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PARTEIEN/313: Brexit treibt Schottland in Richtung Unabhängigkeit (SB)


Brexit treibt Schottland in Richtung Unabhängigkeit

Am EU-Austritt droht sich das Vereinigte Königreich zu spalten


Die Festlegung der neuen britischen Premierministerin Theresa May auf einen "harten Brexit" aus der Europäischen Union hat zwar die tonangebenden EU-Skeptiker innerhalb der regierenden konservativen Partei besänftigt, dafür jedoch ein Faß an Problemen aufgemacht, die der neuen "eisernen Lady" in der Londoner Number 10 Downing Street schwer zu schaffen machen, ja sogar ihre politische Karriere innerhalb recht kurzer Zeit ruinieren könnten. Seit May auf dem Parteitag der Tories Anfang Oktober in Birmingham die Abkopplung des Vereinigten Königreichs vom europäischen Binnenmarkt bei gleichzeitiger Einführung eigener drakonischer Einwanderungsrichtlinien in Aussicht gestellt hat, ist der Pfund Sterling an den internationalen Börsen auf Sturzflug. Sein Wert liegt inzwischen erstmals unterhalb des Euros. Führende Vertreter der britischen Wirtschaft - darunter Carolyn Fairbairn, Vorsitzender der Confederation of British Industry (CBI), Chris Southworth, Vorsitzender der International Chambers of Commerce (ICC), Terry Scuoler, Vorsitzender der Engineering Employers' Federation (EEF) und Julian David von techUK, dem Interessensverband der IT-Industrie - haben sich öffentlich gegen den möglichen Austritt aus dem EU-Binnenmarkt ausgesprochen, der Experten zufolge das Land mindestens 25 Milliarden Pfund im Jahr kosten könnte.

Im Parlament regt sich Widerstand gegen die Festlegung Mays auf dem konservativen Parteitag, allein die Exekutive werde über die mit Brüssel nach der Aktivierung von Artikel 50 des Lissaboner Vertrags im kommenden März innerhalb von 24 Monaten noch auszuhandelnden Modalitäten des EU-Austritts entscheiden. Aus Abgeordneten der sozialdemokratischen Labour-Partei, der Liberaldemokraten, der Scottish National Party (SNP), der walisischen Unabhängigkeitsbewegung Plaid Cymru, der irisch-nationalistischen Sinn Féin und sogar aus Brexit-Gegnern auf den Tory-Hinterbänken hat sich in den letzten Tagen eine Oppositionsphalanx herauskristallisiert, die ein Mitspracherecht des Unterhauses über die künftigen Beziehungen Großbritanniens zur EU einfordert und vermutlich auch bekommen wird. Jene Kräfte wollen, wenn sie schon keine zweite Volksbefragung durchsetzen können, so doch wenigstens dafür sorgen, daß das Vereinigte Königreich ähnlich wie Norwegen künftig in der europäischen Freihandelszone bleibt, selbst wenn dies Kompromisse in der Frage der Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit bedeutet.

Die Rede Amber Rudds, Mays Nachfolgerin als Innenministerin, auf dem Parteitag der Konservativen hat der neuen Regierung in London den Vorwurf eingebracht, einen rückwärtsgewandten, ausländerfeindlichen Kurs in der Einwanderungspolitik verfolgen und Großbritannien zur Inselfestung machen zu wollen. Tatsächlich hat Rudd angeregt, von allen Arbeitgebern, groß und klein, eine Auflistung der ausländischen Mitarbeiter mit dem Ziel anzufordern, sie durch einheimische Arbeitskräfte ersetzen zu können. Seit dem Votum im Juni einer Mehrheit von Wählern für den EU-Austritt kommt es in England verstärkt zu Pöbeleien und Straftaten gegenüber Menschen, die in der Öffentlichkeit eine andere Sprache als Englisch benutzen oder die aufgrund von Hautfarbe oder Kleidung von der Mehrheitsbevölkerung als "fremd" ausgemacht werden. Vor diesem Hintergrund wurde der Vorstoß Rudds von weiten Teilen der Öffentlichkeit als Wasser auf die Mühlen der "Little Englanders" verstanden - auch wenn die Ministerin behauptet, eine solche Absicht hätte ihr ferngelegen.

Die Kritik, die inzwischen von allen Seiten auf die neue Tory-Regierung in London einprasselt, hat Nicola Sturgeon, Premierministerin der schottischen Autonomie-Administration in Edinburgh, veranlaßt, voll in die Offensive zu gehen. Die Schotten haben beim Referendum bekanntlich mit Zweidrittelmehrheit für den Verbleib in der EU gestimmt. Auf dem Parteitag der SNP in Glasgow am 13. Oktober stellte die Parteivorsitzende der schottischen Nationalisten mit Bestürzung fest, daß die Tory-Fraktion in London nach der Pfeife des "wilden und xenophobischen Flügels" der Partei tanze. Schottland werde sich von den englischen Chauvinisten nicht aus vom EU-Binnenmarkt vertreiben lassen, so Sturgeon, die in diesem Zusammenhang die Durchführung einer erneuten Volksbefragung über die Unabhängigkeit Schottlands innerhalb der nächsten zwei Jahre ins Spiel brachte. Theresa May, die auf dem Tory-Parteitag die SNP zur potentiellen Verräterin der 1707 beschlossenen Union zwischen England und Schottland abgestempelt hatte, warf Sturgeon unter tobendem Applaus entgegen: "Hören Sie gut zu: Wenn Sie für eine einzige Sekunde glauben, daß ich es nicht ernst meine, wenn ich sage, ich werde alles tun, was nötig ist, um die Interessen Schottlands zu schützen, denn haben Sie sich geschnitten!"

Durch die Ankündigung eines Gesetzesentwurfs hinsichtlich der Durchführung einer einer erneuten Volksbefragung über die schottische Unabhängigkeit - die letzte verloren die Nationalisten 2014 ganz knapp - verschafft sich Sturgeon Spielraum und läßt May wissen, daß diese Rücksicht auf mehr als nur die EU-Gegner in den eigenen Reihen nehmen muß. Gleichzeitig hat Sturgeon die Rolle der Hoffnungsträgerin für alle im Vereinigten Königreich übernommen, die sich einen Verbleib in der EU und eine Revidierung des Ausgangs des Brexit-Votums wünschen. Für die EU-Freunde auf der Insel arbeitet die Zeit, denn mit jedem Tag erscheinen die Aussichten für ein Großbritannien außerhalb des europäischen Binnenmarkts immer düsterer. Der japanische Autohersteller Nissan, der im Raum Birmingham rund 30.000 Menschen beschäftigt, droht seine Fabriken dort nach Osteuropa zu verlagern, sollten demnächst für den Handel mit der EU Zollgebühren anfallen. Auch bei mehreren US-Großbanken spielt man angeblich mit dem Gedanken, die europäischen Zentralen aus der Londoner City abzuziehen und sie statt dessen in Frankfurt am Main anzusiedeln.

Für Ende Oktober ist eine erste Beratungsrunde über das Vorgehen Londons gegenüber Brüssel in der Brexit-Frage zwischen May, Sturgeon, der Premierministerin Nordirlands, Arlene Foster von der euroskeptischen Democratic Unionist Party (DUP), deren Stellvertreter, Martin McGuinness von Sinn Féin, sowie Carwyn Jones, dem First Minister of Wales und Anführer der walisischen Labour Party, geplant. Ein heftiges Tauziehen zwischen May und Sturgeon und damit zwischen London und Edinburgh ist vorprogrammiert

14. Oktober 2016


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