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MEMORIAL/023: Zum 95. Geburtstag des christdemokratischen Parteiführers Aldo Moro (Gerhard Feldbauer)


Ein bürgerlicher Reformer wie es bisher keinen zweiten gab.

Zum 95. Geburtstag des christdemokratischen Parteiführers Aldo Moro

Von Gerhard Feldbauer, September 2011


Der langjährige Führer der italienischen Democrazia Cristiana (DC)(1) und mehrmalige Ministerpräsident Aldo Moro war ein Antifaschist und bürgerlicher Reformer, wie es zweifelsohne bis heute keinen zweiten gab. Nach dem Ersten Weltkrieg ist er am ehesten mit Matthias Erzberger und unter außenpolitischen Gesichtspunkten mit Walter Rathenau vergleichbar, die beide wie er dem Terror rechtsextremer Kreise ihrer eigenen Klasse verfielen.

Bekannt wurde Moro vor allem durch seine Apertura a Sinistra, die Öffnung nach Links, zunächst Anfang der 1960er Jahre zu den Sozialisten, ein Jahrzehnt später auch zu den Kommunisten. Mit IKP-Generalsekretär Enrico Berlingeur schloss er im Rahmen des von diesem vorgeschlagenen Compromesso storico 1978 ein Regierungsabkommen. Am Tag der Amtseinführung der Kompromiss-Regierung in der Abgeordnetenkammer wurde Moro Opfer eines Kommando-Unternehmens der CIA, ihrer geheimen NATO-Truppe stay behind, die in Italien Gladio hieß, und der Putschzentrale Propaganda due (P 2).(2) Für die Ausführung wurden die von Geheimdienstagenten infiltrierten linksextremen Roten Brigaden benutzt. Am 16. März wurde der Politiker entführt und am 9. Mai ermordet.


Gegner des NATO-Beitritts

Es ist aufschlussreich, Berlinguers Partner Aldo Moro etwas näher zu charakterisieren, weil sich an seinem Beispiel die Möglichkeiten zeigen, bürgerliche Reformer bei einem entsprechenden Kräfteverhältnis zugunsten linker Kräfte, die auf der Grundlage einer revolutionären Strategie handeln, zu einer weiter gehenden Zusammenarbeit zu gewinnen. Moro bot dazu sowohl von seiner sozialen Herkunft als auch von seiner politischen Einstellung her beträchtliche Voraussetzungen.

Am 23. September 1916 in der Kleinstadt Maglie im südlichen Apulien geboren, kam Moro aus den einfachen Verhältnissen einer ländlichen Pädagogenfamilie. Der Vater war Schulinspektor, die Mutter Elementarschullehrerin. Nach Jurastudium mit Promotion und Habilitation hatte er an der Universität von Bari eine Professur für Strafrecht inne. Der sehr gebildete Jurist reifte frühzeitig zu einem außerordentlich fähigen Politiker mit Realitätssinn für die Probleme des eigenen Landes als auch für internationale Fragen heran. Seit der Wahl 1946 in die Verfassungsgebende Versammlung war er bis zu seinem Tod Mitglied der Abgeordnetenkammer. 1948 wurde er Staatssekretär, später Minister für Auswärtige Angelegenheiten und anderer Kabinettsressorts. Er stand fünfmal der Regierung vor und galt für die 1979 anstehenden Präsidentenwahlen als aussichtsreichster Bewerber.

Als Mitglied der an der Resistenza(3) teilnehmenden DC zählte Moro nach 1945 zu den führenden Köpfen der "Initiativa Democratica", einer Gruppe von linken christdemokratischen Politikern, die nach der Niederlage des Faschismus für eine soziale Erneuerung der italienischen Gesellschaft auf christlichen Grundlagen eintrat. Darunter waren antifaschistische soziale und politische Reformen im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft zu verstehen, um den in der Arbeiterbewegung vorherrschenden marxistischen Sozialismusvorstellungen eine Alternative entgegenzustellen. Grundlegendes Ziel der Reformpolitik Moros war, an Stelle der Centro Destra (rechtes Zentrum) ein neues Regierungssystem zu formieren. Er strebte, ausgehend von der während der Resistenza entstandenen antifaschistischen nationalen Einheitsregierung, welche die Kommunisten und Sozialisten einschloss, die Fortsetzung einer solchen Koalition auch nach 1945 an. Während seiner Regierungszeit und als Parteivorsitzender ging es ihm darum, mit seiner Reformpolitik seiner Partei und damit dem kapitalistischen Gesellschaftssystem eine stabile Regierungsmehrheit zu verschaffen. Das sah er nur durch die Einbeziehung zunächst der Sozialisten und später der Kommunisten als realisierbar an, wenn man nicht auf die neofaschistische Partei MSI zurückgreifen wollte, was Moro entschieden ablehnte. In seiner Politik trat er gleichzeitig den USA-Plänen, Italien rücksichtslos ihrer Vorherrschaft unterzuordnen, entgegen.


Öffnung nach Links

Moro lehnte die von Alcide De Gasperi unter massivem Druck der USA und ihrer Marshallplan-Strategie durchgesetzte Politik der konservativen kapitalistischen Restauration ab. Nachdem er 1949 gegen den Beitritt zur NATO aufgetreten war, hatte ihn De Gasperi aus dem Kabinett ausgeschlossen. Als dieser nach den Wahlen 1953 über seinen proamerikanischen Regierungskurs stürzte und die DC von 48,5 (1948) auf 40,1 Prozent absackte, kehrte Moro in die Politik zurück. Gegen den entschiedenen Protest aus Washington und den Widerstand der Rechtskräfte im eigenen Land und in der DC selbst, die im Parlament die MSI zur Regierungszusammenarbeit heranziehen wollten, setzte er seine erste "Öffnung nach links" durch und nahm die Sozialisten wieder in die Regierung auf. Es begann die Zeit der so genannten Centro-Sinistra-Regierungen.

Die Ergebnisse der Parlamentswahlen 1976 stürzten die DC erneut in eine tiefe Krise. Sie selbst konnte zwar ihre Stimmen halten, stand aber ohne Regierungsfähige Mehrheit da, weil die Sozialisten, die sich im seit 1963 eingegangenen Regierungsbündnis mit der DC verschlissen, nur noch 10,2 Prozent (vorher 13,8) erreichten, während die der IKP sprunghaft um 7,3 auf 34,4 Prozent anstiegen. Als DC-Vorsitzender begann Moro nunmehr, die Kommunisten in die Regierungszusammenarbeit einzubeziehen. Gegen die IKP, die von 12,6 Millionen Italienern gewählt wurde, konnte das Land, so Moros Meinung, nicht mehr regiert werden.

Grundlage der Bereitschaft der IKP zur Regierungszusammenarbeit war, dass sich in der Partei ein revisionistische Strömung durchgesetzt hatte, die grundlegende kommunistische Positionen aufgab, um von den führenden Kreisen des Kapitals und ihren rechten Vertretern in der DC als Regierungspartner akzeptiert zu werden.(4)


Wollte Moro eine Finnlandisierung Italiens?

Moro strebte in der Außenpolitik nach einem Abbau der Blockkonfrontation und der internationalen Spannungen, setzte sich für Rüstungsbegrenzung und friedliche Koexistenz ein, favorisierte die wirtschaftliche Kooperation mit der UdSSR und trat für eine politische Annäherung an Moskau ein. Er war ein entschiedener Gegner der massiven Einmischung Washingtons in die italienischen Angelegenheiten und trat für die Wiederherstellung der nach 1945 verlorengegangenen nationalen Souveränität ein. Eine seiner gemeinsamen Interessenlinien mit Berlinguer war, die Entscheidungen in der IKP unabhängig von Moskau zu treffen, und die in der DC ohne Einmischung Washingtons. Flamigno Piccoli, nach Moros Tod dessen Nachfolger als DC-Vorsitzender, äußerte am 6. August 1978 in der Südtiroler Zeitung "Alto Adige", dass der DC-Führer "ausgeschaltet wurde, weil er nicht wollte, dass Italien Schauplatz von Konkurrenzkämpfen geheimer Mächte wird, wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg; er wurde ausgeschaltet, weil er in den letzten drei Monaten in Gesprächen mit Amerikanern und den Russen seine Fähigkeit gezeigt hat, Initiativen zur Herstellung des nationalen Ausgleichs zu ergreifen". Sowohl in Rom als auch in Washington und Moskau könnten diesbezügliche Dokumente in den Staatsarchiven darüber nähere Auskunft geben. Sie werden jedoch bis heute nicht freigegeben, so dass auch nicht eingeschätzt werden kann, ob es den Tatsachen entspricht, dass ihm eine Finnlandisierung Italiens vorgeschwebt, er Moskau den Austritt Polens aus dem Warschauer Vertrag vorgeschlagen habe, als Gegenleistung Italiens Austritt aus der NATO bewerkstelligen wollte. Diese Fragen wurden auch auf einer Konferenz der Gesellschaft für Erholung und Kultur (ARCI) zu "Politik und Terrorismus in Italien" im September 2002 erörtert.(5) Der Christdemokrat warnte die IKP vor zu starker Sozialdemokratisierung Die Regierungszusammenarbeit mit der IKP betrieb Moro auf der Basis des bestehenden kapitalistischen Systems aber in ehrlich Absicht. Wie vorher bei den Sozialisten hoffte er, die Regierungsbeteiligung würde bei IKP zu Wählerverlusten führen, was seiner Partei zu Gute kommen sollte. In einem Interview für La Repùbblica verdeutlichte er am 18. Februar 1978 indessen, das Ziel könne nicht darin bestehen, die IKP als politischen Faktor auszuschalten. Er wies damit Spekulationen auch im linken Flügel seiner eigenen Partei zurück. Mit großer Rationalität plädierte Moro dafür, die IKP solle ihre "ideologische Herkunft" nicht zu sehr verleugnen, womit er nachgerade vor ihrer zu starken Sozialdemokratisierung warnte. Moro räumte offen ein, dass die DC allein das Land nicht mehr "halten" könne.(6)

Seit ihrem Wahlsieg 1976 stützte die IKP die DC-geführten Regierungen im Parlament bereits durch Stimmenthaltung. Nach dem Abschluss des Regierungsabkommens trat sie zunächst der Parlamentsmehrheit bei. Ihr direkter Regierungseintritt war etwas später vereinbart. Moro und Berlinguer akzeptierten als Regierungschef den rechten Flügelmann der DC und Vertrauten der USA Giulio Andreotti. Moro fürchtete andernfalls Widerstand in seiner Partei. Er und Berlinguer hofften, die Amerikaner damit zu beschwichtigen. Wie sich herausstellte, ein verhängnisvoller Irrtum.

Giulio Andreotti lieferte seinen Parteivorsitzenden dem sicheren Tod aus Denn in Washington waren die führenden reaktionären Kreise mit dem damaligen Außenminister Henry Kissinger erbitterte Feinde der Apertura Moros gegenüber den Kommunisten. Der DC-Führer war ihren erbitterten Angriffen ausgesetzt, die immer öfter in einer regelrechten( Mordhetze gipfelten. Moros Frau Eleonore sagte während der parlamentarischen Untersuchung zum Mord an ihrem Mann aus, dass ihm 1974, als er als Außenminister Staatspräsident Leone nach Washington begleitete, gedroht worden war, wenn er seine Zusammenarbeit mit den Kommunisten nicht aufgebe, werde er es "teuer bezahlen". Ein hoher Beamter habe in Anspielung auf die Ermordung John F. Kennedys gedroht, dass es sonst "eine Jaqueline in der Zukunft (Italiens) geben" werde.(7) Danach war in Washington in aller Öffentlichkeit immer öfter von Italien als einem "zweiten Chile" die Rede. Der von Kissinger geleitete National Security Council schätzte den DC-Führer als "Kommunisten" ein, viel gefährlicher als Castro" und befürchtete, dessen "demokratische Wahl" könnte "ein folgenschweres Beispiel" für die italienischen Wähler abgeben. Nach der Entführung Moros lehnte Giulio Andreotti geforderte Verhandlungen, wie sie vorher in solchen Fällen praktiziert wurden und auch danach wieder üblich waren, zur Freilassung des DC-Vorsitzenden im Austausch gegen eine Anzahl inhaftierter Mitglieder der Brigate Rosse, ab. Der Ministerpräsident, der später beschuldigt und auch vor Gericht angeklagt wurde, in das Komplott zur Beseitigung Moros verwickelt gewesen zu sein, lieferte damit seinen Parteivorsitzenden dem angedrohten sicheren Tod aus. Die IKP schloss sich, um in der parlamentarischen Regierungskoalition zu verbleiben, dieser Linie an, ließ in beschämender Weise ihren Bündnispartner im Stich und wurde für seinen Tod mitverantwortlich.

Andreotti setzte dennoch seine Sabotage des Regierungsabkommens fort. Es kam zu keinerlei zugesagten Reformen und vor allem zu keinen Maßnahmen zu Zurückdrängung der faschistischen Gefahr. Entgegen den Forderungen der revisionistischen Fraktion in seiner Partei, die dennoch in der Parlamentsmehrheit verbleiben wollten, beendete Berlinguer im Januar 1979 die Regierungszusammenarbeit mit der DC und kehrte in die Opposition zurück. Der Historische Kompromiss war gescheitert. In der DC erhielten rechte und mit den Neofaschisten paktierende Kräfte bestimmenden Einfluss auf die Politik. Der politische Einfluss der IKP ging spürbar zurück, Sie verlor in den folgenden Jahren ein Drittel ihrer 2,2 Millionen Mitglieder. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen 1979 war ihre Stimmenzahl zum ersten Mal seit Kriegsende rückläufig. Sie sank auf 30,4 Prozent ab.


Übergang zu antiimperialistischen Positionen

Moro hätte für die IKP, wenn sie nicht derart schwerwiegende Zugeständnisse eingegangen wäre, ein Partner für die Durchsetzung von demokratischen Reformen im Rahmen der bürgerlichen Ordnung, die im Sinne Gramscis dem Ausbau der bürgerlichen Demokratie dienen und an den Sozialismus heranführen konnten, werden können. Dafür spricht vor allem sein Memoriale, das er im Angesicht seines bevorstehenden Todes im Gefängnis der Roten Brigaden niederschrieb und das man als sein politisches Testament betrachten kann.

Wie er darin das von den herrschenden Kreisen der DC angeführte antidemokratische und volksfeindliche Regime und dessen proamerikanische Politik anklagte, ließ deutlich den Übergang zu antiimperialistischen Positionen erkennen.(8) Es ist gleichzeitig ein Dokument menschlicher Größe und Standhaftigkeit. Moro erkannte, dass er sich in den Händen seiner Washingtoner Feinde befand, welche die Brigate Rosse als ihr Werkzeug benutzten. Er hielt dem physischen und psychischen Druck stand und bekannte sich mutig zu seiner Zusammenarbeit mit den Kommunisten, obwohl ihm ein Widerruf möglicherweise das Leben hätte retten können.


Von Gerhard Feldbauer erscheint zum 95. Geburtstag Aldo Moros in der Berliner Erich-Weinert-Bibliothek der DKP eine erweiterte Neuauflage seiner Kriminalerzählung "Die Recherchen des Commissario Palotta. Warum Aldo Moro sterben musste". Über Aldo Moro schrieb er bereits früher "Agenten, Terror, Staatskomplott. Der Mord an Aldo Moro, Rote Brigaden und CIA, PapyRossa 2000, und "Aldo Moro und das Bündnis von Christdemokraten und Kommunisten im Italien der 70er Jahre, Neue Impulse Verlag, Essen 2003.

PapyRossa hat für Herbst 2011 sein neues Italienbuch angekündigt: "Wie Italien unter die Räuber fiel. Und warum die Linken nicht mit ihnen fertig wurden".


Anmerkungen:

(1) Ging 1992 im Korruptionssumpf unter. Nachfolgeparteien sind heute die Union Demokratischer Christen (UDC) und die Partei der Werte Italiens (IdV) des früheren Mailänder Korruptionsermittlers Antonio Di Pietro.

(2) Zur aktuellen Bedeutung ist hier anzuführen, dass zur Führung, dem Dreierdirektorium, dieser Putschzentrale der heutige (noch) faschistoide Ministerpräsident Berlusconi gehörte. Die P2 finanzierte den Aufbau seines Medienimperiums und hievte ihn 1994 das erste Mal an die Regierung. In jüngster Zeit wurde erst wieder bekannt, dass Strukturen der P2 immer noch existieren und ihre Rolle beim Machterhalt Berlusconis eine Rolle spielen.

(3) Periode des bewaffneten nationalen Befreiungskrieges gegen das Besatzungsregime der Hitlerwehrmacht ab September 1943.

(4) Auf die Rolle der IKP in der Regierungszusammenarbeit mit Moro wird hier nicht näher eingegangen und auf die Darlegung des Autors in seinem Buch "Geschichte Italiens. Vom Risorgimento bis heute", PapyRossa, Köln 2008, Kapitel Christdemokraten und Kommunisten, S. 190 bis 235 verwiesen.

(5) An welcher der Autor teilnahm. Siehe jW, 28./29. Sept. 2002.

(6) Die Veröffentlichung des Interviews war nach der Regierungsbildung vorgesehen. Nach der Entführung und folgenden Ermordung Moros verzichtete die Repùbblica zunächst auf eine Veröffentlichung, brachte es erst am 14. Oktober 1978. Es ist im Europaarchiv 22/1979 wiedergegeben.

(7) Osservatore Politico, Rom, 13. Sept. 1975.

(8) Francesco Biscione: Il Memoriale di Aldo Moro rivenuto in Via Montenevoso a Milano (Die in der Monte-Nevoso-Strasse in Mailand gefundenen Aufzeichnungen Aldo Moros, Rom 1973.


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Quelle:
© 2011 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2011