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PARTEIEN/265: Zeuge des Smithwick Tribunals belastet den MI5 (SB)


Zeuge des Smithwick Tribunals belastet den MI5

Ian Hurst - ein Ex-FRU-Mitglied will auspacken


In Irland ist man ungeachtet der schweren Wirtschaftskrise weiterhin mit der Aufarbeitung der "Troubles", die zwischen 1968 und 1998 rund 3500 Menschen das Leben kosteten, befaßt. Mit großer Genugtuung haben zum Beispiel die Angehörigen der 14 katholischen Teilnehmer einer Bürgerrechtsdemonstration, die am 30. Januar 1972 von britischen Fallschirmjägern erschossen wurden, die formelle Entschuldigung zu Kenntnis genommen, die der frischgewählte konservative Premierminister David Cameron im Juni 2010 anläßlich der Veröffentlichung des Abschlußberichts der Bloody-Sunday-Untersuchungskommission im Namen Großbritanniens aussprach. In diesem Frühjahr sah sich Gerry Adams, der Vorsitzende der Sinn-Féin-Partei, bei seinem zuletzt erfolgreichen Wechsel von der nordirischen Provinzversammlung in Belfast in das Unterhaus der Irischen Republik in Dublin Vorwürfen ausgesetzt, er habe als früheres Führungsmitglied der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) die Entführung und "extralegale" Hinrichtung der alleinstehenden Mutter Jean McConville wegen des Verdachts der Spitzeltätigkeit für die britische Armee 1972 persönlich angeordnet.

Als sich über mehrere Tage Anfang Juli in Belfast in der Gegend um die Lower Newtownards Road protestantische Jugendliche die schwersten Straßenschlachten seit Jahren mit dem Police Service of Northern Ireland lieferten, führten das einige Beobachter nicht nur auf die Perspektivlosigkeit in jenem Armenviertel zurück, sondern sahen darin auch eine Gegenreaktion protestantischer Paramilitärs von der Ulster Volunteer Force (UVF) auf Ermittlungen des Historical Enquiries Team (HET) des PSNI. Aktuell versucht die nordirische Staatsanwaltschaft auf juristischem Wege vom Boston College in den USA die Herausgabe von Tonbändern und Abschriften von Interviews zu erwirken, die vor einigen Jahren mehrere katholisch-nationalistische und protestantisch-probritische Ex-Paramilitärs einer Gruppe Akademiker im Rahmen eines umfassenden Geschichtsprojektes sowie unter der strikten Bedingung der Veröffentlichung erst nach Ableben des jeweiligen Zeitzeugen gegeben haben. Es wird vermutet, daß die Behörden an den Interviews unter anderem deshalb stark interessiert sind, weil sich darin Belastendes über die angebliche Hauptverantwortung Gerry Adams' für das "Verschwinden" Jean McConvilles verbirgt.

In Dublin sorgt derweil das Smithwick Tribunal für Schlagzeilen. Unter der Leitung des Richters Peter Smithwick geht die 2005 vom irischen Parlament eingesetzte Untersuchungskommission Hinweisen nach, wonach ein Spitzel bei der irischen Polizei, der Garda Síochána, an der Ermordung der beiden nordirischen Polizisten Chief Superintendent Harry Breen und Superintendent Bob Buchanan am 20. März 1989 beteiligt war. Breen und Buchanan, die zwei ranghöchsten Opfer, welche die damalige Royal Ulster Constabulary (RUC) im Laufe der dreißigjährigen "Troubles" beklagen mußte, wurden auf der Fahrt nach Belfast, von einem Treffen mit Garda-Vertretern in der südlich der Grenze liegenden Stadt Dundalk kommend, von einer IRA-Kommandoeinheit überfallen und erschossen. Bei dem Treffen ging es um verstärkte Zusammenarbeit gegen eine IRA-Untergruppe im Süden der nordirischen Grafschaft Armagh um den Bauunternehmer und mutmaßlichen Schmuggelkönig Thomas "Slab" Murphy. Von Anfang an bestand der Verdacht, daß jemand bei der Polizei in Dundalk der IRA Breens und Buchanans Reiseroute und den voraussichtlichen Zeitpunkt der Überquerung der inneririschen Grenze gesteckt hat. Als mögliche IRA-Informanten galten und gelten bis heute die früheren Garda Sergeants Leo Colton, Owen Corrigan und Finbarr Hickey. Alle drei beteuern ihre Unschuld.

Am 12. September hat Henry McDonald mit gleich zwei Artikeln in der britischen Tageszeitung Guardian neue Einzelheiten über den Stand der Ermittlungen des Smithwick Tribunals präsentiert, die den Überfall auf die beiden RUC-Kommissare in einem neuen Licht erscheinen lassen. Im Mittelpunkt der Berichterstattung des Irland-Korrespondenten des Guardians stand die schriftliche Aussage, die Ian Hurst, ein ehemaliges Mitglied der berüchtigten Force Research Unit (FRU) des britischen Militärgeheimdienstes, dem Smithwick Tribunal im vergangenen Juni hat zukommen lassen. Daraus geht hervor, daß eventuell nicht nur der eine oder andere Spitzel bei der Garda in Dundalk, sondern eventuell mehrere Doppelagenten der FRU und des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 bei der IRA in die Liquidierung der beiden RUC-Polizisten verwickelt waren. Von den rund 25 IRA-Mitgliedern, die den Überfall auf einer kleinen Landstraße bei Jonesborough, South Armagh, ausgeführt haben, sollen ein Viertel heimliche Aktivposten des britischen Sicherheitsapparats gewesen sein. In dem einen der beiden Artikel zitiert McDonald den ehemaligen RUC-Polizeibeamten Colin Breen, der heute ein prominentes Mitglied der protestantischen Ulster Unionist Party (UUP) ist, wie folgt:

Ich habe immer gewußt, daß der Grad der Infiltrierung der IRA durch die Sicherheitsbehörden hoch war und sich über alle Ebenen erstreckte. ... Herrn Hursts Analyse, die auf seiner weitreichenden Erfahrung im Bereich nachrichtendienstlicher Aktivitäten basiert, wonach einer von vier einfachen IRA-Freiwilligen und jeder zweite von 'Offiziersrang' Informant war, läßt bezüglich dieser Untersuchung nur ein ziemlich vernichtendes Urteil möglich erscheinen. ... Sollten diese Zahlen stimmen - und für mich gibt es keinen Grund sie anzuzweifeln - erscheint es logisch anzunehmen, daß man bei den Behörden im voraus von dieser Operation wußte. Angesichts der Tatsache, daß mehr als zwei Dutzend Terroristen involviert waren, muß es zumindest Hinweise gegeben haben, daß die IRA in der Gegend etwas Großes plante. ... Angesichts der Vielzahl an Informationsquellen erscheint es unvorstellbar, daß diese Morde nicht verhindert werden konnten. Während ich einzuräumen bereit bin, daß die Einzelheiten der Operation nicht rechtzeitig in Erfahrung gebracht werden konnten, dürfte es genügend Informationen gegeben haben, die zumindest die Initiierung einer Vereitelungsaktion seitens der Sicherheitskräfte hätten auslösen müssen. ... Auf der Basis dieser Aussage komme ich schweren Herzens zu der Schlußfolgerung, daß Breen und Buchanan hätten gerettet werden können.

Gesetzt den Fall, Breen liegt mit seiner Schlußfolgerung richtig, wären die beiden RUC-Polizisten geopfert worden, um die Identität wichtiger Doppelagenten der Geheimdienste bei der IRA zu schützen. Um wen könnte es sich hierbei handeln? In der 24seitigen Aussage von Hurst heißt es, bei dem Überfall auf Buchanan und Breen habe Freddie Scappaticci, der 2003 als einer der einst höchsten Doppelagenten der britischen Geheimdienste innerhalb der IRA enttarnt wurde, eine führende Rolle gespielt. Scappaticci, Codename "Stakeknife", soll über Jahre der Spionageabwehreinheit der IRA angehört haben und in dieser Funktion weitere Verräter wie er selbst gedeckt und an deren Stelle unschuldige, prinzipientreue Kämpfer als Spitzel "enttarnt" und umgebracht haben. Die brisanteste der Hurst-Enthüllungen betrifft aber den heutigen Sinn-Féin-Vizepräsidenten Martin McGuinness, der als einer der Architekten des nordirischen "Friedensprozesses" gilt und heute Stellvertretender Premierminister Nordirlands ist. Im Guardian McDonald zitiert folgende brisante Stelle aus der Hurst-Aussage:

Die Sicherheitsabteilung stand unter dem operativen Befehl des IRA-Kommandos Nord ... und die Person, welche die Leitung dieser Abteilung während der ganzen Troubles innehatte, war Herr James Martin McGuinness, Parlamentsabgeordneter. Herr McGuinness war der befehlshabende Vorgesetzte von Herrn Scappaticci und unmittelbar an allen Entscheidungen über Leben und Tod von Personen, die im Verdacht standen, Informationen über IRA-Mitglieder weitergegeben zu haben, beteiligt. Herr McGuinness war auch eine Schlüsselfigur hinsichtlich der langfristigen Strategien der IRA, und folglich war er an fast allen strategischen Entscheidungen über politische Entführungen, menschliche Bomben usw. beteiligt.

Bei Gegnern des Friedenskurses der Führung der IRA und Sinn Féin stehen Adams und McGuinness seit langem im Verdacht, geheime Absprachen mit Vertretern Londons zur Beendigung des nordirischen Konfliktes getroffen zu haben, sich sozusagen für Großbritannien als "agents of influence" innerhalb der irisch-republikanischen Bewegung betätigt zu haben. [1] Bei einem Auftritt vor dem Smithwick Tribunal hat am 15. September der ehemalige Garda Commissioner (Polizeipräsident - Anm. d. SB-Red.), Noel Conroy, ein weiteres Motiv identifiziert, warum der RUC-Kommissar Breen eventuell sterben mußte. Ihm zufolge war auf Breen ein "Kopfgeld" ausgeschrieben, weil er 1987 eine Rolle bei dem Überfall von Loughgall in der Grafschaft Tyrone spielte, als Soldaten des britischen Special Air Service (SAS) acht Mitgliedern eines IRA-Kommandos bei einem geplanten Angriff auf eine Polizeiwache auflauerten, sie angriffen und dabei alle töteten - einige sogar angeblich, als sie nicht mehr wehrfähig waren. Es handelt es sich hier um die schwerste militärische Niederlage der IRA im Verlauf der Troubles. Bis heute stellt sich die Frage, von wem die britischen Behörden den entscheidenden Hinweis auf den bevorstehenden Anschlag hatten. Die Aussage von Hurst liefert zwei mögliche Antworten: Freddie Scappaticci und Martin McGuinness. Kein Wunder, daß derzeit die britische Regierung einen Auftritt des ehemaligen FRU- Agenten vor dem Smithwick Tribunal mit allen Mitteln zu verhindern versucht.

Fußnote:

1. Siehe hierzu unter INFOPOOL - EUROPOOL - REPORT:

INTERVIEW/008: Anthony McIntyre zum "Ausverkauf" der IRA und Sinn Féin

15. September 2011