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INTERVIEW/017: "Aggressiver Euro-Imperialismus" - Rainer Rupp zu Europas Säbelrasseln (SB)


Interview mit Rainer Rupp in Berlin-Mitte am 10. März 2012


Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Rainer Rupp
Foto: © 2012 by Schattenblick

Der Diplom-Volkswirt und Publizist Rainer Rupp war unter dem Decknamen Topas als Spion für die DDR und den Warschauer Pakt tätig. Zwölf Jahre lang lieferte er Informationen aus dem Inneren der NATO an den Auslandsgeheimdienst der DDR. Wie er geltend macht, sei durch seine Spionagetätigkeit 1983 ein Nuklearkrieg verhindert worden. Anläßlich der NATO-Übung Able Archer 83 wurde die Sowjetarmee 1983 in Alarmbereitschaft versetzt, doch konnte die Führung der DDR auf Basis der Informationen, die sie von Rupp erhalten hatte, Moskau beruhigen, daß kein Angriff bevorstehe. Am 30. Juli 1993 wurden er und seine Ehefrau verhaftet und 1994 vom Oberlandesgericht Düsseldorf zu zwölf Jahren bzw. zu 22 Monaten Gefängnis verurteilt. Am 27. Juli 2000 wurde Rupp aus der Haft entlassen. Am Rande des Symposiums "Aggressiver Euro-Imperialismus" [1] in der Ladengalerie der Tageszeitung junge Welt beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Schattenblick: Die Europäische Union strebt erklärtermaßen danach, in der Außenpolitik eigenständig militärisch wirksam zu werden. Es gibt andererseits innerhalb der EU Staaten wie Großbritannien oder Frankreich, die allein oder gemeinsam militärisch in die Offensive gehen. Welche Widerspruchslage zwischen einer gemeinsamen EU-Außenpolitik und den Partialinteressen einzelner Länder tritt dabei zutage?

Rainer Rupp: In der Europäischen Union ist die militärische Dimension schon recht weit gediehen. Es gab verschiedene EU-Interventionen insbesondere in Afrika, in einem Jahr sogar sieben verschiedene Interventionen mit kleineren oder größeren Kontingenten. Prinzipiell hat es in dieser Zeit keine großen Widersprüche bei diesen Operationen gegeben. Als sie stattfanden, herrschte eine gewisse Aufbruchstimmung, da man der Ansicht war, daß jetzt auch die Europäische Union einen bewaffneten Arm habe und wir Europäer nun auf Augenhöhe mit den Amerikanern operieren könnten. Man darf nicht vergessen, daß die Hauptstoßrichtung dieser Interventionen stets Afrika war, wo ja der europäische Kolonialismus schon einmal gewütet hat und auch in der Phase der Dekolonisierung diesen Kontinent nie ganz aus seinen Klauen entlassen hat. Seither gibt es zwischen der NATO und der EU eine Art Abkommen, das die Europäer als ehemalige Kolonialmächte federführend für Afrika macht und den größeren Mittleren Osten als Spielfeld den Amerikanern beläßt, wobei der eine natürlich dem anderen hilft. Die Europäer müssen eingestehen, daß sie leider noch nicht über die Schlagkraft und Kapazitäten verfügen, die die NATO hat. Diese wiederum hat sie hauptsächlich, weil die Amerikaner mit im Boot sind.

SB: Die Vereinigten Staaten verfügen nicht nur über die größten finanziellen Ressourcen, sondern auch über die höchstentwickelte Waffentechnologie. Woher rührt diese Überlegenheit?

RR: Die Amerikaner haben sofort nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang den Kalten Krieg fortgeführt und stets gigantische Summen in die militärische Forschung, Entwicklung und in Waffentests investiert. Das könnten die Europäer selbst wenn sie wollten gar nicht nachholen. Man muß sich nur einmal vergegenwärtigen, daß die Vereinigten Staaten insgesamt eine Billion Dollar jährlich für ihre Rüstung, ihre Operationen, kurz für alles, was mit dem Militär zusammenhängt, ausgeben. Das betrifft nicht nur die Kriege, die in einem Extrabudget aufgeführt werden. Es kommen vielmehr noch diverse anderen Ausgaben dazu, wie jene für die 16 Geheimdienste, von denen die meisten gegen das Ausland gerichtet sind. Nach jüngsten Schätzungen, die durchgesickert sind, ist allein dieser Etat während der Bush-Administration von 30 auf über 60 Milliarden Dollar gestiegen. Dann kommen noch die Ausgaben für die Nuklearwaffen hinzu, die man nicht im Verteidigungshaushalt, sondern beim Energieministerium findet. Außerdem Zahlungen für die Kriegsversehrten - ein großer Posten und ein direktes Resultat der militärischen Interventionen -, die man ebenfalls nicht im Haushalt des Pentagon findet. Wenn man das alles zusammenzählt, sind es, wie gesagt, eine Billion Dollar.

Es ist natürlich unvorstellbar für Europa, derartige Summen für die militärische Forschung, Entwicklung und dann natürlich die Beschaffung dieser Rüstungsgüter aufzuwenden. Dafür ist die sozioökonomische Struktur der europäischen Länder gar nicht ausgelegt. Dann hätten wir wirklich eine Revolution, wenn wir in dieser Situation in Europa auf viele Jahre hinaus soviel ausgeben würden, und dabei würde das ja nicht einmal reichen, um mit den Amerikanern gleichzuziehen. Diese verfügen über Voraussetzungen wie etwa eine entsprechende Infrastruktur, auf die sie aufbauen können, während etwas Entsprechendes in Europa erst noch geschaffen werden müßte. Wir müßten also im Grunde doppelt soviel ausgeben, um in zehn oder zwanzig Jahren mit den Amerikanern gleichzuziehen. Das kann man vergessen, das würden bei uns selbst die konservativen Politiker nicht mitmachen, weil ihnen dann die Wähler davonlaufen würden.

SB: Es gibt in Europa einerseits Übereinkünfte etwa in Form gemeinsamer Rüstungskonzerne oder einer partiellen Zusammenarbeit wie jener der Briten und Franzosen, die bestimmte Militärprojekte aus Kosten- und möglicherweise auch Bündnisgründen zusammen betreiben, und andererseits auch Rivalitäten und Spannungen, da beispielsweise die Briten bekanntlich stets auf seiten der Amerikaner mitgezogen sind, die Franzosen zumindest in der Vergangenheit nicht unbedingt.

RR: Es hat schon während meiner Zeit in der NATO viele Spannungen gegeben. Die NATO hatte ja eine eigene Rüstungsabteilung - sie war aufgeteilt in vier Abteilungen, und eine war speziell für gemeinsame Rüstungsprojekte zuständig -, und da hat es immer wieder gekracht. Zum einen ging es darum, daß die Europäer nicht mehr am Rüstungstropf der Amerikaner hängen wollten, weil sie darauf bedacht waren, ihren eigenen militärisch-industriellen Komplex auf den modernsten Stand der Technik zu bringen. Wenn man nur von den Amerikanern kaufte, wurde man bald abgehängt. Daher wurden zuerst Abkommen geschlossen, die vorsahen, daß zumindest ein Teil der Rüstungsprodukte, die man in den USA gekauft hat, wenigstens in Europa produziert wurde. Dadurch lernte man dies und jenes dazu, was nicht unbedingt für Deutschland galt, das noch genügend Erfahrung besaß, aber in anderen Ländern doch häufig der Fall war. Später wurden dann gemeinschaftliche Projekte durchgeführt wie beispielsweise das Multi Role Combat System, aus dem schließlich der Tornado wurde. Dieses Projekt wurde in verschiedenen Ländern ausgeführt, allerdings nicht in Frankreich, sondern mit Großbritannien und einigen andern europäischen Ländern.

Durch dieses Verfahren kam es jedoch zu absurd anmutenden Phänomenen wie jenem, daß beispielsweise ein britischer Tornado, obgleich er im Prinzip auf einer gemeinsamen Konstruktion beruhte, nicht auf einem Flughafen der Bundeswehr landen und aufmunitioniert oder schnell betankt werden konnte, weil die erforderlichen Verschlüsse und Haken unterschiedlich waren. Jedes Land bestand darauf, möglichst viel an diesem Flugzeug selbst zu bauen. Im Prinzip war es das gleiche, da man sich die Forschung und Entwicklung geteilt hatte, aber danach wurde alles selbst und teilweise eben recht unterschiedlich gemacht. Hinzu kam natürlich die Sorge um den Export. Je teuerer diese Systeme wurden, um so weniger konnte man allein produzieren, weshalb man schon wegen des Kostendrucks genötigt war, auf gemeinsame Produkte auszuweichen. Die Forschungs- und Entwicklungskosten, die ja bei solchen Waffensystemen extrem hoch sind und nachher auf die Stückzahl umgerechnet werden, konnten verringert werden, indem man einen Export dranhängte. Deshalb legen alle Beteiligten so großen Wert darauf, ihre neuen Rüstungsgüter auch auf dem Weltmarkt unterzubringen, weil das die Beschaffung dieser Systeme zu Hause billiger macht und man das Geld, das im Militärhaushalt bei solchen Produkten gespart wird, für andere Rüstungsvorhaben einsetzen kann.

SB: Gibt es europäische Exportbeschränkungen genereller Art indem man beispielsweise verfügt, daß bestimmte Länder Waffen aus europäischer Produktion prinzipiell nicht bekommen dürfen?

RR: Diese Beschränkungen gibt es natürlich. Nicht beliefert werden die "bösen" Diktatoren und Autokraten, die man von den "guten" wie etwa Saudi-Arabien unterscheidet, die reichlich mit Rüstungsgütern ausgestattet werden.

SB: Griechenland weist als Hauptabnehmer deutscher Rüstungsgüter einen vergleichsweise hohen Militäretat auf. Auf der einen Seite übt man Druck auf Athen aus, die Staatsausgaben drastisch zu reduzieren, während man auf der anderen Seite die griechische Regierung dazu nötigt, milliardenschwere Rüstungsgeschäfte abzuwickeln. Woher rührt das Interesse, wenn man einmal von wirtschaftlichen Erwägungen absieht, daß Griechenland einen derart hohen Rüstungsstand hält?

RR: Das ist kein Interesse der NATO, sondern eines Griechenlands, weil es den "Bündnispartner" Türkei zum Nachbarn hat. Zwischen diesen beiden Ländern, die ja auch schon einmal kurz vor dem Krieg gegeneinander standen bzw. auch schon einen Stellvertreterkrieg auf Zypern geführt haben, herrscht nach wie vor großes Mißtrauen. Diese hohen Rüstungsausgaben und die starke Bewaffnung der griechischen Streitkräfte - Griechenland hat 1.600 Panzer und damit mehr als die Bundeswehr - sind einzig und allein dem "Bündnispartner" Türkei geschuldet.

SB: Griechenland hat in der Vergangenheit schon mehrfach einen Militärputsch erlebt. In jüngerer Zeit verdichteten sich Hinweise, daß erneut eine Machtübernahme der Militärs drohe. Wäre es darüber hinaus denkbar, daß im Falle einer griechischen Politik, die versuchte, sich dem Spardiktat zu entziehen, eine europäische Intervention in Griechenland stattfinden könnte?

RR: Einen Militärputsch in Griechenland gegen die EU kann ich mir nicht vorstellen. Dafür sind die Militärs zu konservativ und eingebunden. Denkbar wäre allenfalls ein Putsch zugunsten der EU, so daß diese nicht zu intervenieren bräuchte. Eine Intervention von außen kann ich mir ebenfalls nicht vorstellen, weil es dann ja im Falle fehlender Absprache mit den griechischen Militärs zum Krieg käme. Dafür reichten dann auch nicht einige wenige Flugzeuge aus, man müßte vielmehr eine große Invasion starten. Das kann man meines Erachtens ausschließen.

SB: Die Amerikaner haben seit Jahrzehnten ein starkes Interesse, in der Türkei Präsenz zu zeigen. Ist die Türkei militärisch gesehen eher ein Verbündeter der Europäer oder einer der USA?

RR: Die Türkei war im Grunde immer nur ein Verbündeter der USA. Sie wurde damals "Der eiserne Wächter am Bosporus genannt", als es gegen die Sowjetunion ging. Nach deren Zerfall wurde die Türkei als moderner islamischer Staat, als "Leuchtturm" für die Vereinbarkeit von Islam und westlich orientierter Modernität, gesehen, der in die arabische Welt strahlt. Das ist heute doch etwas anders. Die Türkei ist dem amerikanischen Plan schon auf verschiedene Weise aus dem Ruder gelaufen insbesondere seitdem die islamische Partei an die Macht gekommen ist. Seither vertritt die Türkei stärker nationale Interessen als früher. Zuvor gab es zwar auch schon ausgeprägte nationale Interessen, doch hing das Land am Tropf der Amerikaner sowie des Internationalen Währungsfonds und drohte mehrere Male wirtschaftlich komplett abzustürzen. Ich gehörte damals einer Delegation an, die nach Ankara fuhr, um geeignete Argumente zu sammeln, die man dann dem IWF präsentieren konnte, damit er weitere Gelder freisetzte, so daß die Türkei liquide blieb und nicht in den Staatsbankrott abrutschte. Dabei überwogen natürlich die Sicherheitsinteressen das NATO-Bündnisses.

Heute ist die Türkei ein boomender Wirtschaftsfaktor und macht ihre eigenständige Politik insbesondere gegenüber dem Iran und bis vor kurzem auch gegenüber Syrien. Gegenüber Syrien hat sie eine etwas seltsame Kehrtwende vollzogen, die man noch nicht mit letzter Sicherheit erklären kann. Ich kann nur vermuten, daß sich Ankara gerne als Führungsmacht des arabischen Frühlings gerieren möchte und davon mitreißen ließ. Andererseits spielt die religiöse Affinität wohl doch auch eine Rolle, weil Erdogan und die religiös beeinflußte Parteiführung, die in der Türkei die Macht hat, eine größere Nähe zu den Muslimbrüdern in Ägypten, Tunesien und wahrscheinlich auch in Syrien hat. Hinzu kommt, daß die Türkei befürchten muß, im Falle eines regelrechten Bürgerkriegs in Syrien von Flüchtlingen überlaufen zu werden. Da sind nun nicht immer Leute dabei, die sie gern willkommen heißen würden. Zudem gibt es an der türkisch-syrischen Grenze ein Gebiet, das immer noch von der Türkei beansprucht wird. Allein das sind schon genügend Gründe, die diese etwas undurchsichtige Position der Türkei erklären könnten. Andererseits fand eine erneute Kehrtwende Ankaras statt, das sich zuvor aggressiv präsentiert und ein sicheres Gebiet auf syrischem Boden, das von der türkischen Armee beschützt werden sollte, gefordert hat. Davon ist man jetzt wieder abgerückt. Offizielle Erklärungen, wie es zu diesem letzten Schwenk gekommen ist, liegen mir bislang nicht vor. Ich habe es nur hinter vorgehaltener Hand ohne nachprüfbare Quellenangaben, aber von Leuten, die sich in der Region auskennen und dorthin gute Beziehungen haben, gehört, daß die syrischen Sicherheitskräfte eine ganze Reihe von türkischen Geheimdienstoffizieren und Ausbildern gefangengenommen haben und damit drohen, das an die große Glocke zu hängen bzw. zur selben Zeit in Aussicht stellen, daß man sich gütlich einigen kann. Sollte das zutreffen, wäre es eine Erklärung für diese überraschende Entwicklung in der Türkei bezüglich dieser Interventionsabsichten.

SB: Herr Rupp, vielen Dank für dieses Gespräch.

Fußnote:

[1]‍ ‍BERICHT/005: "Aggressiver Euro-Imperialismus" ... im Labor neokolonialer Verfügungsgewalt (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0005.html

BERICHT/006: "Aggressiver Euro-Imperialismus" ... Risse im transatlantischen Pakt (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0006.html

BERICHT/007: "Aggressiver Euro-Imperialismus" ... Gemeinschaftswährung totgesagt (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0007.html

INTERVIEW/016: "Aggressiver Euro-Imperialismus" - Hannes Hofbauer zu Erinnerungsjustiz (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/euri0016.html

Rainer Rupp mit SB-Redakteur - Foto: © 2012 by Schattenblick

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4.‍ ‍Mai 2012