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AGRAR/1369: Der Lissabon-Vertrag und die nächste Reform der Agrarpolitik (UBS)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 329 - Januar 2010
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

Zwischen Melancholie und Aufbruch
Der Lissabon-Vertrag und die nächste Reform der Agrarpolitik

Von Hannes Lorenzen


Der Lissabon-Vertrag ist ratifiziert. Das Europäische Parlament bekommt sein lang ersehntes Mitentscheidungsrecht in der Agrarpolitik. Die EU überwindet damit die jahrzehntelange undemokratische Praxis der Agrarministerräte, faktisch ohne parlamentarische Kontrolle Gesetze zu erlassen, die in allen Mitgliedsstaaten unmittelbar galten. Das ist ein großer Fortschritt für die Demokratie. Ob sich deshalb Rat und Parlament in den kommenden Jahren auf eine vernünftige Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik einigen können, ist deshalb noch nicht ausgemacht.

Demokratie will gelernt sein. Dafür lässt der angekündigte Reformfahrplan aber wenig Zeit. Das Parlament hat etwa 50 Prozent neue Mitglieder versammelt, die in der parlamentarischen Arbeit ihre Einflussmöglichkeiten erst ausloten müssen, um sie in Verhandlungen mit dem Rat zur Geltung bringen zu können. Die neue Kommission wird nach Prüfung durch das Parlament frühestens im Februar 2010 im Amt sein, aber ihre politischen Reformvorschläge schon im darauf folgenden Herbst vorlegen müssen. Anfang 2011 sollen die neuen finanziellen Rahmenbedingungen für den Zeitraum 2013 bis 2018 zur Debatte stehen, was die Auseinandersetzungen über die neue Geldverteilung vor die politische Reformdebatte schieben dürfte.

Es ist also damit zu rechnen, dass gängige Parolen wie: "Die Landwirtschaft hat genug Geld aus Brüssel gehabt, nun sind andere Bereiche dran", die Verhandlungen über die Mittelzuteilung bestimmen, bevor die politischen Ziele und Instrumente überhaupt Gestalt angenommen haben. Wenn es keine klaren Vorstellungen gibt, wofür die Agrargelder verwendet werden sollen und wie sie gegenüber der Gesellschaft zu rechtfertigen sind, nützt es auch nichts, dass dank Lissabon-Vertrag auch der gesamte Agrarhaushalt vom Parlament mit entschieden wird.

Hinzu kommt, dass angesichts der allgemeinen Wirtschaftskrise, der rasanten Neuverschuldung der Mitgliedsstaaten und der schleichenden Europamüdigkeit die nationalen Regierungen nicht gerade davon angetan sind, die Beitragszahlungen an Brüssel aufrecht zu erhalten, geschweige denn zu erhöhen. Der alte und neue Kommissionspräsident Barroso verkörpert von daher die buchhalterische Verwaltung der begrenzten Möglichkeiten, vergleichbar mit den Kompromisskandidaten van Rompoy und Ashton als Ratspräsident und hohe Vertreterin der gemeinsamen Außenpolitik.

Von Aufbruchstimmung wie vor knapp zehn Jahren beim Verfassungskonvent ist in Brüssel jedenfalls zur Zeit nichts zu spüren. Vorherrschend ist eher eine Art Melancholie (portugiesisch tristeza, sprich: trischtessa), was aber noch nicht auf die Volkskrankheit Depression hinweist. Man richtet sich vielmehr auf Trippelschritte bei den anstehenden Reformen ein und wartet ab, wie viel Energie die Mitgliedsstaaten nach Anschieben ihrer diversen Wachstumsbeschleunigungsgesetze noch haben, um sich Europa zuzuwenden.

Einziger Lichtblick aus agrarpolitischer Sicht dürfte derzeit die Benennung des Rumänen Dacian Ciolos zum designierten Agrarkommissar sein. Ihm wird wegen seines Agrarstudiums in Frankreich und seiner Erfahrung als Landwirtschaftsminister in seinem Heimatland aus verschiedenen politischen Lagern Kompetenz bescheinigt. Er hat die Unterstützung der Konservativen und der Sozialisten im Parlament und die besondere Aufmerksamkeit Frankreichs. Dass Frankreichs Präsident Sarkozy ihn öffentlich als zweiten französischen Kommissar feierte, dürfte dagegen die Gegner seiner Kandidatur beflügeln. Die Befürworter einer Fortsetzung der Marktliberalisierung wie die Regierungen der Niederlande, Großbritanniens und die skandinavischen Länder werten seine Benennung als U-Boot französischer Interessen: mehr Marktregulierung und Erhaltung des Status quo.

Wie weit sich Ciolos aus der Umarmung seiner Unterstützer und den Attacken seiner Gegner - vor allem aber aus den Kontrollzwängen Barrosos - befreien kann, wird davon abhängen, wie viel Mut er aufbringt, seine Überzeugungen in politische Vorschläge zu fassen, die nicht nur agrarpolitisches Neuland betreten, sondern auch Aussicht auf politische Mehrheiten haben. Er stammt aus einem Land, in dem noch 60 Prozent der Bevölkerung von der Landwirtschaft leben und darunter Viele von der Subsistenz. Er kennt die extremen Gegensätze zwischen Gebieten mit agrarindustriellen Strukturen und Regionen, in denen bäuerliche Landwirtschaft ums Überleben kämpft. Er will tatsächlich mehr Marktregulierung gegen die Preisschwankungen, bessere ländliche Entwicklungsprogramme, mehr LEADER Förderung und mehr agrarkulturelle Vielfalt. Er will trotz Zulassung von GVOs während seiner Ministerzeit in Rumänien gegen GVOs in der Landwirtschaft sein. Der Teufel steckt wie immer im Detail.

Wenn Ciolos die letzte Hürde zum Amt des Agrarkommissars nach Anhörung im Parlament nimmt, und seine Vorstellungen zur nächsten Agrarreform in die richtige Richtung weisen, wird er Unterstützung von einer breiten Koalition von Verbänden brauchen, um die Brüsseler "tristeza" zu überwinden. Ein vielstimmiges Konzert der Einzelinteressen, wie es sich in verschiedenen Mitgliedstaaten und zwischen den Verbänden andeutet, wird da wenig hilfreich sein. Es macht Sinn, sich quer zu den Verbandsinteressen frühzeitig europaweit zu organisieren und im Frühjahr mit konkreten Forderungen europaweit sichtbar zu sein.

Der Lissabon-Vertrag ist keine Eintrittskarte für gelebte Demokratie. Ein neuer Kommissar ist keine Garantie für vernünftige Reformvorschläge. Kämpferische europaweite Zusammenarbeit quer zu den traditionellen Interessen-Vertretungen ist die beste Vorsorgemaßnahme gegen kollektive Depression.


Hannes Lorenzen, Berater im Ausschuss für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung im europäischen Parlament und Moderator verschiedener europäischer Netzwerke


Dacian Ciolos

geboren 27. Juli 1969 in Zalau (Rumänien)
Abschluss 1994 als Diplom-Gartenbauingenieur
1995 - 1996 Vertiefungsstudium "Produktionstechnik und ländliche Entwicklung", Ecole Nationale Supérieure Agronomique (Ensar) in Renne, Frankreich.
1995 war er Gründungsmitglied der Bauernorganisation ARGOECOLOGI.
13-monatiges Praktikum beim Regionalverband der Biobauern in der Bretagne.
2000 bis 2001 war er am Nationalen Institut für agrarwissenschaftliche Forschung - INRA in Montpellier
Von 2002 bis 2003 Tätigkeit bei der EU-Delegation in Rumänien als Task-Manager für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung
Seit Januar 2005 arbeitete er im rumänischen Ministerium für Landwirtschaft, Forsten und ländliche Entwicklung, von Oktober 2007 bis Dezember 2008 bekleidete er das Ministeramt im Kabinett Tariceanu II.
2009 Kommissar für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung für die Europäische Kommission Barroso II

Als Kabinettschef benennt Ciolos den Österreicher Georg Häusler. Dass die Wahl auf einen Österreicher fiel, lässt hoffen, dass in der Arbeit des Kabinetts auch die Belange einer bäuerlichen Landwirtschaft Berücksichtigung finden.

(Quelle: Wikipedia und top agrar)


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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 329 - Januar 2010, S. 12
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft - Bauernblatt e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2010