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PARTEIEN/242: Ende der Ära New Labours in Großbritannien (SB)


Ende der Ära New Labours in Großbritannien

In London übernimmt eine Tory-Lib-Dem-Koalition die Macht


Nach einem der dramatischsten Tage in der britischen Politikgeschichte ist es am Abend des 11. Mai in der Downing Street zur Wachablösung gekommen. Nur 24 Stunden, nachdem Gordon Brown vor dem berühmten Türeingang des Amts des Premierministers mit der Nummer 10 seinen Rücktritt als Vorsitzender der Labour-Partei für den Herbst angekündigt und damit den Weg für die Aufnahme formeller Verhandlungen zwischen seiner Fraktion und den Liberaldemokraten über die Bildung einer Regierung der "progressiven" Kräfte freigemacht hatte, erklärte er an gleicher Stelle, diesmal aber im Beisein seiner Frau und beiden Söhne, seinen Abschied von der aktiven Politik. Anschließend fuhr er in den Buckingham Palace und bat Königin Elizabeth II. um die Entlassung als Regierungschef.

Rund eine halbe Stunde später empfing die britische Monarchin David Cameron, den Vorsitzenden der Konservativen, der sie informierte, als künftiger Chef der Fraktion mit den meisten Stimmen im Unterhaus habe er sich mit Nick Clegg, dem Vorsitzenden der Liberaldemokraten, auf die Bildung einer Koalitionsregierung geeinigt, die über eine solide Mehrheit verfügen werde. Daraufhin hat die Königin Cameron zum neuen Premierminister ernannt. Danach fuhr dieser in die Downing Street, gab eine kurze Presseerklärung ab, ließ sich mit Clegg fotografieren und zog anschließend mit seiner schwangeren Frau als neuer Hausherr in die Nummer 10 ein. Damit ging die Ära von New Labour, die mit dem erdrutschartigen Sieg der Männer und Frauen um Tony Blair bei der Unterhauswahl im Mai 1997 begonnen hatte, zu Ende.

Angesichts dieser stürmischen Entwicklung sind Millionen von Labour-Anhängern enttäuscht und fragen sich, was schief gegangen ist und warum die Liberaldemokraten statt, wie es vorübergehend aussah, mit der bisherigen Regierungspartei doch noch eine Koalition mit den oppositionellen Tories eingegangen sind. Die Antwort ist einfach. In der entscheidenden Phase haben Cameron und seine engsten Berater George Osborne und William Hague Führungstärke bewiesen. Ungeachtet aller Unzufriedenheit in den Tory-Reihen darüber, daß man bei der Wahl die absolute Mehrheit nicht geschafft hatte, ist Cameron gleich nach Verkündung des amtlichen Endergebnisses auf Clegg zugegangen und hat in aller Öffentlichkeit den Liberaldemokraten eine künftige Zusammenarbeit auf Augenhöhe angeboten. Als es am 10. Mai nach langen Diskussionen noch keine Einigung gab und die Liberaldemokraten nach der überraschenden Rücktrittsankündigung Browns Verhandlungen mit Labour aufnahmen, hat Cameron den Einsatz gleich erhöht und den Lib Dems die Erfüllung ihrer wichtigsten Forderung in Aussicht gestellt, nämlich eine Abschaffung des britischen Mehrheitswahlrechts vor Ende der nächsten Legislaturperiode, damit sich die Verteilung der Sitze im Unterhaus künftig nach dem landesweiten Stimmenanteil der Parteien richtet. Bedenkt man den starken Widerstand auf Seiten der Tories gegen dieses Vorhaben, dann ist es erstaunlich, daß sich Cameron zuvor die Zustimmung aller künftigen 306 konservativen Abgeordneten für diesen Vorstoß eingeholen konnte.

Aus einer Position der Schwäche heraus hatten Brown und seine Vertrauensmänner Lord Peter Mandelson und Lord Andrew Adonis ihre Karten nach der Wahl gut ausgespielt, den Liberaldemokraten heimliche Avancen und ein zunächst eindeutigeres Angebot zum Thema Wahlrechtsreform gemacht. Doch vom Beginn der eigentlichen Verhandlungen zwischen den Unterhändlern von Labour und den Lib Dems an ging alles schief. Wie dies passieren konnte, ist nicht ganz klar, schließlich geben derzeit beide Seiten der anderen die Schuld. Aus Lib-Dem-Kreisen heißt es, die Labour-Vertreter, die in den meisten Fällen zuletzt Ministerien geleitet hatten, hätten sich wie Besserwisser aufgespielt und die möglichen Juniorpartner wie Bittsteller behandelt. Die Labour-Version lautet, Clegg und die Seinigen hätten völlig inakzeptable Forderungen wie beispielsweise den Beginn schmerzhafter Haushaltskürzungen noch in diesem Jahr gestellt, weil sie die Verhandlungen mit den Sozialdemokraten nur als Alibifunktion brauchten, um nach ihrem Scheitern einen Deal mit den Tories machen und ihn anschließend an die eigene, eher nach links als rechts tendierende, liberaldemokratische Basis verkaufen zu können.

Inwieweit etwas an der Labour-Legende von der Perfidie der Liberaldemokraten ist, läßt sich derzeit nicht abschließend sagen. Was sich aber dafür ohne weiteres feststellen läßt, ist, daß die Sozialdemokraten die möglichen Koalitionspartner selbst abgeschreckt haben. Zusammen verfügten die Konservativen - 306 Sitze - und die Lib Dems - 57 - über eine satte Mehrheit im Unterhaus, Labour und die Clegg-Partei dagegen nur über eine Minderheit von 315 von 650. Um sich die nötige Mehrheit zu beschaffen, hätten sie einen Deal mit nordirischen, schottischen und walisischen Nationalisten machen müssen. Ein solcher Handel erschien möglich. Was sich als eigentliches Problem während der Verhandlungen erwies, waren Querschüsse des rechten konservativen Labour-Flügels, angeführt von den ehemaligen Ministern David Blunkett und John Reid, die öffentlich von einer Allianz mit den Liberaldemokraten abrieten und damit der rechten britischen Presse zuarbeiten, die bereits Schauergeschichten über das drohende Chaos im Land unter einer "Regierung der Verlierer" in die Welt setzte. Die Stimmung gegen ein eventuelles Labour-Lib-Dem-Bündnis wurde von den "Märkten" durch Turbulenzen an der Londoner Börse und Gerüchten über die Gefahr einer Schuldenkrise zusätzlich und entscheidend angefacht. Dementsprechen haben die Börsenspekulanten die Nachrichten von der Aussetzung der Verhandlungen zwischen Labour und den Lib Dems, dem Rücktritt Browns und der Ernennung des 43jährigen Cameron zum jüngsten Premierminister Großbritanniens seit 1812 in kurzfristige Kursgewinne umgemünzt.

Wie es weitergeht mit Camerons nach ihm benannter "liberal-konservativer" Regierung, ist die große Frage. Zwar haben die Liberaldemokraten fünf Ministerien erhalten, aber kein entscheidendes. Die Konservativen kontrollieren mit dem Euroskeptiker William Hague als Außenminister, George Osborne als Finanzminister, Liam Fox als Verteidigungsminister und Kenneth Clarke als Justizminister die Schüsselressorts. Clegg wird Vizepremierminister, was lediglich ein symbolischer Posten ist. Im Zuge der Einigung mit den Konservativen haben die Liberaldemokraten durchgesetzt, daß die Dauer der kommenden Legislaturperiode auf fünf Jahre festgelegt und daß vor Ablauf dieser Frist eine Volksbefragung über die von ihnen erwünschte Änderung des Wahlrechts durchgeführt wird. Darüber hinaus haben sie eine Anhebung des steuerfreien Einkommens für Geringverdiener und die Streichung einer von den Tories anvisierten Reduzierung der Erbschaftssteuer, was die Wohlhabenden begüngstigt hätte, erreicht. Dafür mußten sie sich zur Beibehaltung des britischen Atomwaffenarsenals bekennen und den Plänen der Tories zur Verschärfung der Einwanderungsgesetze zustimmen. Für dieses Jahr haben die neuen Koalitionäre gemeinsam sechs Milliarden Pfund an Haushaltskürzungen und eine Anhebung der nationalen Renten- und Sozialversicherungsbeiträge beschlossen.

Aufgrund des Mehrheitswahlrecht sind in Großbritannien Koalitionsregierungen eine Rarität. Die letzte gab es während des Zweiten Weltkrieges und die letzte in Friedenszeiten während der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre. Angesichts dieser Tatsache und der Skepsis der rechten Tories und der linken Liberaldemokraten bezüglich des gewöhnungsbedürftigen Politarrangements auf der Insel erwarten Beobachter, daß es nicht lange dauern wird, bis sich die neuen Partner in die Haare bekommen. Die bevorstehenden Entscheidungen über unpopuläre Maßnahmen zur Konsolidierung der britischen Staatsfinanzen dürften hierfür den nötigen Zündstoff liefern. Ob Clegg noch rechtzeitig zur nächsten Parlamentswahl die von ihm erwünschte Änderung des Wahlrechts wird erreicht haben können, wird sich noch zeigen müssen.

12. Mai 2010