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MELDUNG/328: Kindheit auf der Flucht - Zeitzeugeninterviews an Archiv der FernUniversität übergeben (idw)


FernUniversität in Hagen - 03.05.2017

Kindheit auf der Flucht: Zeitzeugeninterviews an Archiv der FernUniversität übergeben


Am 3. Mai 2017 - wenige Tage, bevor sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa zum 72. Mal jährt - hat das Archiv "Deutsches Gedächtnis" des Instituts für Geschichte und Biographie an der FernUniversität in Hagen zahlreiche Zeitzeugeninterviews erhalten, in denen der Verein "Kriegskinder e.V. - Forschung, Lehre, Therapie" die Schicksale von Menschen gesammelt hat, deren Kindheit von ihren Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg geprägt wurden.

Am 8. Mai 1945 war es vorbei: Der Zweite Weltkrieg in Europa endete. Manfred Hübner (81) aus Köln erinnert sich gut, wie er im Februar 1945 vor der roten Armee ausreißen musste: "Auf unserer Flucht war es irrsinnig kalt, es gab irrsinnig viel Schnee. Ich saß als junger Knabe auf einem Pferdewagen - hinter uns die russischen Panzer." Auch Marianne Pollich (76) aus Erkrath, die als Vierjährige mit dem letzten Zug aus Cottbus entkam, gehen die Bilder der Flucht nicht mehr aus dem Kopf: "Ich sehe noch die Massen draußen stehen, die es nicht in den Zug geschafft haben."

Obwohl das Kriegsende in Deutschland 72 Jahre zurückliegt, ist die Problematik nach wie vor aktuell. An vielen Orten der Welt wird erbittert gekämpft, ohne dass ein Frieden in Sicht ist - etwa in Syrien oder Afghanistan. Die Überlebenden tragen zumeist schwere Traumata davon.

Marianne Pollich und Manfred Hübner wollten nachfolgenden Generationen von ihren Kriegserlebnissen erzählen. Der Verein "Kriegskinder e.V. - Forschung, Lehre, Therapie" hat sie und rund 50 weitere Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu ihren Schicksalen im Zweiten Weltkrieg befragen lassen. Am 3. Mai wurde das gesammelte Material an das Institut für Geschichte und Biographie der FernUniversität in Hagen übergeben. Dort betreuen Forscherinnen und Forscher das Archiv "Deutsches Gedächtnis", in dem Lebensgeschichten systematisch gesammelt und für wissenschaftliche Forschung zur Verfügung gestellt werden.

Die Interviews werden nach der "Oral History"-Methode geführt: Ohne Zeitdruck erzählen die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner vor Videokamera oder Mikrofon ihre Lebensgeschichte. Dr. Almut Leh, die das Archiv leitet, freut sich darüber, dass auch externe Unterstützer wie der "Kriegskinder e.V." den Bestand erweitern: "Von den 3.000 Interviews, die wir derzeit archivieren, stammen zwei Drittel aus eigenen Forschungsprojekten. 1.000 Interviews haben wir von anderen Wissenschaftlern und Forschungsinstitutionen übernehmen können. Das trägt zur thematischen Vielfalt unserer Bestände bei und ist für unsere Archivbesucher sehr interessant."

Der Verein erhofft sich von der Übergabe, noch weitere Zeitzeuginnen und Zeitzeugen für Interviews gewinnen zu können. "Die Zeit drängt, denn viele Kriegskinder von damals verbringen ihre letzten Jahre mit uns und werden uns bald nur noch Erinnerungen an ihre Kindheit zurücklassen können", mahnt die Vereinsvorsitzende Monika Weiß. Auch die Historikerin PD Dr. Karin Orth von der Universität Freiburg, die einen großen Teil der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen befragt hat, verweist auf die Gedächtnisfunktion: "Für viele Interviewpartnerinnen und -partner ist es sehr wichtig, zu wissen, dass ihre Erinnerungen bewahrt werden."

Manfred Hübner möchte zudem an junge Menschen in Europa appellieren, sich aktiv für den Frieden einzusetzen: "Das, was jetzt passiert, ist eine Frage des Engagierens oder Nicht-Engagierens."

Institut für Geschichte und Biographie der FernUniversität in Hagen

Auf lebensgeschichtliche Forschungsprojekte hat sich das Institut für Geschichte und Biographie der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität in Hagen spezialisiert. Unter anderem produziert es wissenschaftliche Filme, richtet die Veranstaltungsreihe "Lüdenscheider Gespräche" aus und betreibt das Archiv "Deutsches Gedächtnis". Bei aller Vielfalt der einzelnen Projekte geht es immer darum, wie Menschen in ihrer subjektiven Wahrnehmung Geschichte erleben und verarbeiten.

Homepage des Instituts für Geschichte und Biographie:
https://www.fernuni-hagen.de/geschichteundbiographie/

Archiv "Deutsches Gedächtnis"

Das "Deutsche Gedächtnis" ist das Archiv des Instituts für Geschichte und Biographie. Es sammelt vor allem Zeitzeugeninterviews, die aus der Forschungsarbeit des Instituts und Vorläuferprojekten stammen. Etwa ein Drittel der biographischen Interviews wurden dem Archiv zudem von externen Forschenden überlassen. Zur Sammlung gehören auch schriftliche Erinnerungszeugnisse - zum Beispiel Autobiographien, Tagebücher oder Briefe.

Aktuell archiviert das "Deutsche Gedächtnis" rund 3.000 Interviews mit Frauen und Männern, überwiegend aus Ost- und Westdeutschland. Die ältesten Beiträge wurden schon zu Beginn der 1980er Jahre aufgezeichnet. Dabei kommen die Befragten aus ganz unterschiedlichen Personengruppen. Schwerpunktmäßig interviewt wurden beispielsweise Geflüchtete, ehemalige Lagerhäftlinge bzw. Zwangsarbeitende oder politisch Verfolgte im Nationalsozialismus und Stalinismus.

Die Interviews erfolgen nach einer speziellen Methode: Sie werden inhaltlich nicht auf ein einziges Forschungsthema eingeengt, sondern offen gehalten für die gesamten Lebensgeschichten der Gesprächspartner. Auf diese Weise bietet das entstandene Material über seinen konkreten Entstehungskontext hinaus Anknüpfpunkte für eine weitere wissenschaftliche Auswertung. Die archivierten Befragungen werden als geschichtliche Dokumente immer wichtiger, da sich die Zahl von historischen Zeitzeugen - etwa des Zweiten Weltkriegs - zusehends verringert.

In Kooperation mit dem Center für Digitale Systeme (CeDiS) der Freien Universität Berlin betreibt das Institut für Geschichte und Biographie der FernUniversität außerdem das Online-Archiv "Deutsches Gedächtnis", in dem eine Auswahl von Zeitzeugengesprächen online zugänglich gemacht wird.

Homepage des Archivs "Deutsches Gedächtnis":
https://www.fernuni-hagen.de/geschichteundbiographie/deutschesgedaechtnis/

Verein "Kriegskinder e.V. - Forschung, Lehre, Therapie"

Der große Schaden, den Kriege anrichten, zeigt sich auch noch nach vielen Jahrzehnten: Oft müssen ehemalige Kriegskinder bis ins hohe Alter mit ihren traumatischen Erfahrungen ringen. Der 2005 in Kassel gegründete Verein "Kriegskinder e.V. - Forschung, Lehre, Therapie" hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Menschen zu helfen und über die schreckliche Wirkung von aktuellen und vergangenen Kriegen aufzuklären. Das erreicht der gemeinnützige Verein unter anderem durch die gezielte Unterstützung von Forschung und Lehre.

Das Material, das nun an das Archiv "Deutsches Gedächtnis" übergeben wird, ist im Auftrag des "Kriegskinder e.V." erstellt und mit Vereinsmitteln finanziert worden. Mithilfe der Interviews sollen persönliche Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg aufgearbeitet und erhalten werden. Zu diesem Zweck wurden Zeitzeugen, die den Krieg als Kinder miterlebt hatten, zu den psychischen, physischen und sozialen Langzeitfolgen ihrer teils traumatischen Erfahrungen befragt. Der Verein hofft, dass in naher Zukunft noch weitere Angehörige der letzten Kriegsgeneration für Gespräche gewonnen werden können, bevor ihr historisches Wissen unwiderruflich verloren geht.

Homepage des "Kriegskinder e.V. - Forschung, Lehre, Therapie":
http://www.kriegskinder-verein.de/Impressum.html

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution151

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
FernUniversität in Hagen, Susanne Bossemeyer, 03.05.2017
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Mai 2017

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