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NEUZEIT/228: Erster Weltkrieg - Kampf um die Weltherrschaft (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 33 vom 15. August 2014
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Kampf um die Weltherrschaft
Vor 100 Jahren entfesselten die imperialistischen Hauptmächte den Großen Krieg - seine erste Etappe

von Klaus Wagener



"Mitten im Frieden überfällt uns der Feind", hatte der blitzende Hohenzoller behauptet. Zu diesem Zeitpunkt, am 6. August 1914, beschossen die deutschen Kanonen schon die Festungen von Lüttich. Belgien hatte die ersten Massenerschießungen von Zivilisten erlebt. Das ebenfalls neutrale Luxemburg war schon am 2. August besetzt worden. Die Zerstörung belgischer Städte durch das Deutsche Heer war der Vorbote des Kommenden. Von einem feindlichen Überfall auf das Reich, "mitten im Frieden", konnte natürlich keine Rede sein. Die Rede des Hohenzollern "An das deutsche Volk!" war ebenso eine Propagandalüge wie die seines braunen Nachfolgers, der nur 25 Jahre später behaupten sollte: "Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen."

Die Vorstellung eines Überfalls, eines Weltkrieges aus heiterem Himmel, ist natürlich ebenso eine Fiktion wie die nachgereichten "Erklärungen" eines "Hineinschlitterns" (David Lloyd George) oder die der "Schlafwandler" (Christopher Clark). Wie Fritz Fischer ("Griff nach der Weltmacht") darlegen konnte, wusste man an den entscheidenden Stellen schon sehr genau, was man tat. Um die Entscheidung zu einer derart komplexen und umfassenden Operation wie die Entfesselung des 1. imperialistischen Krieges aber überhaupt treffen zu können, bedurfte es des Vorhandenseins elementarer Voraussetzungen. Auf der militärischen Ebene langfristiger, detaillierter Planungen, eines effektiven militärischen Trainings großer Armeekorps, militärisch ausgerichteter Infrastruktur, wie die einer strategisch ausgerichteten Verkehrsinfrastruktur. Auf der Bewusstseinsebene der Schaffung eines wirksamen Propagandaapparates, und als wichtigstes des Aufbaus eines kompetitiven militär-industriellen Komplexes plus der dazugehörenden Sicherung der strategisch erforderlichen personellen, finanziellen und nicht zuletzt auch der kriegswichtigen Rohstoffressourcen. Die Entscheidungen in der Julikrise sind ohne ihren handlungsleitenden strukturellen Hintergrund nicht denkbar. Will man dennoch von politischen Richtungsentscheidungen reden, so liegen sie mehr als 20 Jahre vor dem August 1914.


Das Ende der "Saturiertheit"

Ausgangspunkt für die militärischen Planungen war auf der politischen Ebene das Zerbrechen des Bismarckschen Bündnissystems Mitte bis Ende der 1880er Jahre. Besser gesagt, der Torpedierung dieses Systems. Bismarck steht für die Phase der militaristischen Reichseinigung von Oben, der Verpreußung Deutschlands und dessen innerer Stabilisierung. Sein Bündnissystem sollte äußere Bedrohungen (Zweifrontenkrieg) abwehren, aber keine eigenen Ansprüche aufbauen: "Das Deutsche Reich ist saturiert." Seine Nachfolger hingegen wollten den Zweifrontenkrieg nicht mehr vermeiden, sondern gewinnen.

Als 1890 die Verlängerung des deutsch-russischen "Rückversicherungsvertrages" an der hartnäckigen Weigerung des Reiches scheiterte, zerfiel der Versuch die Interessen der europäischen Großmächte vertraglich auszubalancieren. Die stürmische industrielle Entwicklung des Reiches ließ Bismarcks "Saturiertheit" vergessen. Der zackige Kaiser, der personalisierte Ausdruck des neureich gewordenen Zweiten Reiches wollte mit einer "Politik der freien Hand" den "Platz an der Sonne" erobern. Konsequenterweise entstanden nun auf der (selbstredend ebenso imperialistischen) Gegenseite die entgegengesetzten Bündnissysteme (Zweiverband, Entente cordiale, Triple entente) mit der logischen Zielstellung, einer Expansion des Reiches entgegen zu treten.

Die entsprechenden militärischen Planungen des "Großen Generalstabs" begannen Ende der 1880er Jahre noch unter dem preußischen Generalstabschef Helmuth Karl Bernhard von Moltke. Der Expansionismus der Mittelmächte (wie später der des "Antikomintern-Paktes" 1936 ff.) agierte aus einer Position strategischer Unterlegenheit. Der große Teil der Donaumonarchie war agrarisch geprägt, die Industrialisierung Deutschlands war zwar stürmisch, aber nachholend. Die etablierten Mächte England und Frankreich hatten die Welt, die Märkte und Ressourcen unter sich aufgeteilt. Die Mittelmächte hatten nicht nur ein Macht- und Volumen-, sondern auch ein Zeitproblem. Sie waren nicht nur in fast jeder Hinsicht quantitativ kleiner, sondern sie kamen auch zu spät und ihnen lief, mit der Industrialisierung Russlands, die Zeit davon. Je länger man wartete, umso ungünstiger die Bedingungen, so die Kalkulation der Generale.


Der Zwang zum Blitzkrieg

Der ältere Moltke befürwortete schon 1887 dringend einen "Präventivkrieg" gegen Russland. Auch sein Nachfolger Alfred von Waldersee (1888-1891) wollte mit der Donau-Monarchie gegen Russland ziehen und mit den zurückgehaltenen zwei Dritteln der deutschen Kräfte später auch das französische Heer zerschlagen. Waldersees Nachfolger Alfred von Schlieffen (1891-1905) radikalisierte das deutsche Expansions-Konzept und kehrte es gewissermaßen um, zu einem Angriffskrieg zunächst gegen Frankreich, dessen strategisches Rückgrat ein Überfall, eine Besetzung und ein schneller Durchmarsch durch das neutrale Belgien bildete. Da das russische Heer zur vollständigen Mobilisierung einen relativ langen Zeitraum benötigte, sollte das französische Heer in einer Zangenbewegung schnell zerschlagen und die Hauptmacht des Deutschen Heeres danach auf dafür angelegten strategischen Bahnen nach Osten transportiert werden, um die dort stationierten relativ schwachen Kräfte zu einem Angriff gegen die zaristische Armee rechtzeitig verstärken zu können.

Unabdingbar blieb in diesem Konzept aber die Neutralität Englands, letztlich auch der USA. Ohnehin eine luftige Wette, aber durch das Tirpitzsche Flottenprogramm wurde diese Spekulation auf Britanniens "Splendid Isolation", dem von Disraeli und Cecil begründeten Kolonialimperialismus bei gleichzeitiger zentraleuropäischer Bündnisneutralität, von eigener Hand versenkt. Der britische Imperialismus musste sich von der deutschen Seerüstung in seinen Interessen spätestens seit der Marokkokrise existentiell bedroht sehen. (Was ja letztlich auch Ziel der Veranstaltung war). Das Zweite Reich rüstete de facto für einen Dreifrontenkrieg; den zu gewinnen allerdings alle Voraussetzungen fehlten.

Schon hier ist zu erkennen, der (alles andere als schlafwandlerische) Drang, aus einer Position der strukturellen Unterlegenheit zu einer militärisch erzwungenen Expansion zu kommen mündet zwangsläufig ideologisch in zynischem Irrationalismus und politisch-militärisch in menschenverachtendem Abenteurertum. Um zum Erfolg kommen zu können, musste der "Feind" möglichst blitzartig überraschend überfallen werden, bevor er seine Kräfte entfalten konnte. Der Zeitfaktor bekommt überragende Bedeutung. Der Kriegsausgang wird abhängig von der Geschwindigkeit. Das Blitzkriegskonzept liegt, aufgrund der technischen Möglichkeiten zwar noch unterentwickelt, schon dem Schlieffenplan zugrunde. Noch sind zu Lande die Eisenbahn, die Artillerie und die gedrillten Millionenheere das Maß der Dinge. Noch glaubt der "Große Generalstab" hier im Vorteil zu sein.


Sarajewo

Kriegsanlass war, wie fast immer, ein relativ unbedeutendes Ereignis: Das Attentat auf den jagdbesessenen Habsburger Franz Ferdinand und seine Gattin. Nach dreiwöchigen Debatten war man in Wien, die erforderliche Rückendeckung aus Berlin war inzwischen eingetroffen, zu einem ultimativen Forderungskatalog an Belgrad gelangt, der unter anderem eine Untersuchung des Attentats auch durch k. u. k.-Beamte verlangte. Dieses Rambouillet des Jahres 1914 konnte und wollte die Regierung des serbischen Königs Alexander I. Karadorgevic nicht unterzeichnen. Damit war der casus belli geschaffen. Es konnte endlich losgehen.

Innerhalb weniger Tage (1.-6. August 1914) hatten sich auch die an den Ereignissen in Sarajevo völlig unbeteiligten europäischen Hauptmächte den Krieg erklärt. Wegen angeblicher Bündnisverpflichtungen (die im Zweifel natürlich niemanden interessiert hätten). Die Deutsche Führung ergriff entsprechend ihrer langjährigen Vorbereitungen die Initiative: Das Deutsche Heer marschierte durch Luxemburg und Belgien Richtung Paris. Das alles hatte mit Franz Ferdinand und Gavrilo Princip natürlich nicht das Geringste zu tun. Aber nun waren die in Jahrzehnten aufgerüsteten und auf Kadavergehorsam gedrillten Mordmaschinerien von der Kette. Das große Schlachten hatte begonnen.


Kriegsziele

Die leichten Erfolge gegen das weit unterlegene Belgien und die Anfangserfolge im wenig befestigten Norden Frankreichs steigerten die Siegeseuphorie. Krupps "Dicke Bertha" hatte den nichtarmierten Beton der älteren belgischen und französischen Sperrforts spektakulär durchschlagen. Anfang September war die deutsche 1. Armee nur noch 60 km von Paris entfernt. Die Regierung Poincaré nach Bordeaux geflüchtet. Im Osten war die russische 2. Armee bei Allenstein (später zu Propagandazwecken in Schlacht bei Tannenberg umgetauft) und zwei Wochen später die 1. Russische Armee an den Masurischen Seen vernichtend geschlagen worden. Der "Platz an der Sonne" schien in greifbarer Nähe.

Es war der Zeitpunkt gekommen Tacheles zu reden. Zumindest intern. "Um Sein oder Nichtsein unseres Reiches handelt es sich", hatte der Hohenzoller erklärt, "wir werden uns wehren bis zum letzten Hauch von Mann und Ross." Nun, was da jetzt kurz vor Paris passierte, ließ sich kaum noch mit "wehren bis zum letzten Hauch von Mann und Ross" beschreiben.

Was war es also wirklich, was man mit diesem Krieg wollte? Die Situation geriet zu einer Art "Wünsch dir was!" der verschiedenen Pressure-Groups. Kriegsziel-Programme schossen wie Pilze aus dem Boden. Reinhard Opitz gibt in seinem Dokumenten-Band "Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945" einen guten Überblick. Allein die "Kriegsdenkschrift" des Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß, mit ihren detaillierten Annexionsplänen umfasst mehr als 40 Seiten. Eines der weitestgehenden "Programme" stammt von August Thyssen, der, das Programm des faschistischen zweiten Versuchs vorwegnehmend, forderte, "nach dem Kaukasus und Kleinasien (zu) kommen, um England in Ägypten und Indien, wenn erforderlich, erreichen zu können."

Am 9. September 1914, auf dem Höhepunkt der Schlacht an der Marne, formulierte der Reichskanzler, Theobald von Bethmann Hollweg die Kriegsziele der Reichsregierung in einem 6-Punkte-Programm, dessen (im Kriegsverlauf variierter) Expansionismus sich im Westen gegen den Norden Frankreichs, sowie Belgien, Luxemburg und die Niederlande richtet. Im Osten (noch relativ unklar) gegen das Baltikum, Polen und Russland. Darüber hinaus sei die "Schaffung eines zusammenhängenden mittelafrikanischen Kolonialreichs anzustreben", das in manchen Vorstellungen etwa vom Senegal bis Madagaskar reichte. Dazu kam die "Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes". Mitglieder sollten sein Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und eventuell Italien, Schweden und Norwegen. "Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muss die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren."

Damit war nun zur offiziellen Regierungspolitik erhoben, was seit langem in den strategischen Zirkeln der herrschenden Klasse wie dem Centralverband deutscher Industrieller, dem Alldeutschen Verband, dem Deutschen Flottenverein, bei Deutschkonservativen, Freikonservativen und Nationalliberalen und anderen Expansionisten diskutiert wurde.


Geostrategie

Der Wiener Kongress hatte 1815 den deutschen Partikularismus zwar etwas übersichtlicher gestaltet, aber keineswegs abgeschafft. In der Europäischen "Pentarchie", der Großmächte Frankreich, Russland, Österreich, England war Preußen der durch das Kriegsglück der Befreiungskriege aufgestiegene, ansonsten etwas minderbemittelte Newcomer. Spezifika wie der Dreißigjährige Krieg und die Bauernkriege hatten im Zentrum Europas lange die Herausbildung eines industrie- und kapitalismusförderlichen Zentralstaates, wie in England und Frankreich, verhindert und stattdessen den reaktionären Marsch in die Re-Feudalisierung einer "zweiten Leibeigenschaft" befördert. Vor dem Hintergrund einer nachholenden Industrialisierung wurde für die herrschenden Kreise die Beendigung des damit verbundenen machtpolitischen Vakuums in der Mitte Europas zu einer gewissen Strukturnotwendigkeit. Und damit Gegenstand der strategischen, pangermanistisch und antisemitisch geprägten Debatten. Paul de Lagarde hatte schon 1853 für ein Deutschland, das es da noch gar nicht gab, unter anderem gefordert: "... dass Russisch-Polen im Osten, und zwar über die Weichsel hinaus bis an die Pinsker Sümpfe, Elsass und das gesamte Lothringen östlich von den Argonnen zu Deutschland zu ziehen sein wird." Im Verlauf des stürmischen ökonomischen und militärischen Wachstums gerieten immer weitergehende Gebietsforderungen, schließlich die Vorherrschaft in Europa, letztlich die Weltmachtposition (auf Augenhöhe mit England und den USA) ins Visier.

Diese Ambitionen des Deutschen Reiches waren nun keineswegs etwas Besonderes. Wie alle Großen Reiche seit der Antike waren auch die imperialistischen Mächte der Neuzeit ausnahmslos durch Krieg, Raub, Unterdrückung, Betrug und Sklaverei entstanden. Der Leuchtturm der Freiheit, die USA, hatte sein Territorium mit Völkermord und seine dominante Machtposition durch eine allenfalls noch von Rom übertroffene Serie von Kriegen erobert. Eine Serie, die bis heute anhält. Bei den Kolonialimperien Frankreichs und Englands war es kaum anders, auch Russland, selbst immer wieder Objekt von Eroberungszügen, wuchs durch zahllose Kriege aus dem Moskauer Großfürstentum Iwans III. zu einem Dritten Rom, einer kontinentalen Vormacht von Preußen bis Kanada. Das Besondere an den deutschen Ambitionen war, dass sie unter den Bedingungen des entwickelten Kapitalismus gegen die ebenfalls hochgerüsteten übrigen Mitglieder des imperialistischen Wolfsrudels ins Werk gesetzt werden mussten und nicht, wie üblich, "heldenhaft" gegen weit unterlegene Völker mit Holzspeeren erkämpft werden konnten. Die Leitwölfe hatten ihre Beute, die Welt, weitgehend unter sich aufgeteilt und verspürten wenig Neigung davon etwas herauszurücken.

Ganz im Gegenteil. Auch die imperialistischen Entente-Mächte versuchten natürlich ebenfalls den Krieg zum Ausbau ihrer Positionen zu nutzen. Wie Berlin sich die strategische Schwächung Frankreichs zum Ziel gesetzt hatte, so hatte auch Frankreich sich die strategische Schwächung Deutschlands zum Ziel gesetzt. Konkret die "Repatriierung" Elsass-Lothringens, die Annexion des Saarlandes, der linken Rheinseite sowie die Zerschlagung der Reichseinheit in unabhängige Staaten. Das Ziel Englands, bestand nun darin, aus diesem kontinentalen Konflikt ein gegenseitiges Neutralisieren der europäischen Zentralmächte im Hinblick auf die eigenen überseeischen Ambitionen zu gestalten. Zentral war dabei das Interesse Englands sich Teile des taumelnden Osmanischen Reiches vor allem im Nahen Osten (Sykes-Picot-Abkommen 3. Januar 1916) unter den Nagel zu reißen. In Afrika und Übersee führte es Eroberungskriege gegen die kaum zu verteidigenden deutschen Kolonien wie Togo, Kamerun und Deutsch-Süd-West. Russland wollte sich den Zugang zum Mittelmeer, Konstantinopel, den Bosporus und die Dardanellen sichern. Hier kreuzten sich allerdings seine Interessen mit denen des British Empire, welches global möglichst alle strategischen Meerengen kontrollieren wollte und dem ein Ausgreifen des russischen Konkurrenten in den Mittelmeerraum ein Dorn im Auge war. In den USA drängte vor allem das in die Finanzierung der Entente-Mächte engagierte Finanzkapital (speziell J. P. Morgan) zum Krieg. Wall Street witterte die Chance, sich neben London und Paris als die globale Finanzmetropole zu etablieren und in Europa neue Absatzmärkte zu erobern.

Mit dem Eintritt des Osmanischen Reiches am 12. November 1914 in den Krieg, an der Seite der Mittelmächte, schossen in Berlin die Phantasien erst recht ins Kraut. Die von den Jungtürken entwickelte elitär-rassistische Expansions-Ideologie eines Panturkismus oder Panturanismus (analog zu Pangermanismus, Panslawismus oder Zionismus), verbunden mit dem aktuellen, gewissermaßen panislamistischen Aufruf zum Dschihad, stellte ein offen expansionistisches Konzept zur Eroberung und Annexion weiter Teile Kaukasiens und Zentralasiens (Iran, Afghanistan) dar. Als strategischer Verbündeter dieses expansiven Großreiches (Deutschland modernisierte seit den 1890ern die Bewaffnung und stellte eine umfangreiche Militärmission bis hin zum türkischen Generalstabschef) hofften die Berliner Strategen bis Ägypten und letztlich bis Indien ausgreifen zu können. Gewissermaßen die alte geostrategische Phantasmagorie eines zentralen eurasischen Großreiches (etwa analog der Heartland-Theory Halford Mackinders) realisieren und so das britische Weltreich über Land aus den Angeln heben zu können.


Kriegstechnik und Kriegsverlauf

"Kein Plan überlebt die erste Feindberührung", hatte der ältere Moltke gewarnt. Mit der französischen Gegenoffensive am 6. September war der Überraschungseffekt aufgebraucht, der Vormarsch gestoppt und der Schlieffenplan kurz vor Paris ebenso gescheitert, wie der zweite Versuch 27 Jahre später vor Moskau scheiterte. Auf der operativen Ebene fehlten die erforderlichen Offensivmittel, um einen weiteren Vormarsch erzwingen zu können. Die gegenseitigen Angriffe blieben im Stacheldraht und im MG-Feuer stecken. Auch die massierte Artillerie-Vorbereitung erbrachte keine effektive Ausschaltung der gegnerischen Abwehrkräfte. Wenige MG-Schützen reichten in der Regel, um den weitgehend ungedeckten Angriff der Infanterie zu stoppen. Die Armeen gruben sich im Westen in die Gräben ein, aus denen sie bis zum Kriegsende kaum noch, und wenn, dann nur unter Inkaufnahme Tausender Toter, hinaus kamen. Strategisch war der Ausgang des Krieges damit wieder zu einer Frage der Menschen- und Materialressourcen geworden. Hier waren die Entente-Mächte, auch vor Kriegseintritt der USA, drückend überlegen. Dass von deutscher Seite dennoch weiter gekämpft wurde und Millionen sinnlos sterben mussten (sinnlos war das Sterben in diesem Krieg im humanen Sinne von vornherein. Ab Ende 1914 war es das selbst im militärischen Kalkül), legt den zynisch-brutalen Antihumanismus des deutschen Militarismus auch gegen die so gefeierte "eigene Nation" offen. Ein Zynismus, wie er 1945 im Kampf bis zum buchstäblichen letzten Mann vor der Reichskanzlei seinen extremen Ausdruck finden wird.

Die Lage zur See gestaltete sich für die Mittelmächte noch unerfreulicher. Seit 1897 hatte die Aufrüstung der Deutschen Kriegsflotte mit Alfred von Tirpitz einen energischen Propagandisten bekommen. Das Wettrüsten zur See mit immer größeren Schlachtschiffen, das nun - neben der Aufrüstung zu Lande - einsetzte, brachte das Reich an den Rand seiner finanziellen Möglichkeiten. Dennoch konnte keines der konzeptionellen Ziele, die von Tirpitz propagiert worden waren, erreicht werden. Die Flotte blieb ein teurer Torso. Die Royal Navy konnte erfolgreich ihre Blockade der Mittelmächte in der Nordsee durchsetzen. Die Skagerrak-Schlacht (31. Mai - 1. Juni 1916), obwohl für die deutsche Seite - relativ - glücklich ausgegangen, konnte die Dominanz der Grand Fleet nicht brechen. Die kaiserliche Flotte wagte danach keine Entscheidungsschlacht mehr. Auch der "U-Boot-Krieg" brachte, obwohl neben den unbewaffneten Handelsschiffen auch einige britische Kriegsschiffe spektakulär versenkt wurden, keine Änderung der Lage. Nach Versenkung der "Lusitania" und der "Arabic" (1915) begann man in Berlin einzusehen, dass sich die Ergebnisse des "unbeschränkten U-Boot-Krieges", im Hinblick auf die USA eher kontraproduktiv gestalten würden. Die Blockade blieb. In Deutschland verhungerten im 1. Weltkrieg etwa 800.000 Menschen. Das Flottenprogramm erwies sich als der wohl grandioseste Fehlschlag des weltmachtsüchtigen deutschen Militarismus.

Der Krieg im Osten förderte im Verlauf die inneren Schwächen des Zarismus und der Donaumonarchie immer mehr zu Tage. Die Mittelmächte konnten zwar im Osten erhebliche Geländegewinne (Baltikum, Polen, Belorussland, Rumänien) erzielen, doch nur bei massiver Unterstützung des unter den hohen Verlusten immer mehr zusammenbrechenden habsburgischen Bündnispartners durch deutsche Einheiten und Kommandostrukturen. Was eine immer stärkere Verpreußung des gesamten Ostfeldzuges zur Folge hatte. Der Vorteil der Mittelmächte bestand darin, dass der Zarismus sich offenbar noch stärker in Auflösung befand als die Donaumonarchie. Trotzdem kam die Oberste Heeresleitung (OHL) nicht umhin, auch unter Inkaufnahme einer Schwächung der Westfront, mehr Truppen als geplant nach Osten zu verlegen. Die (relativen) Erfolge im Osten führten zu einer gewissen Umkehr des strategischen Ansatzes: In der OHL hoffte man nun zuerst Russland ausschalten zu können und dann im Westen mit ganzer Kraft siegreich zu sein. Im Osten konnte man zu kriegswirtschaftlich wichtigen Erfolgen kommen (beispielsweise rumänisches Erdöl). Dieser Ansatz hatte das geostrategische Denken (Lebensraum) schon lange geprägt.

Auch im Südosten sah es zunächst für die Mittelmächte relativ erfolgreich aus. Der von Winston Churchill 1915 forcierte Versuch von mehr als einer halben Million Briten, Franzosen, Australiern und Neuseeländern (ANZAC), über die Dardanellen nach Konstantinopel vorzustoßen, scheiterte nach einem Landungsunternehmen auf der Halbinsel Gallipoli auf der ganzen Linie. Nach dem Verlust von etwa 150 000 Toten und Verwundeten musste die Invasionsarmee evakuiert werden. Trotz der großen eigenen Verluste von etwa 200 000 Toten und Verwundeten beflügelte der Sieg die osmanischen Kräfte. Aber die Erfolge in Mesopotamien konnten nicht verdecken, dass die von deutscher Seite geforderte Einnahme des strategisch wichtigen Suez-Kanals außerhalb der osmanischen Möglichkeiten lag. Von einer Expansion in Richtung Zentralasien/Indien erst gar nicht zu reden.

Der relativ größte "Erfolg" der Mittelmächte ergab sich aus dem Ausscheiden Russlands aus dem Krieg. Die Bolschewiki hatten mit der alten sozialdemokratischen Forderung ernst gemacht. Die Krise des imperialistischen Kriegs zur Abschaffung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu nutzen. Nun galt es das Versprechen auf Frieden, Brot und Land zu realisieren. Eine allgemeine Friedenskonferenz war nicht zu erreichen. Die Burgfriedenspolitiker der SPD hielten ihre Kumpanei mit dem deutschen Imperialismus auch nach dem Roten Oktober aufrecht. Daher konnte der deutsche Generalstab, speziell Erich Ludendorff, den Bolschewiki in Brest-Litowsk einen Raub-Frieden diktieren, der dem Land ein Viertel seines europäischen Territoriums, ein Drittel seiner Bevölkerung und drei Viertel seiner Kohlegruben und seiner Eisenindustrie kostete. Damit waren die Annexionspläne der OHL noch lange nicht erfüllt. Nur die katastrophale Lage im Westen bewahrte den Roten Oktober vor dem Erwürgtwerden in der Wiege.


Ergebnisse

"Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt", hatte Friedrich Engels schon 1887 prophezeit. 30 Jahre später hatten rund 65 Mio. Soldaten nicht nur Europa verwüstet. Es mussten 17 Millionen Tote aus aller Welt begraben werden. Von den geschwächten Überlebenden fielen mehr als 25 Mio. der Spanischen Grippe zum Opfer. Die Kronen lagen in Berlin, Wien, St. Petersburg und Konstantinopel auf dem Pflaster. Die feudalen Dynastien, welche die europäische Geschichte Jahrhunderte bestimmt hatten, waren Geschichte.

Die gesamten direkten Kriegskosten werden auf rund eine Billion Goldmark (Deutschland etwa 200 Mrd.) beziffert. Die Zerstörungen und ökonomischen Folgen der Kriegswirtschaft nicht eingerechnet. Versailles verpflichtete das völlig bankrotte Deutschland auf Zahlung von zunächst 226 Mrd., 1921 reduziert auf 132 Mrd. Goldmark, plus Zinsen. Der vorinflationäre Reichshaushalt lag gerade bei zwei Mrd., die Reichsschulden dagegen bei 145 Mrd. Mark. Eine konventionell nicht lösbare Aufgabe. Hyperinflation - zusammen mit den Gebietsabtretungen und verlorenen Kolonien - Stoff, aus dem Revancheträume geschmiedet werden.

Die Gewinner England, Frankreich und Italien sind teilweise wesentlich mehr verwüstet als der Verlierer Deutschland. Die Länder leiden unter dem Mord an einer ganzen Generation. Vor allem in Belgien und Frankreich, wo die Hauptkräfte eingesetzt wurden, gibt es furchtbare Zerstörungen. Ein Konflikt, der 1923 zur Besetzung des Ruhrgebietes führt.

Die eigentlichen Gewinner des Krieges saßen außerhalb des Kriegsgebietes, in Übersee. Japan konnte seinen Aufstieg zur regionalen Vormacht vor allem mit einem Kolonialanspruch in China befestigen. Das US-Finanzkapital, schon früh in der Kriegsfinanzierung und (Kriegs-)Güterversorgung vor allem der Ententemächte engagiert, konnte jetzt auch auf dem europäischen Kontinent, im Zentrum der etablierten, nun bei der Wall Street verschuldeten Großmächte Fuß fassen. Die von Wall Street forcierte (gerade rechtzeitige) Durchbrechung des US-amerikanischen Isolationismus im ersten Weltkrieg legte den Grundstein zum Aufstieg der USA als führende Industrie- und Finanzmacht, nach dem 2. Weltkrieg, in Ablösung/Kooperation mit dem britischen und französischen Imperialismus zur globalen Supermacht, und nach 1989 zur "Einzigen Supermacht".

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"Es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg werden - und wehe dem, der zuerst die Lunte in das Pulverfaß schleudert!" hatte der ältere Moltke gewarnt. Diejenigen, welche die Katastrophe des I. Weltkriegs inszeniert hatten, waren weit davon entfernt es mit Versailles bewenden zu lassen. "Eine große Armee, wie jede andre große gesellschaftliche Organisation, ist nie besser, als wenn sie nach einer großen Niederlage in sich geht und Buße tut für ihre vergangenen Sünden", hatte Friedrich Engels geschrieben. Das hieß für die deutschen Generäle mehr Offensivkraft, mehr Panzer und Flugzeuge, Radikalisierung des "Hindenburg-Programms" zum totalen Krieg. Für die Lebensraumtheoretiker: rassistische Vernichtung zur eigenen Bereicherung (Arisierung) und zur Beherrschung des Raumes (Generalplan Ost). Auch hier lagen die Muster (Genozid an den indigenen Völkern Amerikas, an den Herero und Nama und an den Armeniern) längst vor. "Der Kaiser ging, die Generäle blieben" (Plievier), und Buße wollten die ganz gewiss nicht tun. Der zweite Teil des Kampfes um die Weltmacht endete, das Grauen des ersten weit in den Schatten stellend, genau da, von wo 30 Jahre zuvor die deutsche Jugend so beigeistert zum großen Morden losgeschickt worden war.

"Der Krieg mag uns vielleicht momentan in den Hintergrund drängen" so Engels an "die Fürsten und Staatsmänner" gewandt, "mag uns manche schon eroberte Position entreißen. Aber wenn Sie die Mächte entfesselt haben, die Sie dann nicht wieder werden bändigen können, so mag es gehn wie es will: am Schluss der Tragödie sind Sie ruiniert und ist der Sieg des Proletariats entweder schon errungen oder doch unvermeidlich." Die Gründung der II. Internationale stand unmittelbar bevor. Engels war überaus optimistisch. Zu optimistisch.

Der Sieg des Proletariats, das historisch wohl bedeutendste Ergebnis des Ersten Weltkriegs, fiel zusammen mit einem ebenso historischen Erfolg des Imperialismus: Der (vorläufig) dauerhaften Spaltung der Arbeiterbewegung in Reformisten und Revolutionäre. Aus der zunächst kleinen Splittergruppe um Bernstein war die dominante Strömung der westeuropäischen Arbeiterbewegung geworden. Zwar glaubte der deutsche Faschismus auf ihre organisatorische und weltanschauliche Kraft im Kampf gegen den Roten Oktober verzichten zu können. Ohne Erfolg. Dafür bediente sich der US-Imperialismus - nach kurzer Bedenkzeit - ihrer umso intensiver. Mit Erfolg.

"Am Grunde der Moldau wandern die Steine ...". Es ist kein sozialdemokratisches Jahrhundert geworden. Der Kapitalismus steckt wieder in einer "Jahrhundertkrise". Der Ruf nach der militärischen Lösung wird wieder lauter. Die Sozialdemokratie ist wieder an Bord. Manche lernen nie.

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 46. Jahrgang, Nr. 33 vom 15. August 2014, Seite 12-13
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. August 2014