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HEINRICH BÖLL STIFTUNG/446: Grüne Politik in Indien - In der Zwickmühle


Heinrich-Böll-Stiftung - 19. Juli 2019

Grüne Politik in Indien: In der Zwickmühle

von Rakesh Kalshian


Hintergrund Über zwei Jahrzehnte bedeutete Grüne Politik in Indien vor allem die Suche nach einem alternativen Entwicklungsethos. Anders verhält es sich mit der jetzigen hindu-nationalistischen Regierung. Spätestens seit dem erneuten Erfolg Modis bei den Parlamentswahlen befindet sich die Grüne Politik in einer Art Schockzustand. Neue Formen des Engagements sind dringend notwendig.

Der spektakuläre Sieg von Premierminister Narendra Modi bei den diesjährigen Parlamentswahlen in Indien verblüffte Expert/innen und Laien gleichermaßen. Im Jahr 2014 konnte Modi die Mehrheit noch mit seinem Wahlkampf-Slogan "sabka saath, sabka vikas" ("mit allen, Entwicklung für alle") gewinnen. Dieses Mal jedoch tauchte das Wort vikas (Entwicklung) in seinen Wahlkampfreden nicht mehr auf. Und das aus gutem Grund, denn während seiner Amtszeit stieg die Arbeitslosigkeit, und die Landwirtschaftskrise verschlimmerte sich.

Die insgesamt schwächelnde Wirtschaft blieb weit hinter den großen Erwartungen zurück, die seine Regierung vor fünf Jahren geweckt hatte. Trotz unerfüllter Wahlversprechen schaffte es der gewiefte Taktiker Modi die Parlamentswahlen auf den letzten Metern für sich zu entscheiden. Geschickt nutzte er die Terror-Attacke in Pulwama im Staat Jammu und Kashmir, um nationale Sicherheitskräfte zu entsenden, und überraschte damit seine politischen Rivalinnen und Rivalen.

Die Inszenierung als starker Mann, die durch das Fehlen einer glaubwürdigen politischen Alternative noch verstärkt wird, war der entscheidende Schachzug für Modis Wiederwahl. Zudem gelang es ihm durch den Aufstieg des Hindu-Nationalismus, die traditionellen politischen Trennlinien zwischen Kasten und Klassen verschwimmen zu lassen. Nicht zuletzt trugen sicherlich auch der finanzstarke digitale Wahlkampf der Partei Bharatiya Janata (BJP), der sich vor allen in den sozialen Medien abspielte, sowie parteiische Medien ihren Anteil an Modis Erfolg.

Passen BJP und Grüne Politik zusammen?

Modis Wiederwahl wurde bisher vor allem mit Blick auf den säkularen und liberalen Charakter der indischen Republik analysiert. Doch auch der Umweltschutz in Indien wird sich unter einem Regime ändern, das politisch rechts einzuordnen ist, und maßgeblich auf eine neoliberale Wirtschaftspolitik setzt. Umweltaktivist/innen schauen deshalb sorgenvoll in die Zukunft.

Eine Grüne Politik, die sich soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Gewaltlosigkeit und die Diversität aller Lebensformen auf die Fahnen schreibt, wird durch diese Regierung in Widersprüche verstrickt werden, die sich nicht so einfach auflösen lassen. Zwar gibt es durchaus Anknüpfungspunkte an Grüne Politik - so setzt sich die RSS-Organisation (Rashtriya Swayamsevak Sangh), die als ideologischer Taktgeber der BJP fungiert, auch für den Schutz der Umwelt und dem Respekt aller Lebensformen ein -, doch wird das Kastensystem weiterhin befürwortet und Gewalt gegen Menschen gerechtfertigt, die nicht nach der Hindutva leben.

Auch Modis Politikmix aus einer liberalen Wirtschaftspolitik und einer hinduistischen Mehrheitspolitik beeinträchtigt fast alles, was den Kern Grüner Politik ausmacht. Das stellt Grüne Aktivist/innen vor schwierige moralische Fragen: Sind politische Prinzipien der Grünen wie soziale Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit anderen Werten wie Nachhaltigkeit und Diversität unterzuordnen, damit eine Zusammenarbeit mit der BJP gelingen kann? Soll man mit einer Regierung gemeinsam an grünen Themen arbeiten, selbst wenn diese die säkulare und liberale Demokratie als Unfug bezeichnet? Wie kann man überhaupt Kritik an der umweltschädlichen Politik der Regierung äußern, ohne gleich als Staatsfeind/in verunglimpft zu werden? Das sind schwierige Dilemmata, die nur durch Phantasie und Mut gelöst werden können.

Umweltpolitische Gleichgültigkeit

Einige politische Beobachter/innen befürchten, dass Modis beinahe schon messianische Anziehungskraft auf die Massen nichts Gutes für die Zukunft demokratischer Grüner Politik verheißt. Dass Modi beide Wahlen haushoch gewann, zeigt, dass viele bereit sind, ihm seine Versäumnisse zu verzeihen. Auf den Punkt brachte es wohl am besten ein in Armut lebender Mann, der zu einem Journalisten sagte: "Was bringen uns Jobs oder wirtschaftliche Entwicklung, wenn unsere nationalen Grenzen nicht sicher sind?"

Wenn die Bürger/innen bereit sind, für Indien wichtige Themen wie wirtschaftliche Entwicklung und die Schaffung von Arbeitsplätzen für eine imaginäre Bedrohung der nationalen Sicherheit zurückzusetzen, bleibt wenig Handlungsspielraum für Grüne Politik. Dies belegen auch Statistiken. Laut einer Umfrage der Association for Democratic Reforms (ADR) messen nur 12 Prozent der 2 730 000 befragten Personen der Wasser- und Luftverschmutzung eine hohe politische Bedeutung bei. Da ist es wenig verwunderlich, dass Umweltthemen im Wahlkampf der Parteien kaum eine Rolle spielten.

Grüne Rhetorik

Zumindest auf dem Papier taucht der Umweltschutz in den Programmen der zwei großen Parteien Indiens - BJP- und Kongress - auf. Die Herangehensweise an das Thema könnte dabei unterschiedlicher kaum sein. Die Kongress-Partei legt eine umfassende Liste an Versprechungen zur Umweltpolitik vor. In ihrem Programm spricht sie davon, dass "die Luftverschmutzung zu einem nationalen Gesundheitsnotstand geworden ist und es diese zu lösen gilt". Zudem sollen Küstengebiete geschützt und lokale Gemeinschaften zu den Hüterinnen von Wäldern gemacht werden. Vor dem Hintergrund der bisherigen umweltpolitischen Bilanz der Kongresspartei, hört sich das eher wie eine Wiedergutmachung für vergangene Verfehlungen an.

Das Wahlprogramm der BJP bleibt bei der Umweltpolitik hingegen eher schwammig. Probleme wie Luftverschmutzung, Wasserkrise und Klimawandel werden zwar angesprochen, doch ist klar, dass die Priorität der BJP auf einem Wirtschaftswachstum durch eine schnelle Industrialisierung und Urbanisierung liegt. Umweltprobleme sollen durch neue technologische Errungenschaften gelöst werden. Das Programm liest sich daher in Teilen auch wie eine prophylaktische Entschuldigung für später entstandene Umweltschäden.

Vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen

Obwohl die Kongress-Partei ihrem Programm nach einen grüneren Anstrich hat, bleibt sie in Wirklichkeit einer liberalen Wirtschaftsordnung genauso verpflichtet wie die BJP.

Es war Anfang der 90er Jahre schließlich die Kongress-Partei, die die Tür für wirtschaftliche Liberalisierung in Indien aufstieß. Infolgedessen wurde das umweltpolitische Regelwerk untergraben, das sie selbst zuvor eingeführt hatte. In den darauffolgenden zwei Jahrzehnten traten mit dem steigenden Wirtschaftswachstum auch zunehmend Konflikte um natürliche Ressourcen auf. In ihrem Streben nach einem hohen Bruttoinlandsprodukt setzte sich die Regierung nicht nur rücksichtlos über Umweltgesetze hinweg, sondern unterdrückte auch Widerstandsbewegungen mit brutaler Gewalt. So wurde die Übernahme von Ländereien für Entwicklungsprojekte wie den Bau von Dämmen oder Minen forciert.

Erst gegen Ende der zweiten Legislaturperiode versuchte die Kongress-Partei einige ihrer größten umweltpolitischen Schäden durch neue Gesetze zu beseitigen. Mit dem Begriff des "inklusiven Wachstums" wollte die Kongress-Partei soziale Verwerfungen infolge von Umweltzerstörungen abmildern sowie ökonomisches Wachstum für alle fördern. Dieser Umschwung hin zu einer progressiveren Gesetzgebung hat jedoch weniger mit der Entdeckung des eigenen umweltpolitischen Bewusstseins zu tun, als damit, dass die Koalition unter Führung der Kongress-Partei wegen einer Reihe von Betrugsfällen unter Druck stand. Millionen von armen Wähler/innen, die wegen der verheerenden ökologische Folgen einer wachstumsgetriebenen Wirtschaft obdachlos oder arbeitslos wurden, sollten dadurch besänftigt werden.

Vom Regen in die Traufe

Dieser Plan ging bekanntlich nicht auf. Die Wähler/innen hatten genug von der Kongress-Partei und wählten stattdessen die BJP an die Macht. Unter Premierminister Modi wurden die ökonomische Reformen weiter vorangetrieben. Für den Traum, Indien zu einer wirtschaftlichen Supermacht zu machen, verwässerte oder umging seine Regierung jedes Gesetz, sobald es der wirtschaftlichen Entwicklung hätte schaden können. Auflagen zum Umweltschutz wurden als lästige und entbehrliche Hindernisse für das Wirtschaftswachstum angesehen.

Auch die Rechte indigener Völker wurden unter Modi weiter beschnitten. Gesetzliche Bestimmungen, die den im Wald lebenden Gemeinschaften das dortige Leben und die Verwaltung des Waldes garantierten, wurden abgeschwächt, um Waldgebiete für industrielle und infrastrukturelle Projekte zu nutzen. Aus demselben Grund umging die aktuelle Regierung auch Gesetze, die den Schutz von Ökosystemen wie Flüssen und Küsten dienten.

Ironischerweise verlieh die UN 2018 Modi trotzdem den Preis als Champion of the Earth. Modi hatte es geschafft sich auf internationaler Ebene ein umweltfreundliches Image zuzulegen, indem er zwei große Programme auflegte: Indien von öffentlicher Defäkation zu befreien und Solarenergie zum Angelpunkt von Indiens kohlenstoffarmer Wirtschaft zu machen.

Modis Glaube daran, dass die Marktwirtschaft als auch die transformative Macht der Technologie ökologische Missstände beheben könnten, macht ihn in gewisser Weise zu einem halben Öko-Modernisten, dem allerdings die liberale Hälfte fehlt. Die Frage, wie sich dieser Zwiespalt in Zukunft für Indiens Demokratie und seine institutionellen Bollwerke wie Justiz, Medien und Universitäten auswirkt, wird zentral für Grüne Politik in Indien sein.

Der Anspruch der Grünen Politik sank

Dies ist nicht der erste Wendepunkt in der Umweltpolitik Indiens. In den 90ern führten breite Proteste gegen große Staudammprojekte die Grüne Politik an. Die sozialen Bewegungen, legten nicht nur die tiefen Risse der kapitalistischen Industrialisierung offen, sondern boten auch alternative Modelle von Entwicklung an, die sozial gerecht, demokratisch und ökologisch nachhaltig sein sollten. Doch zwei Jahrzehnte stetigen Kampfes gegen den staatlich verordneten Neoliberalismus ließen diese Bewegungen aus reiner Erschöpfung erlahmen. Große Staudammprojekte sind heute wieder politisch angesagt und werden als umweltfreundliche Alternative zu den dreckigen fossilen Brennstoffen im Kampf gegen den Klimawandel angepriesen.

Doch auch die Art des Widerstandes änderte sich. Umweltpolitische Kämpfe gegen Staudämme werden inzwischen nicht mehr auf der Straße ausgefochten, sondern in Gerichtssälen und Regierungskomitees bei denen die Gesundheit der Flüsse im Mittelpunkt steht. Dadurch dominiert mittlerweile ein technokratischer-juristischer Diskurs die Grüne Politik in Indien. Der Raum für radikale Kritik wird dadurch geschmälert. Der Kampf gegen Luftverschmutzung, in dem das einzige Ziel zu sein scheint, auf der Grundlage von umfassenden Daten einen robusten Rechtsfall aufzubauen, zeigt, wie juristisches Vokabular inzwischen die Sprache Grüner Politik prägt und Aspekte der sozialen Gerechtigkeit hinten runter fallen.

Neue Regeln des Engagements

Das Versanden der sozialen Bewegungen und der Aufstieg des technisch-juristischen Diskurses in der Grünen Politik passen in den technokratischen Zeitgeist der aktuellen Regierung. Für den Staat ist es weitaus einfacher, die Kämpfe vor Gericht auszufechten, weil Experten- und juristische Meinungen immer dehnbar sind. Widerstand aus dem Volk und partizipative Demokratie wird dagegen eher als lästig empfunden.

Der Aufstieg der Mittelklasse ist ein weiterer Faktor, der die Umweltpolitik Indiens beeinflussen könnte. Bisher reicht das Interesse der Mittelklasse an Umweltthemen nicht weiter als dahin, dass sie die Probleme nicht im eigenen Umfeld haben wollen ("not in my backyard"). Solange ihre Bedürfnisse erfüllt und ihre Hinterhöfe sauber sind, kümmern sie sich wenig um Staudämme und Minen, die Stammesgemeinschaften verdrängen oder Immobilienprojekte, die Slumbewohner vertreiben. Da die Mittelschicht immer größer wird, 2050 sogar die Hälfte von Indiens Bevölkerung ausmacht, wird ihre Einstellung zur Umwelt Grüne Politik in Indien konturieren.

Bis 2050 ist es allerdings noch eine lange Zeit. Kurzfristig, also etwa im Laufe der nächsten zehn Jahre, ist es unwahrscheinlich, dass sich eine der politischen Parteien grünen Themen ernsthaft widmen und sogar noch unwahrscheinlicher, dass eine grüne Partei eine Schlüsselrolle in der indischen Politik spielen wird. Vieles wird darauf ankommen, ob die von Modi geführte Regierung für eine anständige Lebensqualität für Millionen von aufstrebenden Inder/innen sorgen und gleichzeitig die ökologischen Herausforderungen wie Luftverschmutzung, Wasserkrisen und Klimawandel bewältigen kann.

Modi könnte es sogar gelingen, die Umweltkrise mithilfe technologischer Hilfsmitteln hinauszuzögern. Ob seine spaltende Kulturpolitik von den dringenden wirtschaftlichen und ökologischen Fragen getrennt gehalten werden kann, ist jedoch fraglich. Ebenso strittig ist die Frage, ob Anhänger/innen einer Grünen Politik Mittel und Wege finden, eine Partei und Regierung zu beeinflussen, deren Grundüberzeugungen sie nicht teilen.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2019

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