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VW-STIFTUNG/006: Neue Impulse für die Museumsforschung


VolkswagenStiftung - 04.12.2009

Die unerschlossenen Schätze:
VolkswagenStiftung gibt neue Impulse für die Museumsforschung

Stiftung bringt mit insgesamt rund 3,7 Millionen Euro die ersten elf Projekte in ihrer Initiative "Forschung in Museen" auf den Weg.


"Sammeln - Bewahren - Forschen - Vermitteln" sind die klassischen Aufgaben eines jeden Museums. Als Besucher erlebt man die Exponate meist nur in ihrer "Rolle als Vermittler" von wissenschaftlichen Fakten, Ausstellungskonzepten und Botschaften. Wie viel Schweiß und Arbeit in der Beschaffung, Konservierung und Erforschung der Stücke steckt, bleibt hingegen oft verborgen. Dabei erhält und erweitert insbesondere die museale Forschung das Wissen über das natürliche und kulturelle Erbe, das in den Museen lagert. Allerdings ist gerade die Forschung im Museumsalltag mehr und mehr ins Hintertreffen geraten, so dass die eigentliche Bedeutung vieler Exponate unentdeckt bleibt und nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Dabei können Museen nur durch die Erforschung ihrer Sammlungen langfristig wissenschaftlich fundierte Ausstellungen konzipieren und so ihrem gesellschaftlichen Bildungsauftrag gerecht werden.

Mit der im Jahr 2008 eingerichteten Initiative "Forschung in Museen" will die VolkswagenStiftung vor allem die kleineren und mittleren Museen als Forschungsinstitutionen stärken. Im Vordergrund stehen sowohl die Vernetzung mit Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen als auch die Ausbildung junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. In der ersten Bewilligungsrunde bringt die Stiftung nun elf Vorhaben mit insgesamt rund 3,7 Millionen Euro auf den Weg. Im Folgenden stellen wir Ihnen vier Projekte näher vor (die weiteren Bewilligungen finden Sie am Ende der Presseinfo):

1. 350.500 Euro für das Vorhaben "Die innerdeutsche Grenze als Realität, Narrativ und Element der Erinnerungskultur" von Professor Dr. Carl-Hans Hauptmeyer und Professor Dr. Detlef Schmiechen-Ackermann vom Historischen Seminar der Universität Hannover in Zusammenarbeit mit Dr. Thomas Schwark, Direktor Historisches Museum Hannover;

2. 355.700 Euro für das Vorhaben "Soziokulturelle Untersuchungen zur Bekleidungsgeschichte der 1930er/40er Jahre" von Dr. Walter Hauser vom Rheinischen Landesmuseum für Industrie- und Sozialgeschichte in Oberhausen und Dr. Kerstin Kraft vom Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft der Universität Marburg;

3. 280.500 Euro für das Vorhaben "Das persönliche Archiv des Kieler Pathologen Professor Dr. Karl Lennert: Bedeutung der Lymphknotenbiopsie-Sammlung für die Diagnostik und Klassifikation maligner Lymphome" von Eva Fuhry, Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung der Universität Kiel, und Privatdozent Dr. Wolfram Klapper vom Institut für Pathologie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, Campus Kiel;

4. 572.000 Euro für das Vorhaben "Katastrophe oder Ritual? Ein Kriminalfall aus dem 4. Jahrtausend vor Christus - Interdisziplinäre Studie zu einer ungewöhnlichen Mehrfachbestattung" von Professor Dr. Harald Meller, Direktor des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt - Landesmuseum für Vorgeschichte, Halle (Saale), sowie Professor Dr. Kurt W. Alt, Institut für Anthropologie, Universität Mainz.


Zu 1. Die deutsche Teilung in den Köpfen - und auf Film und Foto

9. November 1989, 21:15 Uhr, Grenzübergang Helmstedt-Marienborn: Als erste Person nach der Verkündung der "Neuen Reiseregelung" durch Günther Schabowski gut zwei Stunden zuvor überschreitet die DDR-Bürgerin Annemarie Reffert die innerdeutsche Grenze zusammen mit ihrer Tochter und schreibt damit Geschichte. Erst 15 Minuten später werden die ersten Grenzübergänge in Berlin geöffnet. Mit Inkrafttreten der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik wurden die Grenzkontrollen in Marienborn ein halbes Jahr später offiziell eingestellt - auf den Tag genau 45 Jahre nach der Errichtung des Postens durch die Alliierten. Bis dato war die "GÜSt Marienborn" zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen die größte und bedeutendste Grenzübergangstelle (kurz GÜSt) an der innerdeutschen Grenze.

Im Fokus des Projektteams um Professor Dr. Carl-Hans Hauptmeyer und Professor Dr. Detlef Schmiechen-Ackermann vom Historischen Seminar der Universität Hannover sowie Dr. Thomas Schwark vom Historischen Museum Hannover, steht die Frage, welche Erfahrungen der Einzelne mit der innerdeutschen Grenze gemacht und wie er diese verarbeitet hat - aber auch, welche Aussagen sich daraus in gesamtgesellschaftlicher Perspektive ableiten lassen. Wie wurde und wird die deutsche Teilung von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen wahrgenommen, wie in Film und Foto dargestellt? Und wie erinnert man sich heute daran?

Aufbauend auf eine langjährige Kooperation zwischen dem Historischen Museum Hannover und dem Historischen Seminar der Universität Hannover wird das Projektteam die Fotosammlung des Museums sowie die fotografischen und filmischen Sammlungen der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn untersuchen. Die umfangreichen Forschungsarbeiten sind die Grundlage für eine zum 50. Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 2011 geplante Sonderausstellung im Historischen Museum Hannover. Das Vorhaben wird zudem begleitet von zwei Workshops und einem Symposium, die dazu dienen, die Forschungsergebnisse im internationalen Kontext zu diskutieren.


Zu 2. "Kleider machen Leute"

Seit dem Fall der Mauer sind zwanzig Jahre ins Land gegangen, die das Gesicht Deutschlands nachhaltig verändert haben. Nicht minder einschneidend war in der jüngeren deutschen Geschichte jedoch eine andere Doppeldekade, die viele nur noch aus Erzählungen der Großeltern kennen. Der Beginn der Weltwirtschaftskrise am 25. Oktober 1929, dem sogenannten Schwarzen Freitag, markierte zugleich das Ende der "Goldenen Zwanziger" und den Eintritt in eine Zeit voller Chaos, Leid und Hoffnung. Die deutsche Bevölkerung erlebte den gewaltsamen Sturz der Weimarer Republik, die Diktatur des Dritten Reichs, einen vernichtenden Zweiten Weltkrieg - und schließlich den Neubeginn in Ost und West.

Oft wird diese Zeit lediglich als Abfolge großer historischer Ereignisse wahrgenommen. Wie aber sah der Alltag in der Bevölkerung aus? Welche Kleidung zogen die Menschen zu jener Zeit allmorgendlich an? Wie sah die Arbeitskleidung aus und welche galt als modern? Und: Was sagen Hosen, Hemden und Röcke über ihre Trägerinnen und Träger aus? In ihrem außergewöhnlichen Projekt will ein Forscherteam um Dr. Walter Hauser vom Rheinischen Landesmuseum für Industrie- und Sozialgeschichte in Oberhausen und Dr. Kerstin Kraft vom Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft der Universität Marburg solchen Fragen auf den Grund gehen. Ihr Ziel ist es, die Alltagskleidung der Menschen, Trage- und Konsumgewohnheiten, die Verfügbarkeit von Kleidung und Mode sowie deren Herstellung in der Zeit zwischen der Weltwirtschaftskrise und der unmittelbaren Nachkriegszeit - also in den 1930er und 1940er Jahren - zu rekonstruieren. Originale Kleidungsstücke aus einem großen Sammlungsbestand werden zu diesem Zweck gezielt untersucht und anschließend durch "objektbasierte Zeitzeugeninterviews" als kulturgeschichtliche Quellen verfügbar, interpretierbar und so auch für Nicht-Zeitzeugen erlebbar gemacht.

Die Forscher hoffen, dass insbesondere die Verbindung von Alltagsgeschichte und Politik als Rahmensetzung zu interessanten Ergebnissen führt. Von Vorteil für die wissenschaftliche Arbeit ist auch, dass seitens des Museums Kontakte zu entsprechenden Studiengängen etwa im Bereich Mode/Textildesign an den Universitäten Dortmund, Essen und Paderborn bestehen. Zur Halbzeit des Vorhabens im Jahr 2011 werden die Ergebnisse der Öffentlichkeit in einer Ausstellung vorgestellt und darüber hinaus mit anderen Wissenschaftlern bei einem interdisziplinären Workshop diskutiert. Die Reaktionen auf beide Veranstaltungen bilden die Basis für die weitere Forschung und eine abschließende Publikation im Jahr 2012. Auf diese Weise soll ein in der musealen Forschung oft angestrebtes, aber selten verwirklichtes Ziel erreicht werden: Die Ausstellung selbst bildet die Grundlage für neue Forschung.


Zu 3. Die einzigartige Biopsien-Sammlung des Professor Karl Lennert

Mitte der 1970er Jahre veröffentlichte der Kieler Hämatopathologe Professor Karl Lennert seine bahnbrechende "Kiel-Klassifikation" zur Einteilung sogenannter Non-Hodgkin-Lymphome. Dabei handelt es sich um eine bestimmte Gruppe bösartiger Erkrankungen des lymphatischen Systems, zu dem unter anderem Lymphknoten, die Rachenmandeln, die Milz und das Knochenmark zählen. Das nach seiner Wirkstätte, der Universität Kiel benannte Einteilungssystem machte es möglich, Therapiestudien deutlich besser miteinander zu vergleichen, und leistete so einen wichtigen Beitrag zur Optimierung alter und zur Entwicklung neuer Behandlungsmethoden. Lange Zeit dominierte die "Kiel-Klassifikation" die klinische Praxis in Deutschland und Europa und wurde erst im Jahr 2001 abgelöst durch die "WHO-Klassifikation" der Weltgesundheitsorganisation, bei deren Entwicklung jedoch viele wichtige Erkenntnisse Lennerts Berücksichtigung fanden.

Ein Projektteam um Eva Fuhry von der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung der Universität Kiel und Privatdozent Dr. Wolfram Klapper vom Institut für Pathologie am Kieler Universitätsklinikum nimmt sich nun der eigentlichen Grundlage der Kiel-Klassifikation an, der von Professor Karl Lennert archivierten mikroskopischen Präparate und konservierten Gewebeproben. Anhand dieser einzigartigen Lymphknotenbiopsie-Sammlung wollen die beteiligten Wissenschaftler die Wege des Erkenntnisgewinns analysieren, die zum Zustandekommen der Kiel-Klassifikation führten. Darüber hinaus erhoffen sich die Forscher von einer Nachuntersuchung der Präparate mit modernen diagnostischen Methoden, die Bedeutung des Einteilungssystems für die WHO-Klassifikation aus heutiger Sicht zu erfassen.

Die besondere Stärke des Vorhabens liegt in der engen Zusammenarbeit zwischen einem angehenden Pathologen, einem Doktoranden aus dem Bereich Wissenschaftsgeschichte und den Museumsmitarbeitern mit ihrer Erfahrung im Umgang mit Sachquellen. Eine solche Bündelung notwendiger Fachkompetenzen lässt sich im Alltag der musealen Forschung gemeinhin nur selten verwirklichen - und sie gewährleistet darüber hinaus eine interdisziplinäre Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses an der Schnittstelle von Wissenschaftsgeschichte und Medizin.

Die Ergebnisse des Vorhabens werden in Form einer wissenschaftshistorischen Dissertation veröffentlicht. Außerdem plant das Projektteam eine Dauerausstellung in der Kieler Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung und die Produktion eines Dokumentarfilms. Die kooperierende European Association for Haematopathology möchte zudem die Lymphom-Präparate Lennerts für moderne Forschungszwecke in einem Internetportal publizieren.


Zu 4. Ein Kriminalfall vor historischer Kulisse: Was war geschehen?

Ein historischer Kriminalfall - oder doch eher die ritualisierte Bestattung auf natürlichem Wege Verstorbener? Wird sich diese Frage beantworten lassen? Der Fund ist allemal spektakulär: neun Personen, im 4. Jahrtausend v. Chr. kollektiv beerdigt, in jüngster Zeit gefunden oberhalb der Saale bei Halle. Unter ihnen vier erwachsene Frauen, die je ein Kind umarmen; des Weiteren eine schwangere Frau. Zugeordnet wird dieser Fund einer Kollektivbestattung der sogenannten Salzmünder Kultur (3600 bis 3000 v. Chr.), viel mehr jedoch lässt sich noch nicht sagen. Das soll sich nun ändern.

Ein Forscherteam um Professor Dr. Harald Meller vom Landesmuseum für Vorgeschichte, Halle (Saale), und Professor Dr. Kurt W. Alt vom Institut für Anthropologie der Universität Mainz kann nun der Frage nachgehen, ob es sich bei der ungewöhnlichen Mehrfachbestattung tatsächlich um einen Kriminalfall aus dem 4. Jahrtausend vor Christus handelt. Dazu bedienen sie sich moderner molekulargenetischer und biochemischer Methoden, archäologischer Synthesen und forensischer Analysen. Auf diese Weise wollen sie zu Aussagen kommen über Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Toten, die Lebensläufe Einzelner und deren jeweiligen Gesundheitsstatus. Auch über die sozialen Bedingungen der Bestattung erhoffen sich die Wissenschaftler Erkenntnisse. Sie haben dabei einen guten Vergleichsfund an der Hand: eine nahe gelegene, schon länger bekannte Niederlegung von ebenfalls neun Personen - nur 500 Jahre älter.

Die Forschungsergebnisse fließen ein in eine Wanderausstellung, die es dem Besucher auch erlauben soll, die archäologisch-kriminalistische Arbeitsweise der Wissenschaftler nachzuvollziehen. Darauf darf man gespannt sein, steht doch Harald Meller bereits für den spektakulären Fund und die Präsentation der "Himmelscheibe von Nebra".


Des Weiteren wurden folgende acht Vorhaben bewilligt:

5. 154.300 Euro für das Vorhaben "Der männliche Genitalapparat der holometabolen Insekten und seine evolutive Bedeutung" von Professor Rolf G. Beutel, Privatdozent Hans-Wilhelm Pohl und Dr. Gunnar Brehm vom Institut für Spezielle Zoologie und Evolutionsbiologie mit Phyletischem Museum, Universität Jena;

6. 260.400 Euro für das Vorhaben "Die Dynamik des Solnhofener Archipels - und das Rätsel der Plattenkalkgenese" von Dr. Martina Kölbl-Ebert vom Jura-Museum Eichstätt und Dr. Adriana Lopez-Arbarello von der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie, München;

7. 395.000 Euro für das Vorhaben "Hinter dem Horizont ...' - Bäuerlich-bürgerliche Eliten in den friesischen Marschen und den angrenzenden Geestgebieten. Dokumentation, Erforschung und Präsentation des Bestandes an Sach- und Schriftkultur (2. Hälfte 17. bis 1. Hälfte 19. Jahrhundert)" von Professor Dr. Uwe Meiners, Direktor Museumsdorf Cloppenburg - Niedersächsisches Freilichtmuseum, Professorin Dr. Antje Sander, Direktorin Schlossmuseum Jever, Professor Dr. Gerd Steinwascher, Leiter Niedersächsisches Landesarchiv - Staatsarchiv Oldenburg, sowie Professorin Dr. Dagmar Freist, Institut für Geschichte, Universität Oldenburg;

8. 519.500 Euro für das Vorhaben "Römische Großbronzen am UNESCO-Welterbe Limes" von Professor Dr. Dieter Planck und Dr. Martin Kemkes, Landesdenkmalamt Baden-Württemberg, Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg, sowie Dr. Gabriele Uelsberg, Direktorin LVR - Rheinisches LandesMuseum Bonn, und Professor Dr. Hans-Markus von Kaenel, Institut für Archäologische Wissenschaften, Universität Frankfurt am Main;

9. 300.000 Euro für das Vorhaben "Versteinerter Wald Chemnitz - Vom Vulkanismus konservierte Momentaufnahme aus dem Perm" von Dr. Ronny Rößler und Dr. Thorid Zierold vom Museum für Naturkunde Chemnitz;

10. 234.400 Euro für das Vorhaben "Vorgeschichtsforschung in Bremen unterm Hakenkreuz" von Dr. Frauke von der Haar, Direktorin Focke-Museum in Bremen, und Professorin Dr. Uta Halle, Institut für Geschichtswissenschaft, Professur für Ur- und Frühgeschichte der Universität Bremen;

11. 231.000 Euro für das Vorhaben "Die wirtschaftlich-kulturelle Bedeutung des Rohstoffs Ton für die Backsteinstadt Lüneburg" von Dr. Uta Herdeg vom Naturmuseum Lüneburg, Dr. Edgar Ring, Abteilung Denkmalpflege der Hansestadt Lüneburg, Privatdozent Dr. Martin Pries vom Institut für Stadt- und Kulturraumforschung der Universität Lüneburg und Professor Dr. Josef-Christian Buhl vom Institut für Mineralogie der Universität Hannover.


Der nächste Stichtag für Anträge ist voraussichtlich im Frühsommer 2010.


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Quelle:
Presseinformation vom 04.12.2009
VolkswagenStiftung
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Dr. Christian Jung
Telefon: 0511 8381 - 380
E-Mail: jung@volkswagenstiftung.de
Internet: www.volkswagenstiftung.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Dezember 2009