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PARTEIEN/316: Justiz soll für die Politik das Brexit-Rätsel lösen (SB)


Justiz soll für die Politik das Brexit-Rätsel lösen

Oberster Gerichtshof muß zwischen Parlament und Regierung entscheiden


In Vereinigten Königreich findet die politische Krise, welche die Entscheidung einer Mehrheit der Wähler am 23. Juni für den Austritt Großbritanniens und Nordirlands aus der Europäischen Union ausgelöst hat, kein Ende. Eigentlich wollte Premierministerin Theresa May bis zum 30. März Artikel 50 des Lissaboner Vertrags aktivieren und damit die zweijährigen Verhandlungen mit Brüssel und den anderen 27 EU-Mitgliedsstaaten über die Modalitäten der Trennung sowie die künftigen Beziehungen aufnehmen. Doch das Vorhaben Mays, den Brexit einfach per Regierungsdekret in die Wege zu leiten, hatte vor Gericht keinen Bestand. Am 4. November hat der High Court in London der Klage der Fondsmanagerin Gina Miller stattgegeben. Demnach sei die Entscheidung über die Aktivierung von Artikel 50 dem Parlament vorbehalten; Mays Berufung auf das "königliche Vorrecht" der Regierung in Sachen internationaler Abkommen sei unzulässig.

Gegen das erstinstanzliche Urteil des High Court hat die konservative May-Regierung Einspruch eingelegt und den Obersten Gerichtshof, den Supreme Court, angerufen. Der hat sich nun über vier Tage, vom 5. bis zum 8. Dezember, mit dem verfassungsrechtlich komplizierten Fall befaßt. Um die Bedeutung, welche das Gericht der Frage der Umsetzung des European Referendum Act 2015 beimißt, zu unterstreichen, haben gleich elf Richter der Verhandlung vorgesessen (Das ist die höchste Anzahl von Richtern, die sich jemals gemeinsam mit einem Fall befaßt haben, seit Großbritanniens Oberster Gerichtshof 1876 ins Leben gerufen wurde). Da die Brexit-Frage politisch hochbrisant ist, soll offenbar das Urteil, mit dem in Januar gerechnet wird, von vielen Schultern getragen werden. Seit Wochen sehen sich Miller und die britische Richterschaft heftigen Anfeindungen in den sozialen Medien und der Boulevardpresse ausgesetzt, weil sie sich angeblich der Umsetzung des demokratischen Willens des Volkes in den Weg stellen.

Vor dem Obersten Gerichtshof haben die Anwälte Millers argumentiert, daß es sich beim Brexit nicht einfach um den Austritt Großbritanniens aus der EU, also um eine diplomatische Angelegenheit, sondern auch um die Einkassierung zahlreicher Rechte, welche die britischen Bürger durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union genießen, und daß folglich über eine derart umfassende Veränderung einzig das Parlament in seiner Eigenschaft als höchste verfassungsmäßige Instanz entscheiden dürfe. Darüber hinaus hat sich die schottische Autonomie-Regierung der Klage Millers angeschlossen. Ihre Anwälte vertraten dieser Tage den Standpunkt, daß die Regierung nicht nur das Parlament in London, sondern auch die Regionalversammlung in Edinburgh in die Entscheidungsfindung zum Thema Brexit einbeziehen muß.

Kronanwalt David Scoffield, der vor dem Obersten Gerichtshof eine Reihe nordirischer Parteien und Bürgerrechtsgruppen vertrat, hat auf die möglichen negativen Folgen eines Brexit für den Friedensprozeß in Nordirland hingewiesen. Unter Verfassungsrechtlern herrscht Einigkeit darüber, daß Nordirland nicht ohne weiteres aus der EU herausgeführt werden kann, weil das Karfreitagsabkommen von 1998 zwischen London und Dublin Versöhnung und Annäherung zwischen Nord- und Südirland im Rahmen einer gemeinsamen EU-Mitgliedschaft voraussetzt und sich darauf im Vertragstext bezieht. Alle Nordiren zum Beispiel haben derzeit Anspruch auf einen Reisepaß der irischen Republik und damit der EU - was durch den Brexit verlorenginge. Vor diesem Hintergrund gehen die meisten Beobachter davon aus, daß der Oberste Gerichtshof im Januar sich gegen die Inanspruchnahme des "Royal Prerogative" aussprechen und die Regierung dazu verurteilen wird, doch noch über den richtigen Weg in Sachen Brexit mit dem Parlament zu beraten.

Das wäre eine sehr interessante Entwicklung, stehen doch bekanntlich die meisten Parlamentsabgeordneten dem EU-Austritt skeptisch bis ablehnend gegenüber. Selbst die harte Haltung von Premierministerin May scheint vorgespielt zu sein. Die frühere Innenministerin David Camerons hat sich im Vorfeld des Referendums wohlweislich nicht eindeutig positioniert. Seit sie in der 10 Downing Street residiert, spielt sie das Spiel der EU-feindlichen Brexiteers mit, um die eigene konservative Partei, die im Unterhaus lediglich über eine hauchdünne Mehrheit verfügt, vor der Spaltung zu bewahren. Folglich dürfte May über ein Scheitern ihres Plans zur Aktivierung von Artikel 50 bis Ende März heimlich froh sein, denn je länger der Brexit-Prozeß dauert und je eindeutiger sich die negativen Folgen eines EU-Austritts abzeichnen, um so mehr ist mit einem Meinungsumschwung bei den Wählern zu rechnen.

Für die Richtigkeit dieser These spricht das Ergebnis der Nachwahl, die am 1. Dezember im wohlhabenden Londoner Bezirk Richmond Park and North Kingston stattfand. Obwohl der eigentliche Auslöser der Rücktritt des amtierenden konservativen Abgeordneten Zac Goldsmith gegen die umstrittene Entscheidung der May-Regierung zum Bau einer dritten Start- und Landebahn am Flughafen Heathrow war, mutierte die Nachwahl zur Abstimmung zum Thema Brexit. Goldsmith, ein prominenter EU-Gegner, der bei der letzten Unterhauswahl im Frühjahr 2015 haushoch gewonnen hatte, verlor seinen Sitz diesmal an die Kandidatin der Liberaldemokraten, der eurofreundlichen Sarah Olney, mit 18.638 zu 20.510 Stimmen. Hinter der Niederlage Goldsmiths wird eine Ernüchterung der Wähler in der Brexit-Frage vermutet.

Ein etwas anderes Ergebnis zeitigte die Nachwahl, die am 8. Dezember im landwirtschaftlich geprägten Bezirk Sleaford and North Hykeham in der nordostenglischen Grafschaft Lincolnshire abgehalten wurde. Dort hat die Ärztin Caroline Johnson den Sitz für die Konservativen verteidigte. Gleichwohl ist der Kandidat der EU-feindlichen United Kingdom Independence Party (UKIP) auf den zweiten Platz vor den Liberaldemokraten gelandet, während die sozialdemokratische Labour Party auf den vierten Platz gerutscht ist. Das miserable Abschneiden der Sozialdemokraten, traditionell die zweitstärkste politische Kraft Großbritanniens neben den konservativen Tories, läßt erkennen, daß es der Partei um die linke Galionsfigur Jeremy Corbyn immer noch nicht gelingt, den Dauerangriffen der Massenmedien zu trotzen und die eigene Botschaft an die einfachen Menschen zu bringen. Eine Gelegenheit, den billigen Populismus der UKIP zu entlarven und von der Zerstrittenheit der Konservativen zu profitieren, wird Corbyns Schattenkabinett erhalten, wenn, wie erwartet, der Oberste Gerichtshof demnächst die Entscheidung über das Wie und Wann eines Brexit an das Parlament verweist.

9. Dezember 2016


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