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PARTEIEN/359: Brexit - zugespitzt im Unentschieden ... (SB)


Brexit - zugespitzt im Unentschieden ...


Für die britische Premierministerin Theresa May wird die Bewältigung der Brexit-Problematik zusehends schwieriger. Zehn Tage vor dem nächsten EU-Gipfel am 29. Juni in Brüssel zeichnet sich immer noch keine Lösung im Dauerstreit um die künftige Handhabung der inneririscher Grenze ab. Zum gordischen Knoten auf der grünen Insel sind für May in den letzten Tagen gleich zwei Verfassungskrisen hinzugekommen: erstens wegen der Forderung des britischen Parlaments nach dem letzten Wort in Sachen Brexit und deren kategorischer Ablehnung durch die Regierung und zweitens wegen der Forderung der Schotten nach der Rückübertragung bisheriger EU-Kompetenzen an die Regionalregierung in Edinburgh. Auch dieses Ansinnen lehnt die Zentralregierung in London entschieden ab, weswegen der Fall im Juli vom Obersten Gerichtshof behandelt werden soll.

Nach neunmonatigen Beratungen im britischen Oberhaus ging Anfang Juni das EU-Austrittsgesetz mit 15 Zusätzen an das Unterhaus zurück. Bei den Abstimmungen in der zweiten Juniwoche im House of Commons gelang es der May-Regierung mit knapper Mehrheit, praktisch alle Zusätze abzuschwächen oder niederzuschlagen (Im britischen Politiksystem hat das Unterhaus die letzte Entscheidungsgewalt und das House of Lords hauptsächlich eine beratende Funktion). Insbesondere zwei Zusätze sorgten für heftige Kontroversen. Im ersten der beiden sprachen sich die Lords für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Zollunion mit der EU aus, etwa in Form einer Mitgliedschaft der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) neben Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz. Doch mit Hilfe von EU-Skeptikern bei der oppositionellen Labour Party konnte die May-Regierung diesen Zusatz aus dem Entwurf zum EU Withdrawal Bill streichen.

Weitaus schwieriger gestaltet sich der Umgang mit dem Zusatz, den Mays Tory-Kollege, der ehemalige konservative Justizminister Dominic Grieve, dem Gesetzentwurf angehängt hatte. Demnach sollte das Endergebnis der laufenden Brexit-Verhandlungen zwischen London und Brüssel dem Parlament noch vor dem geplanten EU-Austritt am 29. März 2019 zur Abstimmung vorgelegt werden. Mit diesem Passus wollten die Remainers verhindern, daß die Brexiteers den sogenannten "no deal" durchsetzen, das heißt, keine Einigung mit Brüssel zu erzielen, um der EU vollkommen den Rücken zu kehren und die künftigen Beziehungen mit ihr nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) zu gestalten. Während sämtliche Wirtschaftsvertreter Großbritanniens vor einem solchen Szenario warnen, pochen die Brexiteers darauf, angeblich um von Brüssel Zugeständnisse zu erzwingen, schlimmstensfalls die "Kontrolle" über das eigene Land - allem voran in der Einwanderungsfrage - zurückzuerlangen.

Als sich am 13. Juni im Unterhaus eine Mehrheit für den Zusatz des Kronanwalts Grieve abzeichnete, lud May eilends die führenden Tory-Rebellen nach Number 10 Downing Street zum tête-à-tête ein. Mit dem Versprechen auf eine ähnliche Formulierung in der endgültigen Gesetzesversion gelang es ihr, die drohende Niederlage für die Regierung bei der Abstimmung abzuwenden. Erst nachträglich stellten die EU-Freunde unter den konservativen Hinterbänklern fest, daß sie von der eigenen Parteichefin betrogen worden waren. Im Gesetzestext ist zwar von einer Abstimmung des Parlaments über das Endergebnis der Brexit-Verhandlungen die Rede, jedoch dürfen es die Parlamentarier lediglich "zur Kenntnis nehmen", nicht aber ablehnen, wie es beim Grieve-Amendment möglich gewesen wäre. May verteidigte die Abschwächung des Passus' mit dem Argument, allein die Regierung und nicht das Parlament sei für den Abschluß von internationalen Verträgen zuständig.

Das Hütchenspiel Mays hatte jedoch schwerwiegende Konsequenzen. Im Oberhaus hängten am 18. Juni die Lords mit einer überwältigenden Mehrheit von 354 zu 235 Stimmen dem Gesetzesentwurf den Grieve-Zusatz wieder an. Am 20. Juni soll im Unterhaus erneut über die umstrittene Passage abgestimmt werden. Die Chancen stehen gut, daß die Regierung den Zusatz dann nicht verhindern kann und eine Niederlage erleidet. Ob daraufhin eine Vertrauensabstimmung erfolgt und Neuwahlen anfallen, ist unklar. Fest steht, daß der Disput zwischen Exekutive und Legislative um die Kompetenz in der Brexit-Frage eine Heftigkeit erreicht hat, die man zuletzt bei der Home-Rule-Krise um die Selbstregierung für Irland vor dem Ersten Weltkrieg erlebt hat.

Ähnlich wie damals sieht sich das Vereinigte Königreich wegen des Brexit, der vor allem Ausdruck eines neuerwachten englischen Nationalismus ist, von einer Abspaltung bedroht, nur daß sich diesmal die Möchtegern-Abtrünnigen in Schottland und nicht in Irland befinden. Während im bevölkerungsreicheren England 53,4 Prozent der Wähler bei der Abstimmung im Juni 2016 für den Brexit votierten, stimmten die Schotten mit 62 Prozent dagegen. Seitdem drängt die Regierung im Edinburgher Stadtviertel Holyrood um Nicola Sturgeon von der Scottish National Party (SNP) auf einen "sanften Brexit", das heißt Verbleib des Vereinigten Königreichs in Binnenmarkt und Zollunion. Die SNP macht geltend, daß 2014 zahlreiche Schotten allein wegen der Zusage seitens der Londoner Regierung, nur beim Verbleib im Vereinigten Königreich sei die EU-Mitgliedschaft ihres Landes gesichert, gegen die Unabhängigkeit votiert haben.

Die SNP macht Stimmung gegen Englands Brexiteers, die sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit als verantwortungslose Hasardeure beschimpft. Vor wenigen Wochen hat das Parlament in Edinburgh mit überwältigender Mehrheit, das heißt mit den Stimmen aller Fraktionen außer den Konservativen, für eine Rückübertragung der bislang an die EU ausgelagerten Kompetenzen in den Bereichen Landwirtschaft, Fischerei et cetera an die schottische Regierung votiert. Mittels solcher Kompetenzen wollen die Schotten auch nach dem Brexit die ordnungspolitische Übereinstimmung mit der EU aufrechterhalten. London will dies aber verhindern, weil eine solche Strategie zu einem Auseinanderdriften zwischen Schottland und England und letztlich zur Aufkündigung der Union von 1707 führen müßte. In Edinburgh sieht man im Beharren Londons auf die eigene Kompetenzhoheit einen krassen Verstoß gegen die Dezentralisierung von 1999, mit der die Schotten zum ersten Mal seit fast 300 Jahren eine eigene Regierung und ein eigenes Parlament erhalten haben.

Aus Protest gegen das selbstherrliche Agieren des Unterhaussprechers John Bercow sowie der May-Regierung in Sachen Brexit hat am 13. Juni die SNP-Vertretung das Unterhaus, wo sie nach den Konservativen und Sozialdemokraten die drittstärkste Fraktion bildet, demonstrativ verlassen. Zuvor hatte der SNP-Fraktionsvorsitzende Ian Blackford den britischen Schottland-Minister David Mundell bezichtigt, "das schottische Volk komplett verraten" zu haben. Blackford kündigte an, die SNP werde in den kommenden Wochen im Unterhaus alles Erdenkliche unternehmen, um die Brexit-Beratungen zu verschleppen und zu sabotieren. Die Nachrichtenbilder, wie die SNP-Vertreter beim gemeinsamen Verlassen des Sitzungssaals im Unterhaus von den englischen Tory-Abgeordneten mit Buhrufen und beleidigenden Gesten verhöhnt wurden, dürften nördlich von Hadrians Mauer lange im Gedächtnis bleiben und dem Drang Schottlands in Richtung Unabhängigkeit Auftrieb verleihen. Am 24. Juli soll sich der Oberste Gerichtshof Großbritanniens erstmals in der Geschichte mit einem Streit zwischen Westminster und Holyrood befassen. Vom Ausgang des Kompetenzgerangels hängt die Zukunft des Vereinigten Königreichs als einheitlicher Staat ab.

19. Juni 2018


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