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ENERGIE/064: Die Kohle ist tot... Es lebe die Kohle? (research*eu)


research*eu Sonderausgabe - März 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Die Kohle ist tot... Es lebe die Kohle?

Von Julie Van Rossom


Durch den Höhenflug der Öl- und Gaspreise erfährt der Kohleverbrauch heute weltweit einen starken Aufschwung. Eine Tendenz, die in China und in Indien besonders deutlich sichtbar ist, wo der explosionsartige Anstieg der Energienachfrage durch ein Überangebot an Kohle aufgefangen werden kann. Jedoch ist es ein schwieriges Unterfangen, die demografische und wirtschaftliche Entwicklung der Schwellenländer und die unausweichlichen Zwänge im Zusammenhang mit der globalen Erderwärmung und der Energiesicherheit in Einklang zu bringen.


Entsprechend dem Referenzszenario des Weltenergieausblicks 2007 der Internationalen Energieagentur (IEA) - ganz besonders im Hinblick auf China und Indien - soll der weltweite Kohleverbrauch zwischen 2004 und 2030 um 74 % steigen. Die weltweiten Reserven betragen heute 998 Mrd. Tonnen. Mit dieser Menge könnte der ganze Planet während der nächsten 160 Jahre ausreichend mit Energie versorgt werden. Kohle wird zwar außer in der Antarktis auf allen Kontinenten in mehr als 100 Ländern abgebaut, jedoch befinden sich zwei Drittel der Minen in nur vier Ländern. Die USA verfügen mit 27 % der weltweiten Reserven über die größten Lagerstätten, gefolgt von Russland (17 %), China (13 %) und Indien (10 %). 2004 stammten 66 % der Weltproduktion aus diesen vier Ländern, und zwei Drittel der 2005 geförderten 5,9 Mrd. t Kohle waren für die Energieerzeugung bestimmt.


Die Explosion der Energienachfrage

Sie kommt wie gerufen für die energiehungrigen Länder Indien und China, die auf diese Weise ihre Industrie und ihr Stromnetz ausbauen können. Laut einer Prognose der IEA wird in Indien die Anzahl der Menschen mit Zugang zu Elektrizität zwischen 2005 und 2030 von 62 % auf 96 % ansteigen, was bedeutet, dass das Land seine Produktionskapazitäten verdreifachen muss. "Laut dieser Prognose müssen bis 2030 weitere 700 GW in das indische Stromnetz eingespeist werden, von denen 60 % aus Kohle erzeugt werden", erklärt N. N. Gautam, ein ehemaliger Experte im indischen Kohleministerium. Die Energieziele Chinas sind noch beeindruckender: Nicht weniger als 1.300 GW - das entspricht der gesamten Energiekapazität der USA! - müssen im gleichen Zeitraum zusätzlich eingespeist werden, um die Nachfrage zu befriedigen. Die Kohlekraftwerke werden mit 38 % dazu beitragen.

Während 70 % des Kohlebedarfs in Indien für die Stromerzeugung vorgesehen sind, stammt fast die Hälfte der chinesischen Nachfrage (45 %) aus der sich stark entwickelnden Primärindustrie, insbesondere der Eisenindustrie. China interessiert sich auch für die Möglichkeit, synthetisches Benzin aus Kohle herzustellen. Die Shenshua Coal Liquefaction Corporation hat kürzlich in der Mongolei den Bau des ersten chinesischen Werkes zur Kohleverflüssigung fertiggestellt. Kohle ist preiswert, leicht zugänglich und landesweit in großem Umfang verfügbar und somit die ideale Energieoption für den chinesischen und indischen Bedarf. 72 % des Anstiegs des weltweiten Kohleverbrauchs zwischen 2004 und 2030 werden allein von diesen beiden Ländern verursacht.


Die Tücken der Kohle-Renaissance

Dieser erneute Anstieg beunruhigt jedoch: Die CO2-Emissionen bei der Verbrennung liegen pro produzierte Energieeinheit rund 25 % höher als bei Erdöl und 50 % höher als bei Gas. 2004 stand die Kohle im Hinblick auf den CO2-Ausstoß von Energiequellen mit 39 % der weltweiten Emissionen bereits an zweiter Stelle und es wird erwartet, dass sie dem Erdöl bis 2010 den ersten Rang ablaufen wird.

Die umfassende Bereitstellung von Systemen zur Abscheidung und Speicherung von CO2 (CCS) könnte die Auswirkung dieser Kohle- Renaissance auf die Umwelt zwar einschränken, jedoch steckt die Technologie noch in den Kinderschuhen und wird nach Meinung von Experten frühestens in zehn Jahren verfügbar sein. "Außerdem gibt es laut aktueller Studien nur sehr wenige Lagerungsmöglichkeiten in Indien, was die Einführung von CO2-Abscheidungs- und Speichersystemen erschwert. China verfügt über einige Lagerstätten, aber das Gesamtpotenzial in Asien bleibt ziemlich schwach im Vergleich zu anderen Erdteilen", erläutert Sankar Bhattacharya, Spezialist für CCS bei der IEA.

"Entsprechend den kurzfristigen Vorgaben der Agentur konzentrieren sich China und Indien heute auf die Optimierung des Wirkungsgrades der vorhandenen Kohlekraftwerke und auf die Schließung der ältesten Einrichtungen, die die Umwelt zu stark verschmutzen", erklärt der Experte. Anschließend empfiehlt die IEA zur mittelfristigen drastischen Reduzierung der Treibhausgase die umfassende Einführung von sauberen Kohletechnologien. Und im Hinblick auf die Minimierung der Abhängigkeit von einer begrenzten Energieform empfiehlt sie, die Energiequellen auf lange Sicht durch Investitionen in Kernenergie und erneuerbare Energien zu diversifizieren.


Notwendiger Technologietransfer

China hat bereits seinen guten Willen gezeigt, insbesondere durch die Ankündigung einer Verringerung des Energieverbrauchs pro BIP-Einheit um 20 % bis 2010 und durch den entschlossenen Ausbau der Kapazitäten im Bereich umweltfreundlicher Energiequellen. "China müsste 2007 mehr als 10 Mrd. USD in die Entwicklung seiner erneuerbaren Anlagen investieren, wodurch es zum weltweit zweitgrößten Investor nach Deutschland aufrücken würde", konnte man Ende 2007 in einer Pressemitteilung auf der Website des Worldwatch Institute [1] lesen. Die Schwellenländer fordern jedoch finanzielle Unterstützung und einen umfassenderen Technologietransfer seitens der Industrieländer. Ein Thema, das im Dezember auf der internationalen Klimakonferenz in Bali ausführlich diskutiert wurde. Die Entwicklungsländer werden ihre Lebensqualität nicht der Einschränkung der globalen Erderwärmung opfern", prognostiziert N. N. Gautam. "Die Industrieländer müssen ihre Technologien also an die armen Länder weitergeben."

Auch die Europäische Union, die historisch auf der Wirtschaftsgemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) aufbaut, intensiviert die Forschungen auf dem Gebiet der sauberen Kohle, um der Abhängigkeit von Gas- und Erdölimporten entgegenzuwirken. Auf der Grundlage des 2002 ausgelaufenen Vertrags der Montanunion konnte die EU dank der 50-jährigen Zusammenarbeit in der Kohle- und Stahlforschung spitzentechnologische Fachkenntnisse auf dem Gebiet der Energieeffizienz und der sauberen Verbrennung entwickeln. Diese Fachkenntnisse könnten den Entwicklungsländern von größtem Nutzen sein.

Die Forschung wird selbstverständlich einen entscheidenden Beitrag zur weltweiten Harmonisierung des Wirtschaftswachstums, des Energieverbrauchs und des Umweltschutzes leisten. Es bleibt die Frage, ob - und wie - die Politiker den riesigen Forschungsaufwand koordinieren, den diese komplexe Situation erfordert. Eine wesentliche Entscheidung, denn zahlreiche Experten bestätigen, dass es der Menschheit in Bezug auf die globale Energieknappheit weder an Ressourcen noch an Technologien mangelt, sondern an Zeit.


[1] China on pace to become global leader on renewable energy,
www.worldwatch.org, 14/11/2007


Verflüssigung von Kohle: Eine dauerhafte Lösung?

Die Verflüssigung von Kohle wurde in den 1920er Jahren in Deutschland entwickelt und während des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen in großem Umfang eingesetzt. Bei diesem Verfahren wird aus Kohle ein Treibstoff für Verbrennungsmotoren erzeugt.

Die indirekte Verflüssigung basiert auf dem Fischer-Tropsch-Verfahren (FT), bei dem die Struktur der Kohle durch Vergasung mit Hilfe von Dampf und Sauerstoff vollständig zerstört wird. Es entsteht ein synthetisches Gas, das an einem FT-Katalysator reagiert, wodurch flüssige Kohlenwasserstoffe entstehen.

Die direkte Verflüssigung basiert auf dem Bergius-Verfahren. Hierbei wird zerkleinerte Kohle mit einem Recycling-Lösungsmittel vermengt, das wiederum ein Kohlederivat ist. Die daraus entstehende Kohle-Öl-Paste wird dann in einer Wasserstoffatmosphäre bei einem Druck zwischen 13.900 und 20.900 Kilopascal auf 450 °C erhitzt.

Revolutionäre Alchemie? Das hängt ganz von der Effizienz der zukünftigen Techniken zur Abscheidung und Sequestrierung von CO2 ab, denn die Verflüssigung, direkt oder indirekt, setzt sehr viel mehr CO2 frei als die Förderung und Raffinierung von Erdöl.


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Quelle:
research*eu Nr. Sonderausgabe - März 2008, Seite 10-11
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. August 2008