnen, müssen die Tories - derzeit 198 Abgeordnete - Labour - derzeit 356 - fast 100 Sitze abnehmen. Gelingt es den regierenden Sozialdemokraten, die zu erwartenden schmerzhaften Verluste in Grenzen und den landesweiten Stimmenvorsprung der Tories unter vier Prozent zu halten, könnten sie aufgrund des Zuschnitts der Wahlkreise nach der Auszählung immer noch die Partei mit den meisten Sitzen darstellen. Das ständige Schrumpfen des Vorsprungs der Konservativen hat bereits vor Monate die Demoskopen zur Prognose verleitet, nach der Wahl sehe sich das Land zum erstenmal seit Jahrzehnten mit einem "hung parlament", das heißt mit einem Unterhaus, in der keine Partei über eine absolute Mehrheit verfügt, konfrontiert. Diese Prognose hat die Wähler dazu veranlaßt, sich näher mit Nick Clegg und den Liberaldemokraten zu befassen, denn es spricht alles dafür, daß diese nachher darüber zu befinden haben werden, mit wem sie koalieren. Man geht davon aus, daß sie die Zahl ihrer Sitze von derzeit 62 auf etwa 100 werden erhöhen können.

Derzeit deutet einiges darauf hin, daß die Liberaldemokraten mit Labour eine Koalition bilden werden. Für diese Eventualität hat Brown bereits seinen Rücktritt als Regierungschef angedeutet. In einem solchen Fall würde Außenminister David Milliband vermutlich Premierminister und Labour-Vorsitzender zugleich. Jedenfalls hat der große Zuspruch für die Liberaldemokraten, welche den Konservativen den Sieg in nicht wenigen "marginal seats" kosten könnten, unüberhörbare Panikreaktionen bei den Tories ausgelöst. Obwohl der Wahlkampf noch zwei Wochen zu laufen hat, wird aus Parteikreisen bereits vernichtende Kritik an der Führung Camerons und dessen Konzept von der "big society" laut.

Mit dieser Idee wollte Cameron dem Argument entgegentreten, die Tories wären nur für die besserverdienenden Schichten da, und gleichzeitig eine Art Voluntarismus einführen, der künftig die durch staatliche Kürzungen entstandenen Löcher im gesellschaftlichen Netz stopfen soll. Trotz der Mitwirkung des Schauspielers Michael Caine hat die Idee nicht richtig verfangen. Cameron selbst wirkt sympathisch, doch niemand kauft ihm ab, daß die Konservativen, kehrten sie an die Macht zurück, nicht wieder mit der Umverteilung von unten nach oben loslegten. Hinzu kommt, daß Camerons Voluntarismus - nehmen wir alleine seinen Vorschlag zur Einführung eines Jahres Sozialdienst für alle Schulabgänger - stark nach Zwang riecht. Eins steht jedenfalls fest, sollte Cameron nach William Hague 2001 und Iain Duncan Smith 2005 nicht gelingen, die Downing Street für die Konservativen zurückzuerobern, dann steht eine der bei den Tories immer wiederkehrenden Nächte der langen Messer auf dem Plan.

22. April 2010