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PARTEIEN/341: Brexit - Wird Nordirland zur Sonderwirtschaftszone? (SB)


Brexit - Wird Nordirland zur Sonderwirtschaftszone?

Dublin lehnt Wiedereinrichtung der inneririschen Grenze weiterhin ab


Mit dem Gipfeltreffen der EU-Regierungschefs am 20. Oktober in Brüssel ging für Theresa May eine katastrophale Woche zu Ende. In der belgischen Hauptstadt machte die britische Premierministerin eine einsame, bemitleidenswerte Figur. Fünf Runden von Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland haben in den vergangenen Monaten zu keinem nennenswerten Ergebnis geführt. Doch bevor die eigentlichen Gespräche über die künftigen Handelsbeziehungen beginnen können, wollen die anderen 27 EU-Staaten von London wissen, wie künftig der Status ihrer Bürger in Großbritannien aussehen wird, wie die Briten ihre finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem EU-Haushalt zu regeln zu gedenken und wie eine feste Zollgrenze für Personen und Güter quer durch Irland vermieden werden kann. In allen drei Fragen ist London den EU-Partnern eine Antwort schuldig geblieben, weil die konservative Minderheitsregierung Mays tief gespalten ist und sich deshalb zu keiner gemeinsamen Position durchringen kann. Wie es Samuli Virtanen, Staatssekretär im finnischen Außenministerium am 18. Oktober in der New York Times so treffend formulierte, herrscht größere Einigkeit zwischen den Regierungen in den Hauptstädten auf dem europäischen Festland als am Kabinettstisch in London.

Die May-Regierung steht unter enormem Zeitdruck, weil sie Ende März, ohne einen Plan für das weitere Vorgehen zu haben, Artikel 50 des Lissaboner Vertrags, das den Austritt eines Staats aus der EU regelt und für diese Prozedur lediglich zwei Jahre vorsieht, aktiviert hat. Bis heute weiß niemand, welche Art von Brexit London will. Die Europhoben bei den britischen Konservativen, allen voran Außenminister Boris Johnson, Handelsminister Liam Fox und Umweltminister Michael Gove, streben nach einem "harten Brexit" und einem bilateralen Handel nach den Regeln der WTO. Wegen der möglichen wirtschaftlichen Schäden raten die meisten Experten von einem solchen radikalen Bruch ab. Diese Woche hat sogar die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eine zweite Brexit-Abstimmung empfohlen.

Bei den britischen Tories werden die Befürworter eines "sanften Brexits", das heißt eines Verbleibs des Vereinigten Königreichs im EU-Binnenmarkt und der europäischen Zollunion, von Finanzminister Philip Hammond und Innenministerin Amber Rudd angeführt. Rudd hat vor wenigen Tagen den "harten Brexit" als "undenkbar" verworfen und auf die negativen Daten aus der britischen Ökonomie hingewiesen. Großbritannien weist seit Monaten das schwächste Wirtschaftswachtum aller europäischen Staaten auf. Wegen der Planungsunsicherheit gehen Investitionen rapide zurück. Die Inflation steigt, während gleichzeitig das Pfund gegenüber Euro, Dollar und Yen an Wert verliert. Vor wenigen Tagen hat Mark Carney, der kanadische Chef der Bank of England, der staatlichen britischen Zentralbank, einen raschen Übergangsdeal mit Brüssel gefordert, um die schleichende Auslagerung von Arbeitsplätzen im Bereich Hochfinanz aus der City of London nach Frankfurt, Dublin und Paris zu stoppen.

Im britischen Parlament mußte diese Woche die May-Regierung die geplante nächste Lesung des EU-Austrittsgesetzentwurfs bis auf weiteres vertagen. Mitglieder der Opposition hatten mehr als 300 Veränderungen zur Abstimmung angemeldet, von denen absehbar war, daß rund ein Dutzend von ihnen genügend Unterstützung von Brexit-Gegnern auf den Hinterbänken bei den Konservativen gefunden hätten, um der May-Regierung eine Niederlage zu bescheren. Inzwischen hat sich im Unterhaus eine satte Mehrheit aus Sozialdemokraten, Schottischen Nationalisten, Liberaldemokraten, walisischen Plaid Cymru, Grünen und Tory-Abweichlern gebildet, die entschlossen ist, mit einem entsprechenden Votum den "harten Brexit" der Tory-Fundamentalisten zu blockieren. Darum war in den letzten Tagen der oppositionelle Labour-Chef Jeremy Corbyn ebenfalls in Brüssel, um hinter den Kulissen mit den EU-Regierungschefs Kompromißlösungen auszuloten. Möglicherweise war es der Intervention Corbyns zuzuschreiben, daß beim eigentlichen EU-Gipfel die anderen Teilnehmer mit May nicht so hart ins Gericht gingen und sich die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zuversichtlich zeigte, was die Chancen einer für alle Seiten zufriedenstellenden Einigung betrifft.

Währenddessen bahnt sich in Irland eine mögliche Lösung der Grenzproblematik an. Vor einigen Wochen hat sich der neue Premierminister der Irischen Republik, Leo Varadkar, für eine Verlegung aller künftigen Grenzkontrollen an die Luft- und Seehäfen ausgesprochen, um die Errichtung eines festen Sicherheitskordons quer über die Insel zu vermeiden. Gegen den Vorschlag, der die Unterstützung der Opposition im Dubliner Parlament genießt und für den die Diplomaten der irischen Republik derzeit eifrig bei den Regierungen in den anderen 26 EU-Hauptstädten werben, kam aus Belfast prompt Protest. Im Namen der protestantisch-probritischen Democratic Unionist Party (DUP), deren 10 Abgeordnetenstimmen im Londoner Unterhaus die May-Regierung im Amt halten, hat Jeffrey Donaldson die außergewöhnliche Grenzverlegung abgelehnt, weil diese zolltechnisch der Wiedervereinigung Irlands gleichkäme.

Bekanntlich wächst die katholische Bevölkerung Nordirlands, die sich traditionell ein Ende der Teilung der Insel wünscht, unaufhörlich. Bald werden die Protestanten in der Minderheit sein, so daß die Frage der Wiedervereinigung unausweichlich wird. Für dieses Szenario sieht das Karfreitagsabkommen von 1998, mit dem der Bürgerkrieg in Nordirland beendet wurde, die Durchführung einer Volksbefragung vor. Ergibt diese eine Mehrheit für die Wiedervereinigung, dann steht ihr theoretisch nichts mehr im Weg. Deswegen erhebt Sinn Féin, die größte nationalistische Partei in Nordirland, regelmäßig die Forderung nach der Durchführung eines solchen Plebiszits. Gleichwohl gibt es einen erbitterten Streit darüber, ob die denkbar knappste Mehrheit - "50 Prozent plus eine Stimme" - ausreicht, um eine solche schwerwiegende Veränderung vorzunehmen.

Sträubten sich im Ernstfall die mehr als eine Million Protestanten gegen die Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik, könnte es zu einem erneuten Bürgerkrieg kommen. Auf diese Gefahr hat vor wenigen Tagen der ehemalige unionistische Abgeordnete John Taylor, der seit einigen Jahren als Lord Kilcloony im britischen Oberhaus sitzt, hingewiesen. Darum hat Varadkar einen Testballon aufsteigen lassen, demzufolge die von Nationalisten aller Couleur angestrebte Wiedervereinigung des nationalen Territoriums Irlands nur verwirklicht werden könne, wenn sie auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens - auch in den sechs Grafschaften Nordirlands - beruhe.

Damit hat sich Varadkar gegen die rechnerische Minimalmehrheit im Falle einer Volksbefragung positioniert und damit das "unionistische Veto" im Bezug auf ein wiedervereinigtes Irland verstärkt. Was jedoch im ersten Moment als Verrat an der nationalen Sache erscheint, könnte sich als gewiefter Schachzug erweisen, gelingt es Dublin damit, den Widerstand der Unionisten gegen die Verlegung der künftigen EU-Grenzen zum Vereinigten Königreich vom Hinterland Irlands an die Küste und an die Flughäfen zu schwächen oder sogar zu überwinden. In einem solchen Szenario würde Nordirland zu einer Sonderwirtschaftszone innerhalb der EU bei Aufrechterhaltung der bisherigen politischen Bindung an Großbritannien. Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, ob Varadkars Initiative zur Abmilderung der Brexit-Folgen für Irland als Ganzes vom Erfolg gekrönt sein wird oder nicht.

21. Oktober 2017


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