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KULTUR/096: Das Mittelmeer - Vom Ozean zum See (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin Ausgabe 1/2015
Ruhr-Universität Bochum

Das Mittelmeer: Vom Ozean zum See
Verkehrswege und ihre Auswirkungen auf politische Beziehungen

von Raffaela Römer


Im Zuge der europäischen Kolonisierung Nordafrikas und Kleinasiens wurden die Küsten und Inseln des Mittelmeeres durch Dampfschiffe, Eisenbahnen und Telegrafenkabel so eng miteinander verbunden wie nie zuvor. Den erhofften Frieden zwischen Orient und Okzident hat dies allerdings nicht gebracht.

Reisen nach Südfrankreich gehören zum Alltag von Dr. Manuel Borutta. Rein beruflich natürlich, denn der Historiker, der an der RUB als Juniorprofessor für Kulturgeschichte des Mittelmeerraums arbeitet, untersucht die mediterrane Verflechtung Frankreichs mit Algerien zur Zeit der Kolonisierung und danach. Statt in sonnigen Cafés trifft man ihn daher meist in dunklen Archiven in Marseille an. Die Hafenstadt im Süden Frankreichs spielte eine zentrale Rolle bei der Eroberung Algiers durch die Franzosen. Durch ihre Lage direkt am Mittelmeer konnten die ansässigen Kaufleute rasch das Monopol für den Handel auf dem Seeweg zwischen den beiden Ländern an sich ziehen.

Angefangen hatte 1827 alles mit einem Schlag mit der Fliegenklatsche. Diese traf unglücklicherweise keine Fliege, sondern den französischen Konsul - der vorläufige Höhepunkt eines Streits um Geld. Denn damals hatte Frankreich Schulden bei der osmanischen Regentschaft Algier, die noch aus der Zeit der Revolutionskriege stammten. Als der osmanische Regent Hussein Dey den französischen Konsul Deval empfing, kam es zum Eklat. Der französische Konsul hatte zuvor eine Teilzahlung der Krone an den Dey veruntreut und seiner Regierung auch eine Eroberung Algiers vorgeschlagen. Auf die Frage des Dey, warum der französische König seine Briefe nicht beantworte, reagierte der Konsul mit einer herablassenden Bemerkung, die Ersterer mit mehreren Schlägen mit seiner Fliegenklatsche quittierte. Die Folge: Eine Blockade des Hafens von Algier, die ein Wiederaufkommen der muslimischen Piraterie und einen Einbruch des Mittelmeerhandels zur Folge hatte. Weil der Marseiller Handel unter den wirtschaftlichen Auswirkungen litt, forderte ein Abgeordneter der Stadt bereits 1828 in Paris eine Eroberung Algiers. 1830 war es so weit: Algier wurde von französischen Truppen erobert. Bis 1847 wurde im Zuge eines regelrechten Vernichtungskriegs mit immensem militärischem Aufwand und Zehntausenden ziviler Opfer der Widerstand einheimischer Muslime gebrochen. 1848 wurde Algerien zu einem Teil des französischen Staatsgebietes erklärt, die Dritte Republik machte es nach 1870 zu Frankreichs wichtigster Siedlungskolonie und versuchte, es auch kulturell zu assimilieren.

"Den Marseiller Kaufleuten kam all dies sehr gelegen", erzählt Manuel Borutta. "Sie sahen in der Kolonisierung Algeriens die Chance, die wirtschaftliche Vorherrschaft über den westlichen Mittelmeerraum an sich zu reißen und neue Märkte in Afrika zu erschließen." Und so kam es. Geliefert wurden anfangs hauptsächlich Konsumgüter, vor allem billiger Wein für die Soldaten der französischen Armee. Allein dessen Umsatz verdreifachte sich in kurzer Zeit. Über 80 Prozent der französischen Exporte nach Algier liefen über Marseille. In kurzer Zeit hatten die ansässigen Kaufleute es geschafft, den Algerienhandel zu monopolisieren.

Beschleunigt und intensiviert wurde der Handel zwischen Marseille und Algier dadurch, dass die damals noch junge Dampfschifffahrt die Segelschifffahrt allmählich ersetzte). "Die Überfahrt mit dem Segelschiff war schwer berechenbar. Die Reise dauerte mehrere Tage oder sogar Wochen, je nach Wind und Wetter. Für die Kaufleute war dies natürlich von großem Nachteil. Erst durch den Einsatz von Dampfschiffen wurde der mediterrane Seehandel schnell und planbar. Bereits im Jahre 1841 dauerte die Überfahrt nur noch zwei Tage und erfolgte ohne Zwischenstopp dreimal monatlich in beide Richtungen", weiß Borutta zu erzählen. Wirklich viele Passagiere passten anfangs nicht auf das Schiff, das zudem nicht besonders komfortabel war. "Es war sehr laut. Und es verschlang Unmengen von Kohle, die auf Deck gelagert wurde und viel Platz beanspruchte", so Borutta. Erst allmählich wurde die Überfahrt, zumindest für die Passagiere der ersten Klasse, komfortabler. Das Streckennetz verdichtete sich, und die Frequenz der Fahrten wurde höher. Neben Soldaten und Siedlern wurden dann auch zunehmend Waren auf Dampfschiffen nach Algerien transportiert.

Marseille wurde zur zentralen Schnittstelle der Waren- und Siedlungsströme zwischen Frankreich und Algerien. Für die Hafenstadt selbst blieb dies nicht ohne Folgen: Das Stadtbild veränderte sich. Der Hafen war dem Aufgebot der zahlreichen Schiffe und Warenanlieferungen schon in den 1840er-Jahren nicht mehr gewachsen. Es kam zu Staus, so dass ankommende Schiffe oft tagelang warten mussten, bis sie entladen konnten. Auf den Kais stapelten sich Fässer und Säcke, und es wimmelte von Menschen. Zwischen 1844 und 1863 wurden deshalb im südlichen Stadtviertel Joliette neue Hafenbecken und Docks nach englischem Vorbild gebaut, die den Marseiller Hafen - nach Liverpool - zum modernsten Europas im 19. Jahrhundert machten. Der alte Hafen blieb den Segelschiffen vorbehalten und wird heute nur noch als Jachthafen genutzt.

Zu einem reibungslosen Verkehr gehörte allerdings mehr als ein großer Hafen. Was Marseille fehlte, war die Anbindung an den Rest Frankreichs, vornehmlich an die Hauptstadt Paris. Dort saßen das Kapital und die Investoren. Deshalb musste eine Zugverbindung her. Einer ihrer größten Befürworter war der Ökonom Michel Chevalier. Er gehörte den Saint-Simonisten an, einer Art Sekte, deren Anhänger vom technischen Fortschritt begeistert waren. Von der Verbreitung neuer Technologien wie der Eisenbahn, der Dampfschifffahrt und der Telegrafie erwarteten sie nicht nur Wohlstand für alle, sondern auch ein Ende des Jahrhunderte langen Kampfes zwischen Orient und Okzident. Die modernen Verkehrs- und Kommunikationsmittel sollten die räumlichen Distanzen innerhalb Europas und des Mittelmeerraumes nivellieren und eine einheitliche Regierung der Region unter französischer Führung ermöglichen. Mit Chevaliers Worten: "Wenn ein Reisender, der morgens in Havre losfährt, in Paris zu Mittag essen, in Lyon zu Abend essen und am selben Tag in Toulon ein Dampfschiff nach Algier oder Alexandria nehmen kann, [...] wird sich ein gewaltiger Wandel der Verfassung der Welt vollziehen; von diesem Tag an wird das, was heute eine riesige Nati on ist, eine Provinz mittlerer Größe sein." Chevalier wurde zu Marseilles wichtigstem Fürsprecher in der französischen Debatte über die Erweiterung und Modernisierung der nationalen Verkehrsnetze.

1852 erhielten die Saint-Simonisten ihre Chance: Louis-Napoléon Bonaparte, ein Neffe des ersten französischen Kaisers, war von den Ideen der Saint-Simonisten so begeistert, dass er das französische Eisenbahnnetz massiv ausbauen ließ. Eine bedeutende Rolle spielte dabei der Saint-Simonist Paulin Talabot. Er schuf mit der Compagnie de Chemin de Fer Paris-Lyon-Méditerranée die lang ersehnte Direktverbindung zwischen Paris und Marseille. Zugleich erhielt er den Zuschlag für den Bau des Eisenbahnnetzes in Algerien und besaß zudem riesige Dampfschiffe. Talabot war als erster in der Lage, eine Verbindung von Paris nach Algerien anzubieten, bei der man lediglich einmal - in Marseille - umsteigen musste, um das Verkehrsmittel zu wechseln. "Die Folgen für Marseille waren nicht nur positiv", erklärt Manuel Borutta. "Die Stadt verlor ihre wirtschaftliche Autonomie, sie verband sich mit den Pariser Banken und wurde finanziell abhängig von der Hauptstadt." Sogar mit bloßem Auge wurde das neue Verhältnis sichtbar: Ganze Straßenzüge wurden abgerissen und nach Pariser Vorbild wieder aufgebaut. Bald war von einer "Pariser Fremdherrschaft" die Rede, von Marseille als einer "Kolonie des Pariser Kapitals".

Auch der Weltfrieden, den sich die Saint-Simonisten von der infrastrukturellen Verflechtung des Abendlandes mit dem Morgenland versprochen hatten, stellte sich nach dem Ausbau der Verkehrs- und Informationswege nicht ein. In einem sollten sie allerdings recht behalten: Die neuen Verkehrsmittel ließen das Mittelmeer tatsächlich von einem gewaltigen Ozean zwischen den Kontinenten zu einem banalen Binnensee Europas schrumpfen - zumindest in der Wahrnehmung wohlhabender Reisender aus dem Okzident.


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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Ausgabe 1/2015, S. 52-55
Herausgeber: Rektorat der Ruhr-Universität Bochum
in Verbindung mit dem Dezernat Hochschulkommunikation
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Mai 2015

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