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PARTEIEN/309: Brexit-Erschütterungen halten in Großbritannien an (SB)


Brexit-Erschütterungen halten in Großbritannien an

Corbyn wehrt Angriff der Blairites ab - Tories suchen neue Chefin


Die schweren Auswirkungen der Mehrheitsentscheidung der Wähler in Großbritannien und Nordirland am 23. Juni für den Austritt aus der Europäischen Union (EU) setzen sich fort. Während IWF und Weltbank ihre Prognosen für die globale Wirtschaft nach unten revidieren, hält die Nervosität an den Börsen an. Vor drei Tagen haben die großen Versicherungsfonds in Großbritannien wie Standard Life und Aviva wegen drastischen Preisverfalls für Grundstücke, Wohnungen und Büros in London den Handel im Immobilienbereich eingestellt. Das offenkundige Platzen der Londoner Immobilienblase dürfte eine erneute Finanz- und Wirtschaftskrise auslösen. Meldungen, wonach bei den Banken Italiens 360 Milliarden Euro an faulen Krediten schlummern, kündigen großes Unheil an.

Währenddessen ist man im Vereinigten Königreich vollends mit der Bewältigung der politischen Folgen des Brexit beschäftigt. Nach der plötzlichen Rücktrittsankündigung David Camerons am Vormittag des 24. Juni suchen die allein regierenden Conservatives einen neuen Parteivorsitzenden und Premierminister. Der ehemalige Bürgermeister von London Boris Johnson, der die EU-Gegner zum Erfolg geführt hatte, ist selbst dem Brexit zum Opfer gefallen, als ihm wenige Tage nach der Abstimmung sein euroskeptischer Mitstreiter Michael Gove in den Rücken fiel und die Unterstützung bei den Wahlen des neuen Tory-Chefs entzog. Die Offenlegung nackter Ambitionen half jedoch auch dem amtierenden Justizminister wenig. Bei der letzten Abstimmungsrunde unter den konservativen Abgeordneten im britischen Unterhaus am 7. Juni landete Gove nur auf dem dritten Platz hinter Innenministerin Theresa May und der Staatssekretärin im Energieministerium, Andrea Leadson, womit er ausschied.

Nun sollen die rund 150.000 Mitglieder der Conservative Party bis zum 9. September in einer Kampfabstimmung ihren neuen Vorsitzenden wählen. Fest steht, daß diese Position zum ersten Mal seit dem Abgang Margaret Thatchers 1990 mit einer Frau besetzt wird. Weil die 59jährige May über die größere Erfahrung in hohen Ämtern verfügt, wird sie von den Buchmachern auf der Insel als Favoritin gehandelt. Doch im Vergleich zu May, die an der Seite Camerons für den Verbleib in der EU geworben hatte, steht die 53jährige Leadson der euro-skeptischen, chauvinistisch-reaktionären Parteibasis der Tories näher. Dies könnte der bislang wenig bekannten Brexit-Befürworterin, die erst seit sechs Jahren über ein Abgeordnetenmandat verfügt, den Sieg bescheren. Schon jetzt stilisiert sich Leadson zu einer Art Iron Lady 2.0. und versucht, mit Kritik an der Homo-Ehe und dem gesetzlichen Verbot der Fuchsjagd die Herzen der weißen konservativen Parteimitglieder in den wohlhabenden Vororten und auf dem Land höher schlagen zu lassen. Ihre Behauptung, als dreifache Mutter wäre sie die bessere Besetzung für Number 10 Downing Street als die kinderlose May, zeugt gleichwohl von einer gewissen Engstirnigkeit, die der überzeugten Christin doch noch zum Verhängnis werden könnte.

Bei den britischen Sozialdemokraten ist der perfide Putsch, zu dem die Anhänger Tony Blairs in der Labour-Fraktion im Unterhaus nach Bekanntgabe des Ergebnisses des Brexit-Referendums angesetzt haben, gescheitert. Mit Hilfe von Multiplikatoren in den Medien wie der politischen Korrespondentin bei der BBC Laura Kuenssberg und dem PR-Unternehmen Portland, Ex-EU-Kommissar Peter Mandelson und Blairs früherem Berater Alastair Campbell wollte der rechte Flügel der britischen Sozialdemokraten, der in der Unterhausfraktion völlig überrepräsentiert ist, Parteichef Jeremy Corbyn stürzen. In den Tagen unmittelbar nach der Brexit-Abstimmung warfen Corbyns eigene Fraktionskollegen dem Vorsitzenden vor, sich für den Verbleib in der EU nicht genügend starkgemacht zu haben, und kündigten ihm die Gefolgschaft auf. Angefangen mit Hillary Benn, dem außenpolitischen Sprecher der Labour Party, trat das gesamte Schattenkabinett zurück. Corbyn stand unter massivem Druck seiner innerparteilichen Gegner, die seinen Rücktritt forderten.

Doch die Gallionsfigur der linken Sozialdemokratie in Großbritannien ist nicht zuletzt dank der großen Unterstützung der eigenen Parteibasis standhaft geblieben. Auf dem Höhepunkt des Putschversuchs sammelten sich am Abend des 27. Juni vor dem Parlament in London mehrere zehntausend Menschen, um Corbyn den Rücken zu stärken. Die Machtdemonstration hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Der Labour-Chef hat ein neues Schattenkabinett mit seinen eigenen Vertrauten besetzt. Die Putschisten drängen inzwischen nicht mehr nach einer Kampfabstimmung über die Parteiführung, denn gerade in den letzten zwei Wochen sind mindestens 100.000 neue Mitglieder - überwiegend Corbyn-Anhänger - den Sozialdemokraten beigetreten. Die Mitgliederzahl bei Labour liegt inzwischen bei mehr als 600.000, was ein neuer Rekord ist. Klugerweise plädiert Corbyn stets für Versöhnung und Zusammenarbeit im Kampf gegen die Tories und überläßt seinen Gegnern die Konfrontationssuche, wodurch sie sich in der Öffentlichkeit immer weiter diskreditieren.

Der bisherige Tiefpunkt der Haßkampagne der Blair-Anhänger erfolgte während einer Rede Corbyns anläßlich der Veröffentlichung des lange erwarteten Chilcot-Berichts zu den Hintergründen der umstrittenen Entscheidung zur britischen Beteiligung an der amerikanischen Irakinvasion 2003. Noch als Corbyn den Angehörigen der 179 im Irak gefallenen britischen Soldaten sein Beileid aussprach und sich gegenüber dem irakischen Volk für den Angriffskrieg entschuldigte, wurde er vom Zwischenruf des eigenen Hinterbänklers Ian Austin - "Setzen Sie sich und halten Sie den Mund. Sie sind eine Schande!" - unterbrochen. Corbyn läßt sich bisher von derlei Attacken nicht irritieren. Seine Anhänger werden dafür sorgen, daß Austin und andere Parteiverräter im Vorfeld der nächsten Unterhauswahl in ihren Bezirken einfach nicht aufgestellt werden.

Die Tories wollen bis zum Parteitag im Oktober die Nachfolge Camerons geregelt haben. Erst danach sollen die Verhandlungen mit Brüssel über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU beginnen. Ob es tatsächlich dazu kommt, ist eine andere Frage. Sollte Theresa May neue Tory-Chefin werden, könnte sie Neuwahlen ankündigen, die zu einer Art zweitem Referendum über den Austritt aus der EU umfunktioniert werden könnten. Schließlich ist es das britische Parlament, das darüber befindet, ob London nach Artikel 50 des Lissaboner Vertrages das Austrittsgesuch in Brüssel einreicht oder nicht. Unterdessen hat die Autonomieregierung in Edinburgh unter der Leitung von Nicola Sturgeon bereits Kontakt zu Paris und Berlin aufgenommen, um den Verbleib Schottlands in der EU doch noch hinzubekommen, während Dublin und Belfast um eine gemeinsame Position für ganz Irland ringen. Schließlich will niemand auf der grünen Insel - weder euroskeptische Unionisten in Norden noch das pro-europäische Establishment im Süden - , daß ein Brexit zur Wiedererrichtung einer inneririschen Grenze mit Wachtürmen und Zollposten führt.

9. Juli 2016


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