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PARTEIEN/402: London - Lakai der USA ... (SB)


London - Lakai der USA ...


Mit offiziell inzwischen mehr als 40.000 Covid-19-Toten steht das Vereinigte Königreich als "kranker Mann Europas" dar, der von allen Staatswesen des Kontinents seine Bürger am schlechtesten vor einer Erkrankung mit dem neuartigen Corona-Virus geschützt hat. Das Agieren der Regierung Boris Johnsons in der Corona-Krise läßt sich am besten mit den Worten chaotisch und dilletantisch beschreiben. Londons Versagen gegenüber SARS-Cov-2 steht in krassem Widerspruch zur Vision eines "Global Britain", welche die chauvinistischen Little Englanders beim Brexit-Referendum 2016 erfolgreich verkaufen konnten und die nach dem formalen Austritt aus der EU am 31. Januar 2020 Wirklichkeit werden sollte. Post-Brexit-Großbritannien erlebt aktuell eine extrem harte Landung, welche die einfachen Arbeiter und nicht Johnsons Tory-Klüngel aus reichen Anwälten, Hedgefonds-Managern und rechtsextremen Publizisten ausbaden müssen.

Der Prestigeverlust, den London und die britische Diplomatie dieser Tage erleben, ist beträchtlich und dürfte nur schwer bis gar nicht wiedergutzumachen sein. Als Johnson am Abend des 10. Mai im landesweiten Fernsehen seinen Fünf-Stufen-Plan zur Lockerung des Covid-19-bedingten Lockdowns bekanntgab, war der kurze Vortrag so schwer verständlich und in sich widersprüchlich, daß er allgemein Spott und Kopfschütteln erntete. Im Frühstücksfernsehen am darauffolgenden Tag waren nicht nur konservative Hinterbänkler wie Andrew Bridgen, sondern sogar hochrangige Politiker wie Außenminister Dominic Raab nicht in der Lage, die Fragen der Moderatoren zu den neuen Verhaltensregeln der sozialen Distanzierung richtig zu beantworten. Raab zum Beispiel meinte, jeder Erwachsene könne seine mehr als 70 Jahre alten Eltern gleichzeitig besuchen und sich mit ihnen unterhalten, solange man den vorgeschriebenen Abstand von zwei Metern einhalte und die Begegnung im Freien stattfinde. Das war falsch. Nach dem ehrgeizigen, 62seitigen "Plan to Rebuild" dürfen in der ersten Stufe Personen, die 70 Jahre alt oder älter sind, nur einen einzigen anderen Menschen empfangen, egal ob die Begegnung draußen oder drinnen stattfindet.

Der Brexit sollte die Fliehkräfte innerhalb des Vereinigten Königreichs einfangen, den Drang Schottlands in Richtung Unabhängigkeit und den Trend zur Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland stoppen. Davon ist nicht viel zu bemerken. Nach Bekanntgabe des Lockerungsplans aus London haben die Autonomieregierungen in Edinburgh, Cardiff und sogar Belfast, wo die pro-britische, mit den Tories zumeist verbündete Democratic Unionist Party (DUP) die stärkste Kraft ist, erklärt, Johnson spreche allein für England, man werde in Schottland, Wales und Nordirland jeweils nach Maßgabe der eigenen Gesundheitsexperten die eigenen Regelungen zur Wiedereröffnung der Betriebe, Baumärkte, Kirchen, Läden, Schulen, Restaurants, Kneipen Sportstätten et cetera ergreifen. Von einer Harmonie unter den vier Einzelteilen der "teueren Union" - O-Ton Theresa May - war nichts zu spüren.

Eine Woche zuvor war die Befürchtung aufgetaucht, Großbritannien könnte die Verhandlungen mit der EU über die künftigen Beziehungen absichtlich scheitern lassen, sollte Brüssel den Wünschen Londons nach einem Freihandelsabkommen à la Kanada nicht entsprechen, und die zu erwartenden wirtschaftlichen Schäden, die auf beiden Seiten des Ärmelkanals enorm sein dürften, einfach auf die Corona-Krise schieben. So äußerte sich am 7. Mai beim Radiointerview der irische EU-Handelskommissar Phil Hogan in Beantwortung der Frage nach der bisherigen Verhandlungsstrategie der Briten, die von den Vertretern aller 27 EU-Staaten als unseriös und wenig zielführend im Sinne einer gütlichen Einigung empfunden wird. Wiederholt hat der britische Chefunterhändler David Frost eine Verlängerung der Übergangsphase, in der das Vereinigte Königreich die EU-Regeln noch einzuhalten hat und die am 31. Dezember ausläuft, trotz Corona-Pandemie kategorisch abgelehnt.

Doch inzwischen erscheint der Standpunkt der Regierung Johnson, entweder die EU beugt sich dem Willen Londons oder das Vereinigte Königreich kehrt ihr den Rücken, als zunehmend illusorisch. Großbritannien droht in diesem Jahr ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um rund 20 Prozent. Millionen von Menschen werden am Ende des Jahres arbeitslos sein. Sich in dieser extrem schwierigen Phase von seinem wichtigsten Markt, der EU, abzukoppeln und nicht an den pan-europäischen Wiederaufbaumaßnahmen zu beteiligen, wäre selbstmörderisch und politisch nicht zu vermitteln. In London verliert der Hurrapatriotismus der harten Brexiteers offenbar an Gewicht. Bei Regierungskonsultationen am 11. Mai in Belfast zur Vorbereitung der neuen Grenzkontrollen wurde seitens Londons endlich zugesichert, daß diese in den Häfen von Larne, Warrenpoint und Belfast stattfinden werden. Am 13. Mai hat die britische Regierung schriftlich die künftige Durchführung der physischen Kontrolle des Waren-, Tier- und Personenverkehrs an der Küste der Irischen See bestätigt. Damit ist die Drohung Londons mit der Wiedererrichtung einer harten Grenze auf der grünen Insel über mehrere hundert Kilometer zwischen Derry und Dundalk vom Tisch.

In einem Bericht des Guardians vom 13. Mai haben mehrere EU-Vertreter unter Hinweis auf Umfang und Komplexität der Materie die Vorstellung des britischen Vizepremierministers Michael Gove, bis Sylvester ließe sich ein ordentliches, London und Brüssel zufriedenstellendes Handelsabkommen zustande bringen, als absolut unrealistisch verworfen. Die EU gibt gegenüber Großbritannien nicht klein bei, weil sie einfach am längeren Hebel sitzt. Das Vereinigte Königreich ist weit mehr auf gute Beziehungen zur EU angewiesen als umgekehrt. Die Glaubenslehre der Brexiteers, losgesagt von der EU könnte London ein für Großbritannien vorteilhafteres Netzwerk aus Handelsbeziehungen zu den früheren Kolonien Australien, Indien, Neuseeland und Südafrika, den Ländern Afrikas und Lateinamerikas, zu den aufstrebenden Industrienationen Asiens, zur Volksrepublik China, den USA und Kanada flechten, erweist sich immer mehr als Trugschluß.

Gerade die "special relationship" zu den USA, in die die libertär denkenden Brexiteers so viel Hoffnung gesetzt haben, erweist sich als besonders problematisch. Donald Trumps Amerika lädt keineswegs zu einer Partnerschaft auf Augenhöhe ein, sondern erwartet bedingungslose Gefolgschaft. Am 12. Mai berichtete der Guardian unter Verweis auf britische Diplomaten, bei den laufenden Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich verlangten die amerikanischen Unterhändler ein Vetorecht Washingtons bei Londons wirtschaftlichen Beziehungen zu potentiell feindlichen Staaten. Gemeint ist natürlich China, das zu den wichtigsten Quellen von Importen und Absatzmärkten für britische Waren und Dienstleistungen gehört.

Bereits letztes Jahr hatten sich London und Washington über die geplante Beteiligung des chinesischen Technologieunternehmens Huawei am Aufbau eines 5G-Netzwerks in Großbritannien verkracht. Jetzt sieht es so aus, als mache Washington die aktive Teilnahme Londons an der zunehmend aggressiven Anti-China-Politik der USA zur Bedingung für ein transatlantisches Freihandelsabkommen. Ob die Briten bereit sind, diesen Preis zu entrichten, ist ungewiß. Doch die blinde Abwendung von der EU hat die Handlungsoptionen Londons auf der diplomatischen Bühne - ganz im Gegensatz zu den Verheißungen der Brexiteers - stark eingeschränkt. Nichts verdeutlicht die unterlegene Position Großbritanniens gegenüber den USA so sehr wie der Skandal um den tragischen Tod von Harry Dunne. Im vergangenen August hat Anne Sacoolas, die 42jährige Ehefrau eines NSA-Mitarbeiters auf einem US-Militärstützpunkt in England, mit ihrem Wagen den 18jährigen Motorradfahrer totgefahren.

Angeblich geschah das Unglück, weil Sacoolas vergessen hatte, wo sie war, und auf der falschen Straßenseite fuhr. Statt der Familie des verstorbenen Jugendlichen beizustehen und die Justizbehörden ihre Arbeit machen zu lassen, hat die Johnson-Regierung, in vorderster Linie Außenminister Raab, Sacoolas mit dem windigen Hinweis auf eine "diplomatische Immunität", die in ihrem Fall gar nicht existierte, mit einer Sondermaschine in die USA ausreisen lassen. Inzwischen hat das State Department unter der Leitung von Mike Pompeo erklärt, daß Sacoolas zur Aufklärung des Vorfalls nicht nach Großbritannien zurückkehren und sich auch nicht an der juristischen Aufarbeitung beteiligen wird. Da spricht der internationale Fahndungsaufruf der im französischen Lyon ansässigen Interpol zur Hilfe bei der Ergreifung von Sacoolas, den London vor wenigen Tagen erwirkt hat, für die Bedeutungslosigkeit Großbritanniens.

14. Mai 2020


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