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INTERVIEW/025: Links der Linken - Der neue alte Klassenkampf, Winfried Wolf im Gespräch (SB)


Der Feind steht im eigenen Land

Interview am 30. November 2013 im Kulturzentrum zakk in Düsseldorf



Der Sozialist und Politikwissenschaftler Dr. Winfried Wolf ist publizistisch als Chefredakteur der Zeitung Lunapark21 und Mitherausgeber der Zeitung gegen den Krieg tätig. In diversen Büchern, als wissenschaftlicher Beirat von attac und der Bildungsgemeinschaft Salz, als Sprecher der Initiative Bürgerbahn statt Börsenbahn und als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Sabine Leidig engagiert er sich für eine menschen- und umweltfreundlichere Verkehrspolitik.

Im Rahmen der Tagung "Europa - Brauchen wir eine Alternative zu Euro und EU?", die am 30. November 2013 im Düsseldorfer zakk - Zentrum für Aktion, Kultur und Kommunikation GmbH stattfand, war Winfried Wolf einer der vier Podiumsteilnehmer des Workshops "Wege aus der Krise? Ist der Euro-Ausstieg die Lösung?" Gemeinsam mit Lucas Zeise (Frankfurt), Albert Reiterer (Wien), Sascha Stanicic (Berlin) wie auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Arbeitsgruppe diskutierte er entlang der Wegscheide, ob radikale Reformen der EU-Institutionen und eine koordinierte Wirtschafts- und Sozialpolitik die Zielsetzung oder vielmehr die Auflösung der Euro-Zone und Neugründung eines sozialen und demokratischen Europas die politische Stoßrichtung sein müsse.

Im Anschluß an diese Veranstaltung beantwortete Winfried Wolf dem Schattenblick einige Fragen.

Stehend im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Winfried Wolf mit SB-Redakteur
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Bei der Veranstaltung ist viel Kritik am Kurs der EU geübt worden, aber die Frage nach dem Plan hinter der europäischen Zentralisierungsstrategie und dem Ausbau administrativer Befugnisse blieb weitgehend ausgespart. Könntest du dir vorstellen, daß im Falle eines Scheiterns des Euro möglicherweise Entwicklungen auf politischem Wege eingeleitet werden mit dem unumkehrbaren Ziel, bislang souveräne Staaten in Protektorate zu verwandeln?

Winfried Wolf: Ich bin mir nicht sicher, ob es überhaupt eine herrschende Klasse in der Europäischen Union gibt, und ich bin mir auch nicht sicher, ob die zumindest herrschenden Kreise in der Union, also Banken, Finanz- und Wirtschaftskapital sowie die Regierungen der wichtigen Staaten, einen Plan haben. Mein Eindruck ist eher, daß die Krise in den Jahren 2007 bis 2009 völlig unvorbereitet auf diese Kreise getroffen ist und man aus dem Bauch heraus reagiert hat. Was momentan jedoch stattfindet, geht schon in die Richtung der Frage, nämlich daß faktisch in Zypern, Griechenland, Portugal und Irland sowie latent in Spanien eine Art Protektorat eingeführt wurde. Die Möglichkeit der portugiesischen, griechischen oder zypriotischen Bevölkerung, frei über die Geschicke ihres Landes zu bestimmen, ist ihnen weitgehend genommen worden.

Ich habe selber erlebt, daß in dem 700seitigen Papier, das den deutschen Abgeordneten im Bundestag im Januar 2013 vorgelegt wurde, als ein neues Hilfspaket für Griechenland zur Abstimmung stand, bereits alle Maßnahmen, die dann in Griechenland innerhalb der nächsten drei bis sechs Monate zu Rentenkürzungen und Entlassungen im Staatsbeschäftigtensektor beschlossen worden sind, dringestanden haben. Die Abgeordneten bekamen das Paket am Freitag und hatten zum Lesen der 700 Seiten gerade einmal drei Tage Zeit, denn am Montag fand schon die Abstimmung statt auf der Basis dessen, was die Griechinnen und Griechen durchsetzen müßten, da sie andernfalls keine weiteren Kredite erhalten würden. So ähnlich verhielt es sich beim letzten irischen Haushalt, der zuerst in Berlin der Bundesregierung und erst dann in Dublin der irischen Regierung bekannt war. Sofern trifft es zu, daß faktisch Protektorate geschaffen wurden. Und diese Entwicklung wird weitergehen, zumal dann, wenn ein großes europäisches Land, Stichwort Italien, von der Eurokrise erfaßt wird.

SB: Deutschland hat, unabhängig davon, wie die ursprünglichen Pläne für Europa und die Eurozone ausgesehen haben, in erheblichem Maße von der Krise profitiert. Könnte man sagen, daß die wirtschaftlich stärksten Euro-Länder in der Krise praktisch die Initiative ergriffen und sich im Sinne einer europäischen Machtkonzentration in eine Position gebracht haben, die sie vorher nicht hatten?

WW: Es ist schwer zu sagen, ob es dazu einen Plan gegeben hat. Originellerweise wurde unter einer Kanzlerin erreicht, was vorher Kanzler Schröder oder Kanzler Kohl nicht gelungen ist, nämlich die Hegemonie der deutschen Regierung, stellvertretend für das deutsche Finanz- und Wirtschaftskapital, durchzusetzen. Es ist keine absolute, aber eine quasi absolute Vorherrschaft in der Europäischen Union eingetreten, verursacht durch objektive Faktoren, wie eben die Tiefe der Krise an der Peripherie und umgekehrt die Stärke des deutschen Kapitals, die wiederum ein Produkt der Schröderschen Hartz-IV-Reformen war. Die Agenda 2010, die bereits im Jahr 2002 durchgesetzt wurde, hat zu fünf Millionen Hartz-IV-Beziehern, einer weitgehend stagnierenden Lohnentwicklung in Deutschland bei den Facharbeitskräften und einem Heer von ungefähr sieben Millionen Teilzeitkräften und prekär Beschäftigen geführt. Das war ein riesiger Vorteil für die deutsche Ökonomie. All das ist in den letzten vier, fünf Jahren während der Krise erreicht worden. Insofern kann man sagen, daß das deutsche Kapital und die deutsche Regierung als Sieger aus der Krise hervorgegangen sind und heute in der Europäischen Union weitgehend hegemoniale Macht ausüben.

SB: Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung fühlt sich trotz aller Verschlechterungen noch als am wenigsten von der Krise betroffen. Welche Argumente könnte die Linke gegen die Ratio des geringeren Übels ins Feld führen?

WW: Man muß tapfer sein und die Dinge beim Namen nennen, nämlich daß der relative Wohlstand in Deutschland letzten Endes der extremen Armut in Griechenland, Spanien, Portugal, Irland und zum Teil in Italien geschuldet ist. Da gibt es einen inneren Zusammenhang. Früher konnten diese Staaten durch die Abwertung der Landeswährungen, ob nun Drachme, Peseta, Escudo, Pfund oder Lira, ihre Volkswirtschaft konkurrenzfähig halten. Durch die Einführung des Euro war dies nicht mehr möglich. Hinzu kommt, daß Deutschland diese Märkte inzwischen weitgehend beherrscht. Wir als Linke stehen da vor einer schwierigen Aufgabe. Die Frage aus dem Publikum vorhin bei der Veranstaltung: Wie erklärt ihr dem deutschen Arbeiter, daß ihr die D-Mark wieder einführen und aufwerten wollt, wenn dadurch gleichzeitig die Exporte reduziert werden? steht stellvertretend für die Problematik. Solche Stimmen gibt es auch in der deutschen arbeitenden Bevölkerung, auch wenn sie nur ein minoritäres Segment darstellen. Darunter fallen Facharbeiter, die zum großen Teil gewerkschaftlich organisiert sind und in der klassischen Sprache von Lenin eine Art Arbeiteraristokratie bilden. Im Gegenzug haben wir heute ein Millionenheer von Leuten, die keine Stimme haben, in den Medien nicht vorkommen - außer vielleicht jetzt bei solchen Interviews -, und darunter leiden, als Hartz-IV-Empfänger auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Dazu gehören auch die alleinstehenden Mütter. Man muß bedenken, daß jedes achte oder neunte Kind in Deutschland in Armut lebt. Insofern bin ich sehr skeptisch, ob sich die deutsche Bevölkerung im ganzen wirklich als der Gewinner der Krisensituation sieht, und wenn doch, dann bestenfalls in einer abstrakten politischen Art und Weise, die gewisse Bezüge zum Kolonialismus aufweist und den Feind im armen rumänischen Arbeiter verortet, der hierher zum Arbeiten kommt, weil er in Rumänien nicht mehr vegetieren kann. Wir müssen klarmachen, daß der Feind für die rumänischen Beschäftigen und Arbeitslosen und der Feind für die deutschen Beschäftigten und Arbeitslosen der gleiche ist: das deutsche Kapital.

SB: Hieße das, den alten, vielzitierten Klassenbegriff im Grunde neu zu definieren?

WW: Neu und alt ist unerheblich, man müßte ihn auf jeden Fall aktualisieren und auch den Begriff der Arbeiteraristokratie aufgreifen. Ich erinnere nur daran, daß die britische Arbeiterklasse sich im vorletzten Jahrhundert durchaus als Nutznießer des britischen Imperialismus empfunden hat. Und im gewissen Sinne hatte sie recht damit, denn natürlich fallen, wenn das britische Empire die Welt beherrscht, auch einige Brosamen für die britische Arbeiterklasse ab. Das hat Marx und die Kampagne für den 10-Stunden-Bill nicht daran gehindert zu sagen, unser Feind steht im eigenen Land. Letzten Endes sind diejenigen, die uns Hartz-IV beschert haben, die die permanente Durchlöcherung von Sozialstandards und die fortgesetzte Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen betreiben, die für die Zerstörung des sozialen Netzes und der Kranken- und Rentenversorgung verantwortlich sind, die gleichen, die auch in Griechenland den Sozialabbau betreiben und den öffentlichen Dienst abbauen, nämlich das deutsche Kapital und die deutsche Bundesregierung, gestützt auf Lakaien in Portugal, Spanien und Griechenland, die mitmachen und daran verdienen.

SB: Winfried, vielen Dank für dieses Gespräch.

11. Februar 2014