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PARTEIEN/330: Politisches Chaos nach britischer Unterhauswahl (SB)


Politisches Chaos nach britischer Unterhauswahl

Theresa May geht als "wandelnde Leiche" in die Brexit-Verhandlungen


Die pointierteste Reaktion auf den Ausgang der vorgezogenen Unterhauswahlen, bei denen am 8. Juni die britischen Konservativen ihre absolute Mehrheit verloren, leistete sich George Osborne, und das auch noch mit sichtbarem Genuß. Der Adelssproß war letztes Jahr nach dem Rücktritt seines langjährigen Freundes David Cameron als Premierminister infolge des Ausgangs des Brexit-Referendums von der neuen Partei- und Regierungschefin Theresa May selbst als Finanzminister kurzerhand entlassen worden. Daraufhin trat Osborne aus der aktiven Politik zurück, gab sein Abgeordnetenmandat auf und wurde Chefredakteur der konservativen Zeitung Evening Standard, in deren Funktion er seitdem den bisherigen Kurs Mays in der Brexit-Frage immer wieder als "chaotisch" geißelte. Beim Auftritt in der sonntäglichen BBC-Politsendung Andrew Marr am 11. Juni bezeichnete Osborne die frühere Kabinettskollegin als "wandelnde Leiche", die relativ bald ihren Amtssitz in der Number 10 Downing Street würde räumen müssen.

Das rabenschwarze Urteil Osbornes beschreibt die Lage Mays recht gut. Aufgrund der alleinigen Entscheidung der ehemaligen Innenministerin setzten die Konservativen ihre hauchdünne Mehrheit von 12 Sitzen aufs Spiel, doch statt sie auszubauen, haben sie sie verloren. Die totgeglaubten Sozialdemokraten um Jeremy Corbyn gingen gestärkt aus den Wahlen hervor. May hat sich an die Democratic Unionist Party (DUP) aus Nordirland gewandt, um an der Macht zu bleiben. Am 9. Juni hat May als Noch-Anführerin der stärksten Fraktion im Unterhaus Königin Elisabeth II. um den Auftrag, eine Minderheitenregierung zu bilden, gebeten und erhalten. Nun fragen sich alle, was die Konstellation Tories plus Democratic Unionists für Großbritannien, Brexit und den wackeligen Frieden in Nordirland bedeuten könnte.

Der Unmut bei den britischen Konservativen über das Wahldebakel und den selbstzugefügten, völlig unnötigen Verlust der absoluten Mehrheit ist riesengroß. May wäre von den Parteikollegen längst zum Rücktritt gezwungen worden, stünden die Brexit-Verhandlungen nicht unmittelbar an, denn keiner der potentiellen Nachfolger - allen voran Außenminister Boris Johnson und Innenministerin Amber Rudd - will diesen Giftbecher anrühren. Besser man überläßt es May, die problematischen Gespräche mit der EU-27 zu führen und am Ende das aus Sicht der Eurogegner sicherlich enttäuschende Ergebnis dem Volk zu präsentieren, so das Kalkül der Möchtegern-Premierminister.

Um sich gegen potentielle Putschversuche zu wappnen, hat May ihre wichtigsten Berater Fiona Hill und Nick Timothy, die für den desaströsen Wahlkampf der Tories verantwortlich gemacht wurden, gefeuert und im Rahmen einer Mini-Kabinettsumbildung Michael Gove zum neuen Umweltminister ernannt. Unter Cameron war Gove jahrelang Bildungsminister. Der frühere Times-Journalist gilt als Freund des übermächtigen Medienmagnats Rupert Murdoch. Zudem eilt ihm der Ruf als erbitterter Gegner sowohl des Karfreitagabkommens, mit dem 1998 der Bürgerkrieg in Nordirland beendet wurde, als auch der europäischen Menschenrechtskonvention, die die rechtliche Verfolgung britischer Soldaten wegen Missetaten bei Auslandseinsätzen erleichtert, voraus.

Die erneute Erhebung Goves in den Ministerrang sendet ein verheerendes Signal an Brüssel und Dublin aus. Nicht umsonst haben am 11. Juni der scheidende irische Premierminister Enda Kenny und Jonathan Powell, einst Tony Blairs Sonderbeauftragter für Nordirland, vor den möglichen Folgen eines Deals zwischen Tories und den politischen Erben des stimmgewaltigen Presbyterianerpfarrers Ian Paisley gewarnt. Das Brexit-Votum im vergangenen Jahr hat das Ringen in Nordirland zwischen Katholiken, die sich nach der Wiedervereinigung mit Irland sehnen, und Protestanten, die den Verbleib im Vereinigten Königreich befürworten, verschärft. Ende Dezember hat die nationalistische Sinn Féin der Allparteienprovinzregierung in Belfast den Rücken gekehrt. Bei den Regionalwahlen im März ist sie dafür von den nationalistischen Wählern mit dem bisher besten Ergebnis belohnt worden.

Das Erstarken der linksnationalistischen Sinn Féin, die auch im Dubliner Parlament vertreten ist und mit einer erstmaligen Regierungsteilnahme in der Republik nach den nächsten Wahlen dort liebäugelt, hat auf unionistischer Seite eine heftige Gegenreaktion ausgelöst. Bei den Wahlen zum britischen Unterhaus hat die DUP im Rahmen informeller Gespräche um Wahlhilfe bei den loyalistischen Paramilitärs geworben - und sie auch erhalten. Durch die verstärkte Wahlbeteiligung von Menschen in den protestantischen Arbeitersiedlungen konnte die DUP 10 von 18 nordirischen Sitzen erobern. Der Preis für die Unterstützung der wohlgemerkt verboten, weil offiziell als "terroristisch" eingestuften Ulster Volunteer Force (UVF), Ulster Defence Association (UDA) und des Red Hand Commando (RHC) für die DUP und wiederum von letzterer für die Tories dürfte in Form einer Generalamnestie für alle Soldaten, Polizisten und protestantischen Paramilitärs, die während der sogenannten Troubles in Gewaltverbrechen verstrickt gewesen sind, zu entrichten sein. Doch eine solch einseitige Aufarbeitung der sogenannten "legacy issues" des dreißigjährigen Bürgerkrieges birgt gesellschaftlichen Sprengstoff, sollten weiterhin Ex-IRA-Mitglieder wegen früherer, politisch- motivierter Verbrechen belangt werden.

Inzwischen hat sich der reaktionäre Oranier-Orden, dem die Hälfte aller DUP-Mitglieder angehört, mit eigenen Forderungen zu Wort gemeldet. In einem Gratulationsbrief an ihren Ordensbruder David Simpson wegen der erfolgreichen Wahl zum DUP-Abgeordneten für den Bezirk Upper Bann hat die Ortsgruppe der Oranier in Portadown verlangt, daß die Garvaghy Road für den bevorstehenden, traditionellen Marsch zur Kirche in Drumcree freigegeben wird. Mitte der neunziger Jahre hatte gerade dieser Umzug für gewalttätige Auseinandersetzungen gesorgt, welche halbwegs einzudämmen London Millionen von Pfund und der britischen Armee viel Energie gekostet hat. Der Spuk in Drumcree ging erst 1998 zu Ende, nachdem drei Kinder, die katholischen Quinn-Brüder im Alter von 9, 10 und 11 Jahren, infolge eines Brandanschlags des UVF auf die Wohnung ihrer Mutter in der protestantischen Kleinstadt Ballymoney ums Leben kamen. Die Scham wegen dieses Verbrechens hat den Drang der Oranier, entlang der Garvaghy Road zu marschieren, vorübergehend abebben lassen. Doch offenbar ist er wieder erwacht.

Wie lange Theresa May im Amt bleibt, wie die Brexit-Verhandlungen verlaufen werden und was die DUP alles zur Duldung einer Minderheitsregierung in London fordern wird, ist unklar. Angeblich wollen DUP-Chefin Arlene Foster und ihre Kollegen auf einen "sanften Brexit" drängen, damit keine neue Grenze den Güter- und Personenverkehr zwischen Nordirland und der Republik behindert, sowie mehr Geld für die nordirischen Schulen und Krankenhäuser haben. Solche Forderungen klingen vernünftig und dürften auf einhelligen Zuspruch bei allen Bürgern Nordirlands stoßen. Sollte jedoch die DUP und die Conservative and Unionist Party - so ihr offizieller Titel - einseitige Maßnahmen zur Stärkung der "britischen Kultur" in Nordirland beschließen, könnte das schwerwiegende Auswirkungen haben. Man kann nur wünschen, daß die diesjährige Marschsaison der Oranier mit dem üblichen Höhepunkt am 12. Juli, dem Jahrestag des Sieges des protestantischen Thronprätendenten Wilhelm von Oranien über den katholischen König Jakob II von England bei der Schlacht am Boyne in der irischen Grafschaft Meath im Jahre 1690, friedlich abläuft. Leider stehen die Zeichen jedoch auf Sturm.

12. Juni 2017


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