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INTERVIEW/003: Rudy Corpuz jun. zum Gangsterwesen in Kalifornien (SB)


Interview mit Rudy Corpuz jun. am 27. Juni in Dublin


Zu den Stars des von Google Ideas, dem Council on Foreign Relations (CFR) und dem Tribeca Film Festival Ende Juni in Dublin veranstalteten Summit Against Violent Extremism (SAVE) gehörte zweifelsohne Rudy Corpuz jun. mit seinen Tätowierungen, Dreadlocks sowie seinem urbanen Kleidungsstil und vom Hiphop geprägten Straßenjargon. Der ehemalige Gangbanger betreut in seiner Heimatstadt San Francisco seit fast zwanzig Jahren Jugendliche und versucht sie vor einem Leben bzw. einem früheren Sterben im kriminellen Milieu zu bewahren. Am Ende des ersten, für die Presse zugänglichen Tages beim Gipfeltreffen gegen gewalttätigen Extremismus hatte der Schattenblick Gelegenheit mit Corpuz jun. über sein bewegtes Leben zu sprechen.

Rudy Corpuz jun. - Foto: © 2011 by Schattenblick

Rudy Corpuz jun.
Foto: © 2011 by Schattenblick

Schattenblick: Rudy, kannst du uns etwas über deine Herkunft erzählen?

Rudy Corpuz jun.: Ich bin Anfang der siebziger Jahren in San Francisco, Kalifornien, geboren und dort aufgewachsen.

SB: Du bist also um die Ende dreißig Jahre alt.

RCj: So ist es.

SB: Und wann hast du angefangen, dich für das Bandenwesen zu interessieren?

RCj: Ich wurde in eine Gang hineingeboren. Bei mir war kein Aufnahmeritual nötig.

SB: Interessant.

RCj: Der Grund, warum ich das sage, ist, ich entstamme einer Familie, die seit drei Generationen Krieger hervorbringt. Ich bin Philipino. Und unser Vater hat mich und meine Brüder zu Soldaten gemacht. Er war selbst Militär, hat uns streng erzogen und uns Härte beigebracht. Also war das anfangs weniger Gangsterleben und mehr eine Familiensache.

SB: Hatte das irgend etwas mit philippinischen Kampfkünsten zu tun?

RCj: Nein. Mein Vater war halt Soldat bei der US-Armee. Ich kenne aber die philippinischen Kampfkünste und die verschiedenen Stocktechniken.

SB: Aber das war offenbar nicht dein Ding, oder?

RCj: Hey Man, wer eine Kanone trägt, braucht keine Stöcke.

SB: Da ist was dran. (lacht) Das Viertel in San Francisco, wo du aufgewachsen bist, wohnten da hauptsächlich Philipinos?

RCj: Es war gemischt. South of Market heißt es. Damals war das ein hartes Pflaster. Das hat sich in den letzten Jahren aber positiv gewandelt.

SB: Warum bist du überhaupt einer Gang beigetreten?

RCj: Weißt du, das waren meine Leute, das war meine Gemeinde. Manche Kinder werden in Polizeifamilien hineingeboren und werden als Erwachsene selbst Polizisten. Bei anderen sind die Väter und Großväter Feuerwehrleute gewesen, also gehen sie später selbst zur Feuerwehr. Man paßt sich sozusagen seiner Umgebung an.

SB: Doch wenn dem so ist, warum bist du nicht zum US-Militär gegangen?

RCj: Eine Karriere bei der Armee hatte für mich keinen Reiz. Ich fühlte mich mehr vom Leben auf der Straße angezogen.

SB: Was genau war es, was dich dabei anzog?

RCj: Das Geld, der Glamour, die Macht und der Respekt, den alle den führenden Gang-Mitgliedern entgegenbrachten. Vor allem das Letztere wollte ich haben. Mein ältester Bruder war es, der mich in die Gang einführte.

SB: Also bist du in die Fußstapfen deines Bruders getreten?

RCj: Ich habe sieben Brüder, von denen die meisten "in the mix" waren. Mein ältester Bruder war aber ein Anführer und mich hat es beeindruckt, wieviel Respekt die Leute ihm entgegenbrachten.

Rudy Corpuz jun. im Gespräch - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Was meinst du damit, deine Brüder waren "in the mix"?

RCj: Das heißt, sie machten bei der Gang mit - auf der mittleren Ebene. Nicht alle, aber die meisten von ihnen, pflegten diesen Lebensstil.

SB: Wie hieß denn die Gang?

RCj: Sie war einfach unsere Gang in dem Viertel South of Market.

SB: Aber hattet ihr einen gemeinsamen Namen?

RCj: DTB - die Down Town Boyz.

SB: Und ihr habt aufeinander aufgepaßt?

RCj: Darauf kannst du wetten. Ich war der Chef unserer Gang. Egal, was ich immer machte, ob es sich um einen Hundertmeterlauf, Entenschießen auf dem Dom, oder das Spiel Dame handelte, da wollte ich stets der Erste sein.

SB: Aber mit der Einstellung warst du vermutlich nicht der einzige in deiner Gang. Wie wurde das geregelt?

RCj: Sie konnten mich einfach nicht schlagen. Ich hatte die schnellsten Fäuste. (lacht)

SB: Das nehme ich dir ab. (lacht) Gab es einen konkreten Grund oder sagen wir mal eine äußere Bedrohung eures Viertels durch andere Gangs, weshalb du und deine Kumpels sich zu einer Bande verschworen haben?

RCj: Es hatte mehr mit dem Wunsch nach Zusammenhalt und Kameradschaft zu tun. Dennoch gab es andere Viertel und andere Gangs, und wenn solche Leute bei uns aufkreuzten, haben wir es ihnen gegeben. Siehst du, der Grund, weshalb ich eine Gang führte, war nicht allein, daß ich kämpfen, sondern vor allem weil ich denken und organisieren konnte. Ich habe nur ausgeteilt, wenn die Leute es verdient haben. In den meisten Gangs ist es so, daß verschiedene Leute unterschiedliche Rollen spielen oder Aufgaben übernehmen.

SB: Als du in das Gangsterleben eingetaucht bist, wurden Streitereien noch mit Fäusten ausgetragen oder hatten Schußwaffen schon Einzug gehalten?

RCj: Schußwaffen waren bereits allgegenwärtig. Das waren die achtziger Jahre. Heute gibt es noch mehr Schußwaffen, die zudem größer sind, größere Reichweite haben, mehr Kugeln verschießen und einfach mehr Schäden anrichten können als damals, als ich am Anfang meiner Gangsterkarriere stand.

Rudy Corpuz jun. im Gespräch - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Ich gehe davon aus, daß du damals auch deine Erfahrungen mit illegalen, bewußtseinsverändernden Substanzen gemacht hast. Hatten die Rivalitäten zwischen den Gangs vielleicht auch kommerzielle Gründe, die im Drogenhandel lagen?

RCj: Für mich gibt es einen Unterschied zwischen Gangmitgliedern und Drogendealern. Bei uns hat der Einzug von Crack-Kokain Ende der achtziger Jahre alles verändert. Plötzlich fingen die Leute an, mit Dealen eine Menge Kohle zu verdienen. Ging es den meisten von uns ursprünglich um den Schutz der Nachbarschaft, so hat Crack da eine ganz andere Dynamik hineingebracht.

SB: Wegen der enormen Geldsummen, die im Spiel waren?

RCj: Genau. Da lernte man, was es heißt, daß Geld die Wurzel allen Übels ist. Wir entfremdeten uns voneinander sowie von unseren Freunden und Familien. Ich wurde zu einem Drogendealer, denn ich wollte auch an diesem lukrativen Geschäft teilhaben. Auch als Drogendealer machte ich auf extrem. Ich war tage- und nächtelang unterwegs. Bereits mit 18, 19 Jahren hatte ich soviel Geld, ich hätte locker eine Weltreise machen können. Doch ich war naiv und unerfahren, was den Umgang mit Geld betrifft. Ich bewahrte es in Mülltüten auf.

SB: Waren du und deine Freunde euch damals bewußt, in was für einer gefährlichen Situation ihr lebtet und wie tödlich die Risiken waren, die ihr eingingt und denen ihr euch aussetztet?

RCj: Ehrlich gesagt, nein. Damals war ich von dem ganzen Geld und all den Luxusgütern, mit denen wir angaben, völlig verblendet. Ich war von den geilen Klamotten, den dicken Autos und der ganzen Macht wie berauscht.

SB: In der Diskussionsrunde vorhin wurde ein interessanter Ansatz beschrieben, wie man junge Menschen in einer solchen Lage über die Gefahren aufklären könnte. Da Jugendliche leicht das eigene Leben aufs Spiel setzen, wurde angeregt, sie nicht auf die Gefahr für sich selbst anzusprechen, denn darüber lachen sie nur, sondern darauf, was es für sie bedeuten würde, wenn ihr bester Freund im Kugelhagel fiele. Meinst du, das könnte etwas bewirken?

RCj: Ich denke schon. Ich habe Leute, die mir nahestanden, verloren oder habe sie sterben gesehen. Das Problem ist, daß ich, als ich das Gangsterleben führte, abgestumpft bin. Ich war nur auf das Geschäft, auf das Geldverdienen fixiert. Alles andere war zweitrangig. Mir war klar, daß der Preis des Geschäfts darin bestand, daß man Leute dabei verlieren würde, denn es war fast wie im Krieg. Das war keine Dame mehr, sondern Schach, und zwar in echt.

Rudy Corpuz jun. im Gespräch - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Damals standest du unter enormem Streß, mußtest viel organisieren und gingst gleichzeitig große Risiken ein. Liegt man falsch in der Annahme, daß der Konsum der eigenen Ware dein Urteilsvermögen, deine Einschätzung der Lage und deinen Kontakt zur Wirklichkeit negativ beeinflußt hat?

RCj: Keineswegs, denn es war tatsächlich so. Wie wir alle wissen, lautet die goldene Regel bei Drogendealern, die Finger von der eigenen Ware zu lassen. Doch als ich im Geschäft war, habe ich Verwandte verloren. Meine Nichte und mein Neffe kamen ums Leben und mein Vater starb. Ich fiel in eine Depression, und da ich unfähig war, über meine Gefühle zu reden oder mit ihnen umzugehen, habe ich zu Drogen als Trostpflaster gegriffen. Und weil ich zu Extremen neige, wurde ich schnell zu meinem besten Kunden. Mit der Zeit fand ich mich auf der falschen Seite der Kanone wieder.

SB: Was meinst du mit der "falschen Seite der Kanone"?

RCj: Nun, ich wußte wie es war, ein großer Drogendealer zu sein. Ich wußte aber nicht, wie es sich anfühlte, ein Drogensüchtiger zu sein. Als ich jedoch drogensüchtig wurde, hat es mir die Augen geöffnet, was Leute in dieser Situation durchmachen.

Vorhin hast du nach der Gefährlichkeit des Lebens, das wir führten, und inwieweit uns das überhaupt bewußt war, gefragt. Rückblickend wird mir klar, wie viele Menschen ich getötet und wie viel Zerstörung und Leid ich über unser Viertel gebracht habe - und das alles wegen Drogen.

SB: Mitunter weil du selbst unter Drogeneinfluß standest?

RCj: Natürlich, aber auch weil ich sie vertickte und in dem Zusammenhang einige Raubüberfälle beging.

SB: Nicht so schön.

RCj: Aber als Drogendealer habe ich gar nicht wahrgenommen, was ich meiner Gemeinde antat. Es war, als schmeiße man einen großen Stein in einen kleinen Teich hinein. Die Wirkung meines Handelns breitete sich negativ auf alle aus und das nicht nur auf die anderen Gangmitglieder. Die Väter, die Mütter, die Cousinen, die Kinder - alle waren davon betroffen. Erst als ich selbst Drogensüchtiger wurde, habe ich die verheerenden Auswirkungen meines Treibens richtig erkannt. Denn das Geschäft war auch eine Art Sucht gewesen, die alles andere ausblendete.

SB: Inzwischen befandst du dich in einer regelrechten Zwickmühle. Du warst zwar ein großer Drogendealer, aber auch ein Drogensüchtiger geworden. Wie hast du es geschafft, da heil herauszukommen?

RCj: Wie ich vorhin sagte, habe ich immer meinen Grips benutzt. Irgendwann wurde ich in Verbindung mit dem Drogengeschäft festgenommen. Das hat mich aber nicht aufgehalten.

SB: Du hast also gesessen?

RCj: Klar doch. In dem Geschäft kommt man um den einen oder anderen Aufenthalt hinter Gittern nicht herum. Aber auch als ich drogensüchtig wurde und immer mehr in den Abgrund stürzte, hat mich das auch nicht abgeschreckt. Was mich schließlich zur Besinnung brachte und mich zu einem Lebenswandel veranlaßte, war etwas, das mich im Tiefsten meines Herzens, meiner Seele berührt hat, nämlich der Ruf Gottes. Und das meine ich nun völlig ernst.

Podium mit den sechs Diskussionsteilnehmern - Foto: © 2011 by Schattenblick

Podiumsdiskussion 7: Tahir Wadood Malik vom Pakistan Terrorism
Survivors Network, Frank Meeink, Director von Harmony Through Hockey
in den USA, Jared Cohen von Google Ideas (Moderator), Abu Muntasir,
Gründer von der britisch-islamischen Gruppe JIMAS, Rudy Corpuz jun.
und Imam Muhammed Sani Isa vom Interfaith Mediation Centre in Nigeria
Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Wie kam es dazu?

RCj: Es war die Liebe. Ich habe die Liebe entdeckt. Jemand hat mich zu Gott geführt und es wirkte stärker als jeder Drogenrausch auf mich.

SB: Aber wie hat die göttliche Botschaft dich damals überhaupt erreichen können?

RCj: Ich steckte damals voll in der Scheiße. Ich stand praktisch mit dem Rücken an der Wand. Ich lebte in Dunkelheit. Mich interessierte es nicht, ob ich lebe oder sterbe. Mir hat jemand Jehovah offenbart und es war, als ginge das Licht bei mir wieder an. Es hat mich zutiefst berührt.

SB: Du bist also einer religiösen Selbsthilfegruppe beigetreten?

RCj: Nein. Jemand hat mich einfach in die Kingdom Hall mitgenommen.

SB: Du meinst die Zeugen Jehovahs?

RCj: So ist es. Und ab diesem Moment habe ich angefangen zu lernen, wie man liebt. Ich sah meine Situation mit anderen Augen. Obwohl ich viel Gangsterscheiß gemacht habe, war ich niemals ein Gangster.

SB: Wie ist diese Unterscheidung zu verstehen? Du hast gerade eben von dem Gangsterleben berichtet, das du geführt hast, und willst dennoch kein Gangster gewesen sein; wie soll das gehen?

RCj: Laß mich dir das erklären. Ich habe Sachen gemacht, wo ich nicht ich selbst war. Ich stand unter dem Einfluß der Drogen, des Geldes und der Macht. Ich hatte eine Identität angenommen, die nicht meinem wahren Ich entsprach. Es bedurfte Gott, um mich zu mir selbst zurückzuführen. Ich war mit einer besonderen Gabe geboren - wie du es bist und es alle Menschen sind -, und mußte dies nur erkennen. Überlege mal - G steht für Gott, G steht für Gangster und G steht für Gabe. Da sieht man, wie doch alles zusammenpaßt. (lacht herzlich)

SB: Die Logik ist bestechend. (lacht ebenfalls herzlich) Die Nummer verkaufst du nicht das erste Mal. (lacht)

RCj: (lacht) Dein Name fängt nicht zufällig mit G an? (lacht)

Rudy Corpuz jun. auf der Projektionsleinwand - Foto: © 2011 by Schattenblick

Rudy Corpuz jun. auf dem Projektionsleinwand
© 2011 by Schattenblick

SB: Hast du nach den ersten Erfahrungen mit den Zeugen Jehovahs -

RCj: Übrigens, es war eine Frau, die mich zu ihnen führte.

SB: - von einem Moment zum anderen mit dem Gangsterleben aufgehört oder vollzog sich das über einen gewissen Zeitraum?

RCj: Es war keine Sache, die einfach über Nacht geschah. Es war nicht so, als lernte ich die Zeugen Jehovahs kennen und hätte mich daraufhin von meinem bisherigen Leben verabschiedet. Ich war immer noch voll im Geschäft. Eine Zeitlang führte ich eine Dr.-Jekyll-und-Mr.-Hyde-Existenz: der fromme Christ am Tage und der Straßenräuber in der Nacht. Der Unterschied war, daß ich nun Gewissensbisse hatte. Ich spürte Mitleid. Ich fühlte mich seelisch unwohl, denn ich war gespalten. Nach einer Weile ging ich nicht mehr zu den Zeugen Jehovahs, denn es gab Dinge in ihrer Lehre, die mir nicht einleuchteten oder die ich nicht akzeptieren konnte. Als mir jedoch klar wurde, daß es einen Gott gibt, habe ich mich wieder meinem christlichen Glauben aus der Kindheit zugewandt. Das hat mir sehr geholfen. Dadurch bin ich auf eine andere Ebene des Verstands und des Verhaltens gelangt.

Als ich 1993 aus dem Gefängnis entlassen wurde, habe ich begonnen, Kinder, die aus ähnlichen Verhältnissen wie ich stammen, zu betreuen. Zuletzt hatte ich wegen Körperverletzung gesessen. Ich wußte, daß ich etwas unternehmen mußte. Ich mußte befürchten, bei einer erneuten Verurteilung für lange Jahre hinter Gittern zu verschwinden. Und das wollte ich auf gar keinen Fall. Nach der Entlassung aus dem Knast hat mein Bewährungshelfer mir eine Stelle besorgt, wo ich mit Kindern arbeiten und gleichzeitig studieren konnte. Da habe ich sofort zugegriffen. Da sagte ich mir, "Lieber arbeite ich mit einem Haufen Frauen an der Schule zusammen, als mit einem Haufen Typen im Knast zu sitzen". (lacht)

SB: Da scheint dir die Entscheidung leicht gefallen zu sein. (lacht)

RCj: Hättest du die Wahl zwischen Fleisch vom Grill oder Haferbrei gehabt, wie hättest du dich entschieden? (lacht)

SB: Keine Frage. (lacht)

Rudy Corpuz jun. - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

RCj: Ich fing also an, die Dinge immer besser zu begreifen. Ich nahm an einem Programm namens Extended Opportunity Programs and Services (EOPS) teil, das entlassenen Straftätern bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft helfen sollte.

SB: Wurde es vom Bund oder vom Staat Kalifornien finanziert?

RCj: Ich glaube, es war ein Bundesprogramm. Jedenfalls, als ich damals am San Francisco City College studierte, habe ich von einer Stelle im Rahmen des EOPS erfahren, wo sie ein ehemaliges Philipino-Gangmitglied suchten. Da dachte ich sofort: "Mensch, ich bin Philipino und war in einer Gang - die Stelle ist für mich!" Also ging ich zu dem Gemeindezentrum in Bernal Heights in San Francisco. Das ist ein anderes Viertel als dasjenige, wo ich aufgewachsen bin. Bei dem Interview stellte man mir nur zwei Fragen: erstens, ob ich gesessen hatte - das sagte ich ja - und zweitens, ob ich Philippinisch sprach - da habe ich ebenfalls ja gesagt, obwohl es eine Lüge war. Da bekam ich gleich den Posten. Das war 1994. Springen wir ins Jahr 2011, da bin ich inzwischen Exekutive Director einer Initiative, die auf der Straße entwickelt wurde und die United Playaz heißt. Es gibt sie inzwischen auf der ganzen Welt, aber sie hat damals angefangen und wurde von einfachen Leuten ins Rollen gebracht. Ich habe mich lediglich daran beteiligen und meine Ideen einbringen dürfen. Und die Players bzw. Playaz, von denen hier die Rede ist, sind Leute, die etwas Positives und Produktives für die Menschen in ihren Gemeinden und Nachbarschaften leisten.

SB: Warst du an der Gründung dieser Organisation beteiligt oder gab es sie bereits, als du 1994 die Stelle als Jugendbetreuer/Straßenarbeiter in Bernal Heights angenommen hast?

RCj: Nein, es gab sie damals nicht. Sie entstand sozusagen als Reaktion auf einen Konflikt, der damals unter Schülern an der Balbao High School in San Francisco ausgebrochen war. Das war eine der Schulen, wo ich Jugendliche betreute. Angesichts der prekären Lage habe ich die Mitglieder der beiden sich streitenden Gangs aus Latinos und Schwarzen an einen Tisch gesetzt und sie knallhart gefragt: "Was können wir tun, um der Gewalt ein Ende zu setzen?" Ihre Antworten waren der Grundstein für die United Playaz. Aus dem Beton ist eine Rose gebrochen. Ich war nur zufällig dort. Die Idee kam von den Leuten selbst. 2002 bin ich zu meinem Chef in Bernal Heights gegangen und habe ihn gefragt, ob wir diese Initiative, mit der wir an der Balbao High School angefangen hatten, auf andere Viertel übertragen könnten. Denn sie hatte eine positive Wirkung nicht nur für die Schule, sondern auch auf der Straße und in der Nachbarschaft. Uns war es gelungen, die Gangster-Gewalt einzudämmen. Ich bekam also grünes Licht und habe die United-Playaz-Initiative in meine alte Heimat, South of Market, gebracht.

SB: Kam sie dort auch gut an?

RCj: Aber hallo. Die ging ab wie eine Rakete. (lacht)

SB: (lacht ebenfalls)

RCj: Inzwischen habe ich 11 Mitarbeiter, darunter welche, die ich im Knast kennengelernt hatte. Da sind Leute dabei, die lange Jahre, viel länger als ich, gesessen haben. Sie sind jetzt wieder in den Vierteln unterwegs, die wir früher zugrunde gerichtet haben, und versuchen sie wieder aufzubauen. Dabei kommen uns unsere Erfahrungen vom damaligen Schlachtfeld zugute. Wir sind für die Jugendlichen von heute glaubwürdig.

SB: Der ehemalige Crips-Anführer "Monster" Kody Scott hat jedoch in seiner aufsehenerregenden, 1993 erschienenen Biographie berichtet, daß ihm die Behörden Hindernisse in den Weg gelegt haben, als er versuchte, in Los Angeles das gegenseitige Abschlachten der Gangs zu unterbinden und die Menschen in den schwarzen Armenvierteln politisch zu organisieren. Er ist zu der Überzeugung gelangt, daß es Kräfte staatlicherseits gab, die sich kein Ende der Gangsterumtriebe wünschten, weil für sie die Gangs einen Hebel darstellten, um die Minderpriviligierten sowohl im zivilen Leben wie auch in den Gefängnissen im Sinne des Teilens und Herrschens gegeneinander auszuspielen.

RCj: Damit lag "Monster" Kody Scott ganz richtig. Und diese Politik setzt sich bis heute fort. Bringen wir es mal auf den Punkt. Die größte Gang von allen ist die Polizei. Gäbe es keine Gangsterkriminalität, wären die meisten Polizisten arbeitslos. Sie manipulieren die Szene, legen Leute rein, schieben ihnen Sachen unter, um die Dinge in ihrem Sinne zu lenken. Bei United Playaz wissen wir darüber Bescheid. Wir sind auch deshalb in der Lage, die Jugendlichen über dieses schmutzige Spiel aufzuklären und sie vor den Gefahren zu warnen. Wir stellen sie vor die Frage: "Wer sind eure wirklichen Feinde? Die meisten Leute, mit denen ihr euch anlegt, haben die gleiche Hautfarbe wie ihr, stammen aus denselben Vierteln und schlagen sich mit den gleichen Problemen wie Armut und soziale Benachteiligung wie ihr herum".

SB: Also wollt ihr mit eurer Arbeit Solidarität und Zusammenhalt unter den Leuten fördern?

RCj: So ist es. Einheit - daher der Name United Playaz.

Rudy Corpuz jun. - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Siehst du keinen Widerspruch zwischen deinem Engagement an der Basis und der Teilnahme an einer Konferenz, die vom Weltkonzern Google und dem New Yorker Council on Foreign Relations, der klassischen Denkfabrik des New Yorker Geldadels, organisiert wird?

RCj: Natürlich stehe ich dem Ganzen, allen voran den Motiven der Gastgeber, skepktisch gegenüber. Gleichwohl habe ich das Gefühl, daß sie uns mehr brauchen als wir sie. Sie wären ganz blöd, wenn sie warteten, bis jemand aus der eigenen Familie auf der Straße umgenietet wird, um zu kapieren, daß sie unsere Hilfe benötigen.

SB: Das erinnert mich an ein Gespräch, das ich heute im Anschluß an die erste Diskussionsrunde mit dem Vorsitzenden einer New Yorker PR-Firma führte, der als Freund von Jared Cohen, dem Hauptorganisator der Konferenz, anwesend ist. In Reaktion auf die für ihn beunruhigenden Schilderungen der Verhältnisse in einigen westlichen Großstädten sagte er mir: "Ich will nicht, daß solche Kerle bei uns in der Nachbarschaft auftauchen und meine Kinder töten".

RCj: Siehst du, genau das meine ich. Die Gewalt auf der Straße greift wie eine Epidemie um sich. Sie ist überall. Deswegen ist es wichtig, daß gerade solche Leute zu hören bekommen, wie es bei uns aussieht. Ich denke mir, daß das hier Teil von Gottes Plan ist. Selbst wenn die auf der Konferenz von Google und dem CFR erweckten Erwartungen nicht in Erfüllung gehen sollten, so bin ich doch mit einigen recht interessanten Aktivisten zusammengekommen und habe mit ihnen wichtige Erfahrungen austauschen können. Und laß mich dir eines zum Schluß sagen - Reisen ist auch eine wunderbare Form von Bildung. Ich hätte jede Menge über Irland lesen können, aber persönlich hier zu sein und das Land zu sehen und zu erleben, ist eine ganz andere Sache.

SB: Rudy Corpuz jun., vielen Dank für das Gespräch.

Das neue Congress Centre in Dublin, rechts davon die neue Samuel-Beckett-Brücke über den Liffey und dahinter die teuerste Bauruine Irlands, das Skelett des einst geplanten Hauptquartiers der inzwischen Pleite gegangenen Anglo Irish Bank - Foto: © 2011 by Schattenblick

Das neue Congress Centre in Dublin, rechts davon die neue
Samuel-Beckett-Brücke über den Liffey und dahinter die teuerste
Bauruine Irlands, das Skelett des einst geplanten Hauptquartiers der
inzwischen Pleite gegangenen Anglo Irish Bank
Foto: © 2011 by Schattenblick

15. Juli 2011