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PARTEIEN/350: London auf der Suche nach einem "sanften" Brexit (SB)


London auf der Suche nach einem "sanften" Brexit

Theresa Mays Durchhalteparolen überzeugen niemanden mehr


Im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland setzt sich die Krise um den Austritt des Landes aus der Europäischen Union, der für den 29. März 2019 geplant ist, unvermindert fort. Beim EU-Gipfeltreffen am 14. und 15. Dezember haben sich die anderen Mitgliedstaaten der Union, die sogenannten EU-27, mit dem Ergebnis von Phase I der Gespräche zwischen London und Brüssel zufrieden erklärt und damit den Weg für Phase II, die eigentlichen Verhandlungen über die künftigen Handelsbeziehungen, freigemacht. Den 27 Regierungschefs blieb kaum etwas übrig. Hätten sie den Eintritt in Phase II blockiert, hätte dies zum absoluten Chaos an der Themse, zu Panik an den Weltbörsen und zum Sturz der konservativen Minderheitsregierung um Premierministerin Theresa May geführt.

Die glücklose May ist um ihre Position nicht zu beneiden. Unmittelbar vor der Abreise zum EU-Gipfel in Brüssel hatte sie am 13. Dezember im Unterhaus eine peinliche Abstimmungsniederlage erlitten. Gegen den Willen der Regierung haben die Abgeordneten mit 309 zu 305 Stimmen für einen Zusatz zum EU Withdrawal Bill gestimmt, der dem Parlament das letzte Wort über Annahme oder Ablehnung des zwischen London und Brüssel ausgehandelten Brexit-Deals garantiert. Verfasser des Zusatzes war der frühere konservative Justizminister Dominic Grieve. Er und zehn weitere Tory-Rebellen haben zusammen mit den oppositionellen Sozialdemokraten um Jeremy Corbyn, der Scottish Nationalist Party (SNP), den Liberaldemokraten und den Grünen votiert und damit dem Zusatz zur Mehrheit verholfen. Für die Regierung und gegen den Zusatz stimmten neben dem Gros der konservativen Abgeordneten und den zehn Vertretern der protestantischen, nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) lediglich zwei eurofeindliche Labour-Mitglieder.

Für das Verlassen des Parteikurses haben Grieve und seine konservative Kollegin Anna Soubry über die sozialen Medien Todesdrohungen erhalten. Auf der Titelseite der reaktionären, chauvinistischen Zeitung Daily Mail wurden am 14. Dezember die elf Tory-Abweichler mit Porträtfotos gezeigt und als "selbstbezogene Unzufriedene" beschimpft, die durch ihr angeblich unverantwortliches Verhalten "die Möglichkeit eines Marxisten in Number 10" - gemeint ist natürlich Corbyn als Premierminister in Downing Street - erhöht hätten. Vor einem Jahr hatte das einflußreiche Massenblatt des schwerreichen Europhoben Paul Dacre die drei Richter des Obersten Gerichtshofes Großbritanniens, nachdem diese entschieden hatten, daß Mays Absicht, am 30. März Artikel 50 des Lissaboner Vertrags zum Austritt aus der EU innerhalb von zwei Jahren zu aktivieren, vom Parlament abgesegnet werden müsse, samt Fotos auf der Titelseite gezeigt und als "Feinde des Volks" diffamiert.

Innerhalb der Tory-Party nimmt der Selbstzerfleischungsprozeß zum Thema Brexit kein Ende. Am Wochenende haben Außenminister Boris Johnson und Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg, denen es beiden schwerfällt, ihr konkurrierendes Streben nach dem Amt des Premierministers und des konservativen Parteivorsitzenden zu verheimlichen, durch öffentliche Äußerungen Kritik am Ergebnis des von May mit Brüssel ausgehandelten Kompromisses geübt. Demnach würde die Beibehaltung der EU-Regeln während der geplanten zweijährigen Übergangsphase ab März 2019 bis zum Abschluß eines neuen Handelsabkommens - und womöglich auch danach - Britannia, einst stolze Herrin der Weltmeere, zum "Vasallenstaat" der Festlandeuropäer im allgemeinen, Deutschlands und Frankreichs im besonderen, machen, so Johnson und Rees-Mogg.

Doch das schwere Dilemma, in dem sich Großbritannien befindet, haben die Brexiteers sich selbst eingebrockt. Sie wollen dem größten Binnenmarkt der Welt den Rücken kehren, gleichzeitig jedoch dazu einen bevorzugten Zugang behalten. Die harten Brexiteers wie Johnson, Rees-Mogg und Umweltminister Michael Gove treten immer hysterischer für den Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion als einzigen Weg zur Erlangung der vollen staatlichen Souveränität ein und zeigen sich gegenüber den vielen Stimmen, die vor einer drohenden wirtschaftlichen Katastrophe warnen, taub. Während die internationalen Großbanken in der City of London auf die Aufrechterhaltung ihrer Dienstleistungstätigkeiten in der EU drängen und deshalb für einen sanften Brexit - heißt Verbleib im Binnenmarkt und Zollunion - eintreten, schlägt das britische Verlagswesen Alarm.

Wie die liberale Zeitung Guardian am 18. Dezember berichtete, hat Großbritannien mit 17 Prozent - vor den USA mit 15 Prozent und Deutschland mit 10 Prozent - den höchsten Anteil am weltweiten Büchermarkt. Jährlich bringen britische Verleger um die 200.000 Titel, mehr als jedes andere Land, heraus. Ihr größter Exportmarkt ist die EU. Dort wird ein Drittel des jährlichen Umsatzes der britischen Verlage von 1,36 Milliarden Euro erwirtschaftet. Doch verläßt das Land die EU, gibt es keinen bevorzugten Zugang mehr für Bücher published in Britain. Sie müssen unter den gleichen Bedingungen gegen die Druckprodukte aus den USA konkurrieren. Der Marktanteil britischer Bücher ginge sicherlich stark zurück.

Wegen der Kompliziertheit des Brexits und der negativen Folgen, die sich am Beispiel des zahlenmäßig starken Rückgangs der europäischen Erntehelfer bereits jetzt bemerkbar machen, plädieren immer mehr Briten nicht nur für den sanften Brexit, sondern auch für den Verbleib innerhalb der EU, damit London seine Stimme in den europäischen Gremien weiterhin zur Geltung bringen kann. Nach der Abstimmungsniederlage über den Gesetzeszusatz Dominic Grieves droht am 19. Dezember der May-Regierung der nächste Rückschlag. An jenem Tag wollen Opposition und Tory-Rebellen gegen Mays Festlegung auf den 29. März 2019 als EU-Austrittsdatum votieren. Anscheinend sind die Tage der May-Regierung gezählt. Die des Brexits vermutlich auch.

18. Dezember 2017


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