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MEMORIAL/102: Am 14. Mai 1969 verkündeten die USA die "Vietnamisierung" ihres Krieges (Gerhard Feldbauer)


Am 14. Mai 1969 verkündeten die USA die "Vietnamisierung" ihres Krieges

Was veranlasste sie zu diesem Schritt ?

von Gerhard Feldbauer, 12. Mai 2014



Mit der Einstellung der Luftangriffe am 1. November 1968 mussten die USA ihre Niederlage im Luftkrieg gegen die Demokratische Republik Vietnam (DRV) eingestehen. Sie waren an der nicht zu überwindenden nordvietnamesischen Luftabwehr, die von der UdSSR mit der modernsten konventionellen Technik dieser Zeit ausgerüstet wurde, gescheitert. 3.240 US-Maschinen hatten die Nordvietnamesen seit Beginn der Luftüberfälle im August 1964 abgeschossen. Zuletzt fehlte es dem Pentagon an Piloten und die Produktion konnte die verlorenen Flugzeuge nicht mehr ersetzen.


Krieg war nicht mehr zu gewinnen

Im Januar 1968 hatte ein Ausschuss des US-Senats aufgedeckt, dass der sogenannte "Tonking-Zwischenfall" Anfang August 1964 eine von Präsident Johnson organisierte Provokation war, mit der ein Vorwand zum Beginn des Luftkrieges gegen die DRV geschaffen wurde. In Südvietnam hatte die im Frühjahr 1968 von der Front National de Libération (FNL) zum Tet-Fest geführte Offensive sichtbar gemacht, dass Washington seinen neokolonialen Eroberungskrieg auch dort nicht gewinnen konnte. Hinzu kam, dass die USA weltweit isoliert waren, in den Vereinigten Staaten eine machtvolle Friedensbewegung das Ende des Krieges forderte und auch in der US-Army in Südvietnam der Widerstand zunahm. Die Kriegsgerichtsbarkeit wurde zunehmend der Lage nicht mehr Herr. Zwischen 1966 und 1972 kam es zu 423.422 Desertionen und unerlaubten Entfernungen von der Truppe. Die Zahl der Deserteure war dreimal höher als zu irgendein einem Zeitpunkt des Koreakrieges. Im Pentagon befürchtete man, es könnte zu Ereignissen wie "in Russland 1917 oder in Deutschland 1918 kommen".


In Paris begannen Friedensgespräche

Im November 1968 mussten die USA in Paris Gesprächen zwischen der DRV und der FNL auf der einen, den USA und der Saigoner Regierung auf der anderen Seite über die Beendigung des Krieges zustimmen. Washington scheiterte mit seiner Forderung, nur mit Hanoi zu verhandeln, um die DRV als allein "kriegführende Seite" in Südvietnam und als "Aggressor" hinzustellen. Lediglich die südvietnamesische Marionettenregierung sollte hinzugezogen werden.

Zu Beginn der Gespräche forderten die DRV und die FNL den bedingungslosen Abzug der US-Truppen und ihrer Verbündeten aus Südvietnam und die Auflösung aller Militärstützpunkte. Ab 1970 begannen die USA mit einem schrittweisen Abzug ihrer Truppen aus Südvietnam, hielten aber an ihrem Ziel der neokolonialen Beherrschung Südvietnams fest und gingen zur sogenannten "Vietnamisierung" des Krieges über. Das hieß, die südvietnamesischen Truppen sollten mit Waffen und Militärberatern aus den USA den Krieg gegen die Befreiungsbewegung weiter führen und das USA-hörige Marionettenregime in Saigon an der Macht halten.


Saigoner Armee auf 1,2 Millionen Mann erhöht

Bis Mitte 1971 wurden von den 537.000 in Südvietnam stehenden GIs rund 300.000 abgezogen, dafür wurde die Saigoner Armee um 600.000 auf insgesamt 1,2 Millionen Mann erhöht. Jeder aus Südvietnam abgezogene US-Soldat wurde also durch zwei Südvietnamesen ersetzt. Präsident Richard Nixon weigerte sich, für den Abzug der restlichen 200.000 US-Soldaten einen endgültigen Termin zu nennen. Um ein den USA genehmes Regime an der Macht zu halten, forderte er, mindestens zwei bis drei US-Kampfdivisionen - wenn notwendig, noch zehn Jahre oder länger - in Südvietnam zu belassen. Von Hanoi verlangte er weiterhin, die Unterstützung des Befreiungskampfes im Süden einzustellen.


Neutralität abgelehnt

Die DRV zeigte Kompromissbereitschaft und bot an, bereits im Vorfeld einer Übereinkunft mit der von den USA geforderten Freilassung der gefangen genommenen US-Piloten zu beginnen. Die Befreiungsfront, die mit weiteren Patrioten im Juni 1969 in den befreiten Gebieten die Republik Südvietnam (RSV) proklamiert und eine Provisorische Revolutionäre Regierung gebildet hatte, erklärte sich bereit, in Südvietnam mit der Saigoner Regierung ein Kabinett der Nationalen Einheit zu bilden, das seine Neutralität erklären sollte. Die Vorschläge stießen nicht nur in Saigon, sondern auch auf internationaler Ebene auf ein breites positives Echo und versetzten die USA in Verlegenheit. In Südvietnam bekundeten nichtkommunistische Oppositionelle aus Kreisen der Intelligenz, der Buddhisten, Katholiken und anderer bürgerlicher Schichten, die sich als "dritte Kraft" zwischen der Saigoner Regierung und der Provisorischen Revolutionären Regierung verstanden, Interesse, und selbst in der Armee gab es zustimmende Äußerungen. Die USA und Saigon lehnten ab.


Landesweite Offensive der Befreiungsarmee

Danach begannen am 1. April 1972 die Befreiungsstreitkräfte im Süden eine neue landesweite Offensive. Drei operative Gruppierungen in Stärke von jeweils drei Divisionen rückten auf Hue und die schwer befestigte US-Luft- und Marinebasis Da Nang vor, griffen die Stützpunkte im Hochland von Pleiku an und stießen bis auf die Vororte von Saigon vor. Die RSV setzte zum ersten Mal ganze Regimenter von Panzern, Artillerie und Flak ein. "Die Zeit" in Hamburg berichtete: "Die logistische Vorbereitung der Offensive war hervorragend. Trotz eines unaufhörlichen Flächenbombardements auf die Nachschubwege, trotz ausgedehnter Säuberungsaktionen, trotz eines ausgeklügelten elektronischen Überwachungssystems, ist es dem Generalstab möglich gewesen, über Hunderte von Kilometern schwere Panzer und schwere Geschütze bis tief in den Süden zu schaffen."


B-52 bombardieren Hanoi

Auch im weiteren Verlauf des Jahres 1972 blieb die RSV in der Offensive. Washingtons Verbündete rechneten mit dem Sturz des Saigoner Regimes. Im Pentagon erwog man, eine "Unterbrechung der Vietnamisierung". Das hätte jedoch wie die "Financial Times" schrieb, den "politischen Selbstmord" Präsident Nixons, der zur Wiederwahl antrat, bedeutet. Um der Lage Herr zu werden, ließ Nixon die Luftangriffe auf Nordvietnam wieder aufnehmen. In der Hafenstadt Haiphong, Umschlagplatz für die Waffenlieferungen aus der UdSSR, legten B-52 ganze Wohnviertel in Schutt und Asche. Die US-Navy verminte alle Häfen Nordvietnams aus der Luft, um den Nachschub aus der UdSSR auf dem Seewege zu blockieren. Entlang des Roten Flusses wurden die Deiche angegriffen. Im Golf von Tongking zog das Pentagon eine Armada von 60 Kriegsschiffen zusammen, darunter fünf Flugzeugträger. Am 18. Dezember 1972 wurden die Angriffe mit B-52 auf Hanoi ausgedehnt und in den folgenden 12 Tagen 500 Einsätze geflogen und dabei über 100.000 Tonnen Bomben und Raketen abgeworfen bzw. gefeuert, die gewaltige Schäden anrichteten und Tausende Opfer unter der Zivilbevölkerung forderten. Fast 4.000 Tote und Verletzte zählte allein Hanoi.


Ein Erfolg der Raketen sowjetischer Bauart

Die DRV war jedoch nicht in die Knie zu zwingen. Die Londoner "Daily Mail" schrieb, Nixon habe offenbar "nicht mit dem Erfolg der Raketen sowjetischer Bauart und ihrer nordvietnamesischen Bedienungsmannschaften gerechnet, die täglich zwei der riesigen Bomber mit acht Triebwerken abgeschossen haben". Insgesamt verlor die Air Force in der letzten Luftschlacht über der DRV 33 B-52.

Vor dem Widerstandswillen Vietnams mussten die USA erneut kapitulieren und Präsident Nixon am 15. Januar 1973 die Luftangriffe auf Nordvietnam einstellen. Am 22. Januar wurden die Pariser Abkommen paraphiert und am 27. Januar von den vier beteiligten Seiten unterzeichnet. Am 2. März 1973 wurde der Vertrag durch eine Internationale Vietnamkonferenz gebilligt, an der neben den USA und den drei vietnamesischen Seiten weitere ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates sowie Ungarn, Polen, Kanada und Indonesien teilnahmen.

Die Verträge fixierten ein Waffenstillstandsabkommen, die Bildung einer souveränen Regierung in Südvietnam und die friedliche Wiedervereinigung des Nordens mit dem Süden. Von besonderer Bedeutung war, dass zum Waffenstillstand festgelegt wurde, dass die Streitkräfte beider Seiten dort verbleiben sollten, wo sie sich zum aktuellen Zeitpunkt befanden. Das bedeutete die Anerkennung der befreiten Gebiete Südvietnams als von der FNL kontrolliertes Territorium. Zur Realisierung der Verträge wurde in dem Pariser Vorort La Celle-Saint Cloud eine Konsultativkonferenz der beiden südvietnamesischen Seiten eingerichtet.


Halbwegs ehrenvolles Ende verspielt

Die Pariser Verträge gaben den USA die Möglichkeit, den Krieg unter halbwegs ehrenvollen Bedingungen zu beenden. Wie 1954 nach den Genfer Indochina-Abkommen brachen sie auch diese Verträge. Die Quittung erhielten sie mit der letzten Offensive der Befreiungskämpfer im Frühjahr 1975, die mit der Einnahme Saigons am 30. April und damit der Befreiung des Südens des Landes endete.


Heutige Modelle kaum vergleichbar

An der Vietnamisierung orientierte Modelle, den Rückzug der USA-NATO-Truppen aus dem überfallenen Irak oder aus Afghanistan durch einheimische Marionettentruppen zu kompensieren, lassen sich kaum mit Vietnam vergleichen. Vergleichbar ist, dass die Interventionen gescheitert sind, national und international auf wachsenden Widerstand der Antikriegskräfte stoßen und die USA und ihre Verbündeten deshalb das Abenteuer beenden möchten. Zurückgelassen werden Bürgerkriegschaos, Staatsverfall, wirtschaftlicher Ruin und ins Elend gestoßene Menschen. Von einem Sieg der Volksmassen wie in Vietnam sind diese Länder wegen einer fehlenden Führung auf lange Zeit weit entfernt.

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Quelle:
© 2014 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2014