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MEMORIAL/226: Gramscis Kampf um die Umwandlung der Sozialistischen Partei in eine "revolutionäre Partei des Proletariats" (Gerhard Feldbauer)


Ein anderer Weg zur Verwirklichung der Beschlüsse der von Lenin geschaffenen Kommunistischen Internationale

Antonio Gramscis Kampf um die Umwandlung der Sozialistischen Partei (ISP) in eine "revolutionäre Partei des Proletariats"

von Gerhard Feldbauer, 25. Januar 2021



Foto: 'Comintern' editorial board, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Kommunistische Internationale - theoretisches Magazin der KI
Foto: "Comintern" editorial board, Public domain, via Wikimedia Commons

Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914 lief die übergroße Mehrheit der Führungen der Parteien der Sozialistischen (zweiten) Internationale auf die chauvinistischen Positionen der Vaterlandsverteidigung ihrer Imperialisten über. Die Organisation brach damit zusammen. In dieser Situation trat Lenin auf der Grundlage des Bruchs mit den Opportunisten für die Bildung einer neuen Kommunistischen Internationale ein. Auf einer Beratung der Gruppe der Bolschewiki in Bern vom 6. bis 8. September 1914 nannte er als nächste Aufgabe, "die wahre Bedeutung des Krieges aufzudecken und die von den herrschenden Klassen, den Gutsbesitzern und der Bourgeoisie, zur Verteidigung des Krieges verbreiteten Lügen, Sophismen und patriotischen Phrasen schonungslos zu entlarven". In seiner Schrift "Der Krieg und die russische Sozialdemokratie", die der Schweizer Sozialdemokrat am 1. November 1914 veröffentlichte, schrieb er: "Die proletarische Internationale ist nicht untergegangenen und wird nicht untergehen. Die Arbeitermassen werden trotz aller Hindernisse eine neue Internationale schaffen". [1]

Im Sommer 1915 sah Lenin die Bedingungen für eine Konferenz der internationalistischen Sozialisten herangereift. Sie fand vom 5. bis 8. September 1915 in Zimmerwald statt. Der Einladung in das Schweizer Dörfchen folgten 38 Delegierte aus elf Ländern. Es kam zur heftigen ideologischen Auseinandersetzungen zwischen der geschlossenen Gruppe der Internationalisten und revolutionären Marxisten unter Führung Lenins und den Kautzkyanern und ihren Sympathisanten, die der deutsche Sozialdemokrat Georg Ledebour anführte.


Lenins "Zimmerwalder Linke"

Während der Beratungen bildete Lenin die berühmte "Zimmerwalder Linke", die auf den weiteren Verlauf der revolutionären Antikriegsbewegung großen Einfluss nahm. Der Aufruf an die Arbeiter und Arbeiterinnen, sich gegen den Krieg zu erheben, endete mit den Worten: "Proletarier aller Länder vereinigt Euch." Obwohl das Manifest an Inkonsequenz litt (es fehlte die These, dass der Imperialismus der Vorabend der sozialistischen Revolution ist), trat Lenin dafür ein, es zu unterschreiben. Der "Sozial-Demokrat" zitierte Lenins Begründung in seiner Ausgabe 45/46 vom 11. Oktober 1915: "Es wäre schlechte militärische Taktik, wollte man es ablehnen, gemeinsam mit der wachsenden internationalen Protestbewegung gegen den Sozialchauvinismus zu marschieren, weil sich diese Bewegung langsam entwickelt, weil sie nur einen Schritt vorwärts macht...". Lenin wertete die Zimmerwalder Konferenz als einen ersten Schritt beim Aufbau einer internationalen Bewegung gegen den Krieg. Der Zusammenschluss der revolutionären Sozialisten war für ihn "eine der wichtigsten Tatsachen und einer der größten Erfolge der Konferenz". [2] Der Beratung in Zimmerwald folgte vom 24. bis 30. April 1916 eine weitere Tagung im Schweizerischen Kienthal, die die Linie des revolutionären Kampfes gegen den Krieg vertiefte.

Nach dem Sieg der Oktoberrevolution spielte die Zimmerwalder Linke eine wichtige Rolle bei der Gründung kommunistischer Parteien in ihren Ländern und bei der Bildung der Kommunistischen Internationale. Unter ihrem Einfluss erhielt der Kampf der revolutionäre Linken gegen Imperialismus und Krieg einen weltweiten Aufschwung. Ende 1918 entstanden kommunistische Parteien in Finnland, Österreich, Ungarn, den Niederlanden und Polen, am 30. Dezember 1918 in Deutschland, im Juli und Dezember 1920 in Großbritannien bzw. Frankreich.


Die Gründung der Kommunistischen Internationale

Am 2. März 1919 versammelten sich in Moskau 52 Delegierte von 35 kommunistischen Organisationen aus 21 Ländern Europas, Amerikas und Asiens zur Vorbereitung der Gründung der III. Kommunistischen Internationale (Komintern). Am 4. März konstituierte sich die Tagung zum I. (Gründungs) Kongress, der am 6. März zu Ende ging.


Opportunisten "Agenten des internationalen Imperialismus"

In seinem Referat "Über die Aufgaben der III. Internationale" arbeitete Lenin die zwingende Notwendigkeit des Bruchs mit den Opportunisten heraus. Schonungslos rechnete der Führer der Bolschewiki "mit dem Verrat der Arbeiterführer an der Sache der Arbeiter", "an der Revolution", "am Sozialismus" ab, entlarvte sie als "Agenten des internationalen Imperialismus, die innerhalb der Arbeiterbewegung tätig sind, die in ihr den bürgerlichen Einfluss, die bürgerlichen Ideen, die bürgerliche Lüge und die bürgerliche Demoralisation verbreiten". Gegen sie sei "ein unentwegter und unversöhnlicher Kampf notwendig", um sie "aus der Arbeiterbewegung hinauszujagen". Lenin unterstrich, wir werden "unsere sozialistischen Prinzipien wiederherstellen" und "eine wirkliche aktive Internationale" aufbauen, "die in der Periode der Revolution und des Neuaufbaus, die wir durchschreiten werden, der sozialistischen Bewegung hilft", ihre Aufgaben zu erfüllen. [3]


Graphik: Boris Kustodiev, Public domain, via Wikimedia Commons

Kunst und Klassenkampf - 'Der Bolschewik', Ölgemälde von Boris Michailowitsch Kustodijew von 1920, Tretyakov Gallery
Graphik: Boris Kustodiev, Public domain, via Wikimedia Commons


Gramscis Weg

Gut zwei Jahre nach der Gründung der KPD bildeten die revolutionären Linken Italiens am 21. Januar 1921 relativ spät die Kommunistische Partei Italiens (PCI), obwohl sie dazu mit ihren starken Positionen bereits 1919 in der Periode der revolutionären Nachkriegskämpfe in der Lage gewesen wären. Das war darauf zurückzuführen, dass Antonio Gramsci zunächst versuchte, die Sozialistische Partei (ISP) in eine "Revolutionäre Partei des Proletariats" umzuwandeln. Obwohl er dabei zunächst auf den Namen "Kommunistische Partei" verzichtete, ging es um den Bruch mit dem Opportunismus und um eine dem politischen Charakter nach kommunistische Partei. Gramsci hatte dazu eine fundierte Analyse vorgenommen, die ergab, dass es dafür zunächst durchaus günstige Bedingungen gab.


Es fehlte eine vergleichbare Arbeiteraristokratie

Im Ergebnis der relativ spät einsetzenden kapitalistischen Entwicklung hatte sich in Italien die Arbeiterbewegung erst seit Anfang der 1860er Jahre formiert, was auch dazu führte, dass es dem italienischen Imperialismus auf Grund seines ökonomischen Rückstands nicht gelang, eine beispielsweise mit der in der deutschen Sozialdemokratie vergleichbare Arbeiterarbeiteraristokratie hervorzubringen, was sich dann besonders im stärkeren Widerstand der Arbeiterbewegung bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges widerspiegelte.

Erst 1892 entstand in Genua die einheitliche Sozialistische Partei [4], aus der 1912 die offenen Reformisten ausgeschlossen wurden. Eine Gruppe gemäßigter Reformisten verblieb in der Partei, wurde aber nicht parteibeherrschend.

Mit rund 250.000 Mitgliedern stieg die ISP 1906 zur drittstärksten Arbeiterpartei Europas auf. Bauernaufstände 1894 auf Sizilien und Barrikadenkämpfe in Mailand 1898 vermittelten lehrreiche Erfahrungen und stärkten die Kampfkraft. 1900 setzte die Partei im Ergebnis eines Generalstreiks in der Industrie- und Hafenstadt Genua das Streikrecht durch. 1904 erzielte die ISP 20 Prozent aller Wählerstimmen, belegte aber auf Grund des reaktionären Wahlsystems in der Abgeordnetenkammer nur 5 Prozent der Sitze. 1906 entstand der Allgemeine Italienische Gewerkschaftsbund Confederazione Generale del Lavoro (CGdL), in dem sich rund 700 Einzelorganisationen mit 250.000 Mitgliedern zusammenschlossen. Das waren Grundlagen dafür, dass die ISP bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs als einzige westeuropäische Sektion der Zweiten Internationale Antikriegspositionen bezog. Ohne den Ausschluss der Reformisten 1912 wäre diese Antikriegshaltung kaum zustande gekommen.

Bereits im Juni 1914 hatten die revolutionären Linken mit machtvollen antimilitaristischen Arbeiteraktionen auf den drohenden Ausbruch eines Weltkrieges aufmerksam gemacht und im ISP-Vorstand und der CGdL einen Aufruf zum Generalstreik durchgesetzt. In Rom, Turin, Mailand, Genua, Florenz und Ancona kam es zu bewaffneten Erhebungen der Arbeiter und zu Barrikadenkämpfen. In den Regionen der Romagna und den Marken riefen die Aufständischen die Republik aus. Bei der Niederschlagung der Aufstände durch über 100.000 Soldaten gab es zahlreiche Tote und Verletzte.


Antikriegshaltung der ISP

Die Antikriegshaltung der ISP trug dazu bei, dass Italien nach einem Wechsel des Bündnisses vom Dreibund Deutschland-Österreich-Ungarn auf die Seite der Entente erst im Mai 1915 in den Krieg eintrat. Mit ihrer Ablehnung der Kriegskredite bewiesen die italienischen Sozialisten außerordentlichen Mut. Denn der Ex-Sozialist Mussolini hatte in seinem von den führenden Kreisen der Rüstungsindustrie (Ettore Conti, Elektroindustrie; Guido Donegani, Chemie; Giovanni Agnelli, Fahrzeugbau, Rüstung; Alberto Pirelli, Reifen und Gummi) finanzierten Kampfblatt "Pòpolo d'Italia" [5] vor der Parlamentsabstimmung über den Kriegseintritt gehetzt, die Abgeordneten, die noch nicht zum Kriegseintritt entschlossen seien - das waren vor allem die Sozialisten - "sollten vor ein Kriegsgericht gestellt werden", für "das Heil Italiens" seien, wenn notwendig, "einige Dutzend Abgeordnete zu erschießen", andere "ins Zuchthaus zu stecken". [6]

Ihre Antikriegsposition behaupteten die Sozialisten während des ganzen Krieges gegen die Versuche der Reformisten, sie zum Aufgeben zu bewegen. Ihre Haltung bildete, wie Lenin schrieb, "eine Ausnahme für die Epoche der II. Internationale." [7] Die Reformisten hatten bei Kriegsausbruch zunächst neutralistische Positionen bezogen und am 20. Mai 1915 noch gegen die Kriegskredite gestimmt, waren danach auf sozialchauvinistische Positionen übergegangen und hatten den Kriegseintritt unter der Losung des Kampfes der "demokratischen" gegen die "autoritären Staaten" unterstützt. Leonida Bissolati trat als Minister ohne Portefeuille in die Regierung ein. Eine Anzahl sogenannter "gemäßigter Reformisten" unter Filippo Turati [8] verblieb in der ISP und fügte sich bis 1917 der Antikriegsposition der Mehrheit. Als im Oktober/November 1917 deutsch-österreichische Truppen am Monte Grappa und am Piave die italienische Front durchbrachen und die dort stehenden 700.000 kriegsmüden italienischen Soldaten flohen, bezogen auch Turati und eine Anzahl "gemäßigter Reformisten" sozialchauvinistische Positionen und riefen zur Vaterlandsverteidigung auf. Der politisch-militärische Zusammenbruch Deutschlands und Österreichs rettete Italien vor weiteren Desastern. Als Wien am 4. November 1918 bei Padua vor der Entente kapitulierte, gehörte Rom zu den Siegern und forderte seine Kriegsbeute ein. Turati trat gegen den Beschluss des ISP-Vorstandes in die italienische Regierungskommission zur Vorbereitung eines imperialistischen Friedens ein.

Mit Gramci an der Spitze hatten die Linken im August 1917 die russische Februarrevolution zum Signal der Proteste der Arbeiter gegen Hungersnot und für Frieden genommen. Die Arbeiter setzten den reformistischen Turiner ISP-Vorstand ab und wählten eine neue Leitung mit Gramsci an der Spitze. Die Proteste mündeten wiederum in Barrikadenkämpfe, bei denen Hunderte Arbeiter getötet, noch viel mehr verwundet und Tausende verhaftet wurden. Erst nach vier Tagen gelang es der Armee, die Erhebung niederzuschlagen.


Revolutionäre Nachkriegskämpfe

Der Turiner Aufstand war ein Vorspiel der 1919 einsetzenden revolutionären Nachkriegskämpfe, in denen die linke Fraktion in der ISP zunächst einen vorherrschenden Einfluss ausübte. Die ISP-Führung begrüßte mehrheitlich die russische Oktoberrevolution und beschloss, der Kommunistischen Internationale beizutreten.

Die 1920 sprunghaft zunehmenden revolutionären Arbeiteraktionen bedrohten die Exisistenz der Herrschaft des Kapitals. Millionen streikten nicht mehr nur, um ihre materielle Lage zu verbessern, sondern für den Sturz der Ausbeuterordnung. Im August/September 1920 besetzten die Arbeiter alle großen Betriebe in Norditalien, wählten Fabrikräte, übernahmen die Leitung der Produktion (die sie trotz Sabotage des größten Teils des technischen Personals durchweg zu 70 Prozent aufrechterhielten) und bildeten bewaffnete Rote Garden zur Verteidigung der Unternehmen. Im Süden nahm die Inbesitznahme von Ländereien der Latifundistas teilweise Massencharakter an. Die Regierung musste durch Dekret das Vorgehen der Bauern legalisieren.

Die reaktionärsten Kreise erkannten die Gefahr und begannen, auf den Ex-Sozialisten Mussolini zu setzen. Im März 1919 gründete dieser zum Kampf gegen die erstarkende revolutionäre Arbeiterbewegung faschistische Kampfbünde, aus denen die faschistische Partei hervorging.

In den Arbeiterkämpfen wurde das Fehlen einer einheitlichen revolutionären Führungskraft immer deutlicher. Die Linken in der ISP versuchten nun, den Reformismus zu überwinden und die Partei auf einer revolutionären Linie zu einigen.


Gramscis Kampf mit der Ordine Nuovo

Nach dem Beispiel der im März 1916 von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und anderen Linken in Deutschland gegründeten Spartakusgruppe (seit November 1918 Spartakusbund) formierte Gramsci zusammen mit Palmiro Togliatti, Umberto Terracini und Angelo Tasca die revolutionären Linken zur Gruppe Ordine Nuovo (Neue Ordnung), die ab 1. Mai 1919 die gleichnamige Zeitschrift herausgab. Es gelang, neben proletarischen Autoren hervorragende Intellektuelle zur Mitarbeit zu gewinnen. In der "Ordine Nuovo" schrieben neben Arbeiterkorrespondenten und Arbeiterdichtern pazifistische Intellektuelle der Weltliteratur wie Romain Rolland, Henri Barbusse, Walt Whitman und Maxim Gorki. Neben kommunistischen Literaten publizierte beispielsweise der brillante liberale Kulturkritiker Piero Gobetti.


Porträt von Rosa Luxemburg - Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons Porträt von Karl Liebknecht - Foto: Copyright G. G. Bain, Public domain, via Wikimedia Commons

Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht - Mitbegründer der deutschen Spartakusgruppe, dem historischen Vorbild der italienischen Gruppe Ordine Nuovo
Foto Luxemburg: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons
Foto Liebknecht: Copyright G. G. Bain, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Ordinuovisten machten zunächst nicht publik, eine neue, eine kommunistische Partei zu gründen, definierten sich jedoch als Kommunisten und ihr Ziel einer sozialistischen Ordnung als kommunistische Gesellschaft. Sie bekannten sich zur Oktoberrevolution, zur Errichtung einer proletarischen Staatsmacht und zur im März 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale, verbunden mit der Forderung an die ISP, ihr beizutreten. Ihre politisch-organisatorischen Aktivitäten konzentrierte "Ordine Nuovo" auf die norditalienische Bewegung der Fabrikräte mit der Arbeitermetropole Turin. Sie suchte die Räte zu Keimzellen revolutionärer Machtorgane zu entwickeln. Eine der ersten großen Kampfaktionen, auf die Ordine Nuovo Einfluss nahm, war die Teilnahme der italienischen Arbeiter an dem internationalen Proteststreik gegen die ausländische imperialistische Intervention in Sowjetrussland und Räteungarn am 20. und 21. Juli 1919. Der Streik zeigte eine derartige Wirkung, dass die Regierung auf die bereits geplante Entsendung eines 100.000 Mann zählenden Heeres in die erdölreiche Region Georgien verzichtete. Außerdem zog sie die in Sibirien und im Fernen Osten stehenden italienischen Interventionstruppen ab.

Auf dem ISP-Parteitag im Oktober 1919 im roten Bologna konnten die Ordinuovisten ihre Forderungen weitgehend im Parteiprogramm durchsetzen. Lenin wertete das als "einen "glänzenden Sieg des Kommunismus", wünschte "viel Erfolg" und hielt fest, "das Beispiel der italienischen Partei wird von größter Bedeutung für die ganze Welt sein". Gleichzeitig warnte er vor Illusionen. "Die offenen und verkappten Opportunisten, die in der italienischen Partei unter den Parlamentariern so zahlreich sind, werden zweifellos die Beschlüsse des Parteitages von Bologna zu umgehen und zu durchkreuzen versuchen. Der Kampf gegen diese Strömung ist noch längst nicht beendet." [9] Die Warnung bestätigte sich, als die Partei einen Monat später bei den ersten Nachkriegswahlen ihre Stimmen gegenüber 1913 verdreifachte und 156 der insgesamt 508 Sitze in der Abgeordnetenkammer errang. Davon profitierten jedoch vor allem die Reformisten, da sie die meisten Parlamentssitze belegten. Reformisten aber auch Zentristen traten nunmehr offen für einen Kompromiss mit dem Kapital ein. Die Arbeiterkontrolle der Fabrikräte definierten sie als "konstruktive Zusammenarbeit" mit den Unternehmern und wandten sich gegen "revolutionäre Aktionen", was bewirkte, dass die Fabrikräte sich auflösten oder mit Hilfe der Polizei zerschlagen wurden. Von ihnen ging keine unmittelbare Gefahr mehr für die kapitalistische Herrschaft aus. Diese drohte von den sprunghaft zunehmenden revolutionären Arbeiteraktionen.

Millionen streikten nicht mehr nur, um ihre materielle Lage zu verbessern, sondern für den Sturz der Ausbeuterordnung. Die Auseinandersetzungen fanden im Klima des von Mussolini mit seinen faschistischen Kampfbünden entfesselten Terrors zur Verhinderung einer möglichen linken Machtergreifung statt.


Für eine "Partei des revolutionären Proletariats"

Gramsci gab noch nicht auf. Mit einem am 8. Mai 1920 in der Ordine Nuovo veröffentlichten "Programm für die Erneuerung der Sozialistischen Partei" unternahm er einen weiteren Versuch, die ISP in eine "Partei des revolutionären Proletariats", die für "die Zukunft einer kommunistischen Gesellschaft" eintritt, umzugestalten. Es war eine Kompromissformel, mit der er auf den von den Zentristen abgelehnten Namen "Kommunistische Partei" verzichtete. Der Kern der Forderungen blieb jedoch der Bruch mit dem Opportunismus.


Foto: Antonio Gramsci (1891-1937), Public domain, via Wikimedia Commons

Titelseite der Ausgabe der Zeitung L'Ordine Nuovo für den 11. bis 18. Dezember 1920
Foto: Antonio Gramsci (1891-1937), Public domain, via Wikimedia Commons


Lenin "über den Kampf innerhalb der Italienischen Sozialistischen Partei"

Lenin billigte das Vorgehen Gramscis. In seiner Rede "über den Kampf innerhalb der Italienischen Sozialistischen Partei" ging er von der Lage in Italien aus, in welcher der Sturz des bürgerlichen Kabinetts und die Bildung einer linken Regierung eine reale Möglichkeit bildete. Für diesen "Sieg der Revolution in Italien" sei unbedingt notwendig, dass "die Vorhut des revolutionären Proletariats in Italien eine wahrhaft kommunistische Partei wird". [10]

Mit dem Programm setzte Gramsci die 21 Aufnahmebedingungen der Kommunistischen Internationale (KI) auf die Tagesordnung, in deren Punkt sieben es hieß: "Die Parteien, die der Kommunistischen Internationale angehören wollen, müssen die Notwendigkeit des vollständigen und absoluten Bruchs mit dem Reformismus und mit der Politik der Zentristen anerkennen und diesen Bruch in den weitesten Kreisen der Parteimitgliedschaft propagieren". [11]

Gemäß ihrem Programm, das den Hinweisen Lenins entsprach, forderten die Ordinuovisten auf dem XVII. Parteitag der ISP, der am 15. Januar 1921 in Livorno zusammentrat, nach Punkt sieben der 21 Aufnahmebedingungen des II. KI-Kongresses von 1920 den "vollständigen und absoluten Bruch mit dem Reformismus und mit der Politik der Zentristen". [12] Das lief darauf hinaus, dass die Zentristen sich von den Reformisten trennen und zusammen mit den Ordinuovisten für deren Ausschluss aus der Partei stimmten sollten.


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Lenin (ganz vorne links) und andere Delegierte des II. Weltkongresses der Komintern am 19. Juli 1920
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Nach dem Scheitern Gründung der Kommunistischen Partei (IKP)

Auf dem Kongress vertraten die Zentristen 98.028 Mitglieder, Ordine Nuovo 58.783 und die Reformisten 14.695. Die Ordinuovisten erwarteten, dass Giacinto Menotti Serrati, der sich vor dem Parteitag wiederholt von den Reformisten distanziert hatte, für ihren Ausschluss stimmen würde. Mit dem Argument, die Einheit der Partei zu wahren, lehnten die Zentristen den Ausschluss der Reformisten jedoch ab. Daraufhin verließen die Ordinuovisten am Morgen des 21. Januar geschlossen das Tagungsgebäude im Goldini-Theater und gründeten im Sankt Markus-Theater die Kommunistische Partei. Sie nannte sich Kommunistische Partei Italiens, Sektion der KI. Nach Auflösung der Komintern führte sie ab 1943 den Namen Italienische Kommunistische Partei (IKP).

Zum Generalsekretär wurde Amadeo Bordiga gewählt, der entscheidend zu den Antikriegspositionen der ISP beigetragen hatte. Er setzte sich aktiv für eine revolutionäre Basisarbeit ein, trat jedoch gegen eine Teilnahme an Wahlen auf und lehnte Formen des parlamentarischen Kampfes ab, da er das bürgerliche Parlament als eine Basis des Opportunismus in der Arbeiterbewegung betrachtete. Er verkannte die faschistische Gefahr und die Notwendigkeit der von Gramsci besonders nach dem Machtantritt Mussolinis im Oktober 1922 vertretenen breiten antifaschistischen Bündnispolitik. Wegen seines Sektierertums und der Massenentfremdung, welche die Haltung der Führungsgruppe der Partei prägten, wurde er 1926 aus dem Zentralkomitee (ZK) ausgeschlossen. Sein Nachfolge als Generalsekretär trat Gramsci an. Zu den 15 ZK-Mitgliedern gehörten Gramsci, Tasca [13] und Terracini [14]. Unmittelbar nach dem Parteitag schlossen sich 35.000 der insgesamt 41.000 Jungsozialisten der IKP an, die so auf fast 100.000 Mitglieder anwuchs. Serrati korrigierte später seine Haltung, wurde Führer der Terzinternationalisten, welche die ISP an die KI annähern wollten, brach 1924 mit den Reformisten und trat der IKP bei, die ihn in ihr Zentralkomitee aufnahm. [15]


Herausragendes Ereignis in der westeuropäischen Arbeiterbewegung

Das Entstehen einer kommunistischen Partei in Italien, einem Land, das auf Jahrzehnte revolutionärer Arbeiterkämpfe zurückblickte, war nach der Bildung der deutschen KPD das herausragende Ereignis in der westeuropäischen Arbeiterbewegung.

Gramsci ist oft nachgesagt worden, er habe die Trennung von den Reformisten als einen großen Fehler gesehen. Das entstellt seine Haltung. Tatsächlich sah er im Misslingen seiner Konzeption der Umwandlung der ISP in eine revolutionäre Partei des Proletariats "den größten Triumph der Reaktion". [16] Die Trennung bezeichnete er auf dem Parteitag in Lyon in gewisser Weise als eine Bedingung für das spätere Zusammengehen mit den Sozialisten gemäß dem Hinweis, den Lenin Serrati gegeben hatte: "Trennt euch von Turati, und danach verbündet euch mit ihm!". Gramsci schätzte grundsätzlich ein, "dass unsere Partei mit ihrem Entstehen endgültig das historische Problem der Bildung der Partei des italienischen Proletariats gelöst hatte." In dieser Auffassung bestärkten ihn die Erfahrungen der Räterevolution in Ungarn, wo er im Zusammenschluss der Kommunisten und Sozialdemokraten einen Faktor sah, der zur Niederlage beitrug. Darüber hinaus wäre es ohne die Gründung der IKP nicht möglich gewesen, eine revolutionäre Strategie der Arbeiterklasse als entscheidende Grundlage des Kampfes, der zum Sturz Mussolinis und zur Niederlage des Faschismus führte, zu erarbeiten.


Anmerkungen:

[1] Werke, Bd. 21, Berlin/DDR 1960, S. 20.

[2] "Ein erster Schritt", ebd., S. 394.

[3] Bd. 29, Berlin/DDR, 1961, S. 485-504.

[4] Sie nannte sich zunächst Partei der italienischen Arbeiter. Den Namen Italienische Sozialistische Partei (ISP) nahm sie erst 1893 an.

[5] Alan Friedmann: Das Gesicht der Macht, München 1989, S. 47 ff.

[6] Georg Scheuer: Genosse Mussolini, Wien 1985, S. 43.

[7] Bd. 21, S. 100.

[8] Während Turati einen gemäßigten Reformismus für geraten hielt, stieg Bissolati zu dessen exponiertestem Vertreter auf. Er orientierte sich an Eduard Bernstein und Karl Kautzky, trat offen für eine Revision des Marxismus ein und bekannte sich zur Solidarität mit dem bürgerlichen Staat "mit intelligenter und moderner Bourgeoisie".

[9] An Genossen Serrati und die italienischen Kommunisten überhaupt. Bd. 30, Berlin/DDR 1961, S. 75.

[10] Bd. 31, Berlin/DDR 1959, S. 373-385.

[11] Werke, Bd. 31, S. 196.

[12] Bedingungen für die Aufnahme in die Kommunistische
Internationale, in: 31, S. 196.

[13] Tasca nahm 1922 am IV. Kongress der Komintern teil, wurde danach Mitglied des Sekretariats des ZK der IKP, auf dem VI. KI-Kongress in deren Sekretariat berufen. 1929 mit Begründung der Fraktionsbildung (Tasca-Gruppe) und Anhänger Bucharins aus der IKP ausgeschlossen. Befasste sich danach in Frankreich mit Faschismusforschung und schrieb das bedeutende Werk "Aufstieg des Faschismus in Italien". Er blieb, wie Ignazio Silone im Vorwort dazu schrieb, "ein Sozialist der alten Garde" und hat sich nie zu Denunziationen gegenüber der IKP oder der kommunistischen Bewegung hergegeben.

[14] Terracini war Delegierter zum III. KI-Kongress. Von Mussolinis Sondertribunal 1926 zu 20 Jahren Kerker verurteilt, aktiv in der Resistenza, 1947 Präsident der Konstituente. Bis zu seinem Tod 1983 Mitglied des Senats.

[15] Antonio Gramsci: Zur Politik, Geschichte und Kultur, Frankfurt/Main 1986, S. 362.

[16] Palmiro Togliatti: Reden und Schriften, Frfankfurt/Main 1967, S. 165, 183.

[17] Gramsci, a. a. O., S. 165.

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Quelle:
© 2021 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2021

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