Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → REDAKTION


PARTEIEN/389: Brexit - in der Zerreißprobe ... (SB)


Brexit - in der Zerreißprobe ...


Auch wenn man es für nicht möglich hält, schaukelt sich das Brexit-Drama im Vereinigten Königreich zu immer neuen Höhepunkten auf - wie vor drei Tagen der sogenannte "Super Saturday", die erste nicht werktägliche Sitzung des britischen Unterhauses seit dem Krieg mit Argentinien 1982 um die südatlantische Inselgruppe Falkland/Malvinas. Am diesem Tag wollte Premierminister Boris Johnson sein zwei Tage zuvor mit der Europäischen Union ausgehandeltes Abkommen verabschieden lassen, um rechtzeitig bis zum Austrittsdatum nach Artikel 50 des Lissaboner Vertrags am 31. Oktober den Brexit vollzogen zu haben. Statt dessen hat die Opposition Theresa Mays Nachfolger als Tory-Chef einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht, indem sie mit 322 zu 306 Stimmen dem Gesetzesentwurf mit einem Zusatz versah, der eine Verabschiedung des Vertrags ohne eingehende parlamentarische Kontrolle aller Aspekte unmöglich machte und damit Johnsons Hau-Ruck-Verfahren stoppte.

Das sogenannte Letwin Amendment - benannt nach dem Tory-Rebellen Oliver Letwin - war deswegen nötig geworden, weil die rasche Bereitschaft der Brexiteer-Ultras, Johnsons nicht gerade umwerfendem Deal mit Brüssel zuzustimmen, bei den EU-Freunden im Parlament den Verdacht geweckt hatte, der Premierminister könnte nach einer Verabschiedung des Abkommens die eigentlichen Verhandlungen über die künftigen Handelsbeziehungen, die in einer "Übergangsphase" bis Ende 2021 stattfinden sollen, scheitern lassen, um doch noch den ungeordneten Austritt herbeizuführen. Um diese Möglichkeit ein für allemal auszuschließen, haben die oppositionellen Sozialdemokraten, Liberaldemokraten, schottischen und walisischen Nationalisten, Grünen, mehrere parteilose Abgeordnete sowie die meisten Tory-Rebellen, die sich im September mit Johnson überworfen haben, für den Letwin-Zusatz gestimmt. Für die Abstimmungsmehrheit haben jedoch die zehn Abgeordneten der fundamentalistisch-protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) aus Nordirland gesorgt, die seit dem Sommer 2017 die Minderheitsregierung Theresa Mays gestützt und zuletzt eisern an der Seite Johnsons gestanden hatten.

Als das Ergebnis der Abstimmung per Lautsprecher aus dem Westminster Palace verkündet wurde, löste dies millionenfache Jubelrufe bei der gigantischen Menschenmasse aus, die an diesem Nachmittag im Zentrum von London für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU bzw. für die Durchführung einer erneuten Volksabstimmung demonstrierte. Widerwillig und bockbeinig nahm Johnson die Niederlage entgegen, vermutlich deshalb, weil ein im September von den No-Deal-Gegnern verabschiedetes Gesetz vorschrieb, daß der Premierminister, sollte bis Mitternacht an jenem 19. Oktober keine handfeste Einigung mit der EU erzielt worden sein, Brüssel um eine weitere Verschiebung des Austrittsdatums bis zum 31. Januar 2020 bitten müßte. Am späten Abend ging per Fax an den EU-Ratsvorsitzenden Donald Tusk der entsprechende Bittbrief aus London - ungewöhnlicherweise jedoch ohne Unterschrift des Premierministers - sowie ein zweiter Brief Johnsons ein, in dem dieser eine weitere Aufschiebung als "negativ" für die bilateralen Beziehungen bezeichnete.

Von den Briten den schwarzen Peter zugeschoben zu bekommen dürfte für die EU-Führungsriege nicht besonders angenehm gewesen sein. In Brüssel und den restlichen europäischen Hauptstädten hat man vom Brexit-Zirkus an der Themse die Nase schon lange gestrichen voll, doch gibt es bei den politisch Verantwortlichen der EU-27 niemanden, nicht einmal Emanuel Macron selbst, der ernsthaft die Drohung des französischen Präsidenten, die Bitte aus London um Fristverschiebung auszuschlagen und das Vereinigte Königreich seinem No-Deal-Schicksal zu überlassen, in die Tat umzusetzen gedenkt, denn beiderseits des Ärmelkanals wären die wirtschaftlichen und politischen Folgen einer solch "nuklearen Option" verheerend. Inzwischen hat Angela Merkels Energie- und Wirtschaftsminister Peter Altmaier Entgegenkommen signalisiert, doch in Brüssel, Berlin, Paris, Dublin et al möchte man erst einmal abwarten, um zu sehen, wie sich in den nächsten Tagen die Beratungen im britischen Parlament entwickeln.

Aktuell versucht Johnson eine Abstimmung über seinen Deal abzuhalten und behauptet, bereits eine knappe Mehrheit der Abgeordneten hinter sich gebracht zu haben. Ihrerseits arbeitet die oppositionelle Labour-Fraktion zusammen mit den Abgeordneten der Scottish National Party (SNP) an einer Gesetzesnovelle, die bei einer Verabschiedung den Verbleib des Vereinigten Königreichs in einer Zollunion mit der EU zur Folge hätte. Darüber hinaus regen die Sozialdemokraten an, einen erneuten Volksentscheid - diesmal mit der Wahl zwischen den drei Varianten Verbleib, Zollunion und Johnsons lockere Partnerschaft - abzuhalten. So, wie die Kräfteverhältnisse im Unterhaus derzeit verteilt sind, hängt der Ausgang besagter Beratungen davon ab, wofür sich die DUP entscheidet.

Doch die Democratic Unionists um Arlene Foster und Nigel Dodds sind in ihrer mißlichen Lage nicht zu beneiden. Geben sie der Opposition den Vorzug, können sie zwar Zollkontrollen in der Irischen See und eine Abschwächung der Position Nordirlands im Vereinigten Königreich, wie sie in Johnsons Deal droht, verhindern, sie müßten sich dann jedoch erst recht die Frage gefallen lassen, worum sie überhaupt seit drei Jahren gegen den Rat aller Wirtschaftsexperten und den Mehrheitswillen der nordirischen Wähler den harten Brexit-Kurs verfolgt haben. Kehren sie zu ihren traditionellen Verbündeten bei britischen Konservativen zurück, müssen sie befürchten, daß Johnson und die Tories Nordirland Dublin quasi überläßt, um die eigenen grandiosen Brexit-Träume doch noch verwirklichen zu können. So oder so geht bereits jetzt die DUP als größte Verliererin des ganzen Brexit-Fiaskos in die Geschichtsbücher ein, denn durch ihre strategische Blindheit hat sich die einst von Pfarrer Ian Paisley gegründete Partei in Brüssel und London gleichermaßen unbeliebt gemacht und die von ihr verhaßte Möglichkeit der Wiedervereinigung Irlands erst recht in greifbare Nähe gebracht.

22. Oktober 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang