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PARTEIEN/376: Brexit - im Streit gelähmt ... (SB)


Brexit - im Streit gelähmt ...


Zum politischen Dauerchaos im britischen Parlament um den Austritt aus der Europäischen Union - wofür bekanntlich eine knappe Mehrheit der Wähler im Vereinigten Königreich im Juni 2016 votiert hat - kommt nun erschwerend eine handfeste Verfassungskrise hinzu. Am 18. März hat Unterhaussprecher John Bercow völlig überraschend unter Verweis auf eine Regelung aus dem Jahr 1604, die zuletzt 1920 zur Anwendung gekommen war, entschieden, daß die Regierung von Premierministerin Theresa May das von ihr mit Brüssel ausgehandelte Austrittsabkommen während der laufenden Sitzungsperiode nicht erneut zur Abstimmung vorlegen darf. Schließlich sei Mays Vorlage im Januar mit einer Mehrheit von 230 und im Februar von 149 Gegenstimmen abgeschmettert worden, so Bercow. Wenn nicht noch etwas Unvorhergesehenes geschieht, droht am 29. März der ungeordnete Austritt mit allen zu erwartenden katastrophalen Folgen für die Wirtschaft beiderseits des Ärmelkanals.

Niemand weiß, wie es in Sachen Brexit weitergeht, weder in London noch in Brüssel. Die britische Politik hat sich jedenfalls zum Kasperltheater entwickelt, die ernst zu nehmen sich im In- und Ausland niemand mehr verpflichtet fühlt. Zu lange dauert nun schon der parteiinterne Streit der regierenden Tories um die Härte des Austritts, obwohl seit längerem im Unterhaus eine fraktionsübergreifende Mehrheit für die sanfte Version, nämlich eine Freihandelsunion mit der EU, existiert. Doch darauf will sich May nicht einlassen, weil es die konservative Partei spalten würde. Nach der jüngsten Abstimmungsniederlage verglich der niederländische Premierminister Mark Rutte seine britische Amtskollegin mit dem schwarzen Ritter in Monty Pythons Kinokomödie "Der Ritter der Kokosnuß", der trotz des Verlustes aller vier Gliedmaßen am Boden liegend seine Niederlage nicht einsehen will und dem Gegner ein Unentschieden anbietet. Heute witzelte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel mit Blick auf die jüngste Entwicklung an der Themse, sie sei in den parlamentarischen Gepflogenheiten Großbritanniens des 17. Jahrhunderts nicht bewandert gewesen.

Hatte am 14. März das Unterhaus mit 413 zu 202 Stimmen für eine Verschiebung des Austrittsdatums um mindestens drei Monate votiert, so verbrachten May und ihre Berater die folgenden Tage damit, die Führung der protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) aus Nordirland zu bearbeiten, damit sich deren zehn Unterhausabgeordnete bereiterklärten, bei der geplanten dritten Abstimmung für das Withdrawal Agreement (WA) doch noch dafür zu stimmen. Bisher lehnt die DUP das Abkommen aus Angst ab, daß die darin vorgesehene Klausel zur Beibehaltung einer ordnungspolitischen Übereinstimmung zwischen Nordirland und der Republik Irland auch nach dem Brexit, der sogenannte Backstop - um ein Wiederaufflammen des Bürgerkriegs zu vermeiden - zu einer Schwächung der völkerrechtlichen Bindung der sechs nordostirischen Grafschaften an Großbritannien führen könnte.

Zuletzt hieß es, die DUP-Unterhausfraktion um Nigel Dodds habe sich mittels rechtlicher Garantien seitens Justizminister Geoffrey Cox sowie der Aussicht auf zusätzliche Subventionen für Nordirland aus dem britischen Steuertopf breitschlagen lassen. Ohnehin war die DUP in den letzten Wochen seitens der nordirischen Bauern- und Unternehmerverbände, die extrem negative Auswirkungen durch neue europäische Schutzzölle befürchten, unter massiven Druck gesetzt worden. Sie suchte deshalb einen Ausweg ohne Gesichtsverlust. Das gleiche galt für einen Gutteil jener Brexiteers bei den Konservativen, die sich zuletzt gegen die eigene Partei- und Regierungschefin positioniert hatten. Zum Schluß blieb jedoch ein harter Kern von mehr als 30 Tories, darunter Ex-Außenminister Boris Johnson, die auch bei der dritten Abstimmung gegen das Austrittsabkommen votieren wollten und May damit die erneute Blamage beschert hätten.

Doch nach der Intervention Bercows wird es dazu nicht mehr kommen. Statt dessen kam es am 19. März in Number 10 Downing Street zu einer Krisensitzung, auf der nach Angaben des London Evening Standard die Fetzen geflogen sind. Angesichts der Aussage von Premierministerin May, Brüssel schriftlich um eine Verschiebung des Austrittsdatums um mindestens drei Monate bitten zu wollen, soll die Tory-Fraktionsvorsitzende Andrea Leadsom die Fassung verloren und die Anwesenden mit dem Vorwurf konfrontiert haben, am Kabinettstisch säßen nur noch feige Brexit-Gegner (remainers) und keine mutigen Brexit-Befürworter (leavers). Angeblich drohen Leadsom, Transportminister Chris Grayling und Handelsminister Liam Fox bereits mit Rücktritt, sollte May mit den anderen 27 EU-Regierungschefs bei der Ratssitzung am 21. März eine Fristverlängerung vereinbaren, die über den 2. Juli hinausgeht.

Das Datum ist deshalb wichtig, weil sich an diesem Tag das neue EU-Parlament konstituieren soll. Bleibt das Vereinigte Königreich über das Datum hinaus in der EU, müssen auch die Briten an der EU-Wahl Ende Mai beteiligt werden. Deswegen hat der französische Chefunterhändler der EU in Sachen Brexit, Michel Barnier, heute bei einer Pressekonferenz recht skeptisch auf die Vorstellung der Gewährung einer Verlängerung der nach Artikel 50 vorgesehenen Austrittsfrist durch Brüssel reagiert. Um eine positive Antwort auf die Bitte zu erhalten, müßte London vorher die Frage der restlichen 27 EU-Regierungchefs beantworten, wozu überhaupt eine Verlängerung dienen sollte. Solange nicht ersichtlich sei, was Regierung und Parlament des Vereinigten Königreichs wollten, werde sich die EU weiterhin mit den Vorbereitungen für den No-Deal-Brexit begnügen, so Barnier.

Seit Anfang der Brexit-Krise haben die wichtigsten Austrittsbefürworter wie Johnson, David Davis, Jacob Rees-Mogg und Nigel Farage mit dem Argument für einen ungeordneten Austritt plädiert, ein solches Szenario schadete den anderen EU-Staaten mehr, mit der Drohung könnte man Brüssel zu Zugeständnissen zwingen, und wenn nicht, so würde Großbritannien ab den 30. März alle Geschäfte mit Europa und dem sonstigen Ausland nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) abwickeln können. Die Geburtswehen der "Befreiung" Großbritanniens aus mehr als 40 Jahren Bevormundung durch die Kontinentaleuropäer wäre schmerzhaft, jedoch verkraftbar auf dem Weg in eine schönere und bessere Zukunft. Bleiben die 27 EU-Regierungschefs auf der harten Linie Barniers, wofür derzeit alles spricht, dann werden wir erleben, ob die britischen Neoimperialisten um Johnson und Konsorten ihren großen Worten tatsächlich auch große Taten folgen lassen werden.

19. März 2019


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