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HEINRICH BÖLL STIFTUNG/450: Viele Versprechen oder vielversprechend? Polens heißer Wahlkampfherbst


Heinrich-Böll-Stiftung - 26. September 2019

Viele Versprechen oder vielversprechend? Polens heißer Wahlkampfherbst

Die polnischen Wahlen nähern sich dem Ende: Am 13. Oktober wird das neue Parlament gewählt. Wir wagen einen Blick auf die aktuellen Themen und den möglichen Ausgang der Wahlen.

von Małgorzata Kopka-Piątek und Gert Röhrborn


Die zweite Halbzeit der großen politischen Auseinandersetzung um die Zukunft Polens ist derzeit in vollem Gange. Bereits am 13. Oktober 2019 wird anlässlich der alle vier Jahre stattfindenden Wahlen zu Sejm (Erste Kammer) und Senat (Zweite Kammer) nach einem sehr kompakten Wahlkampf der Schlusspfiff ertönen. Und im Moment sieht alles danach aus, als würde die zweite Halbzeit genauso enden wie die erste Halbzeit der diesjährigen Europawahlen - mit einem souveränen Sieg der nationalkonservativen Regierungspartei Recht und Gerechtgkeit (PiS). Für ihre Gegner werden die im Frühjahr 2020 anstehenden Präsidentschaftswahlen somit zum Spiel der letzten Chance.

Obwohl Wahlumfragen in Polen traditionell mit Vorsicht zu genießen sind, zeichnen die letzten Veröffentlichungen ein ungewöhnlich einheitliches Bild. Demnach verfolgen die Polinnen und Polen mit ungebrochen hohem Interesse die politische Auseinandersetzung - teils wird ein sensationeller Anstieg der Wahlbeteiligung auf über 70 Prozent (2015: 50 Prozent) vorhergesagt - und die politische Szene ist zweigeteilt: auf der einen Seite die PiS, deren Umfragewerte zum Sejm dank der stetig wachsenden Unterstützung der unteren Mittelschichten und früherer Nichtwähler/innen für immer neue und größere Sozialtransfers der 50 Prozent-Marke stetig näher kommen; auf der anderen Seite vier Oppositionsblöcke - von links nach rechts:

  • die Linke aus Union der demokratischen Linken, Frühling und Zusammen
  • die liberal-konservative Bürgerkoalition aus Bürgerplattform, Moderne, Grünen und Initiative Polen
  • die konservativ-reformistische Polnische Koalition aus Bauernpartei und Kukiz'15
  • die rechtsradikale Konföderation.

Diese erhalten zusammengenommen ungefähr genauso viel Unterstützung wie die PiS, liegen aber ideologisch viel zu weit auseinander und werden angesichts des polnischen Wahlsystems nach d'Hondt deutlich weniger Mandate erhalten als die stärkste Liste der Nationalkonservativen.

Etwas besser stehen die Chancen der Herausforderer bei der Wahl zum Senat - hier haben die Linke, Bürgerkoalition und Polnische Koalition einen Pakt geschlossen, der ihnen angesichts des beim Senat geltenden relativen Mehrheitswahlrechts in 100 Einerwahlkreisen dabei helfen soll, die derzeit von der PiS mit 61 Sitzen dominierte zweite Kammer zurückzuerobern. Die Bürgerkoalition wird in 74, die Polnische Koalition in 17 und die Linke in sechs Wahlkreisen den Einheitskandidaten aufstellen, in den verbleibenden wird es mehrere Kandidaten geben. Aber auch hier sagen Umfragen bisher einen (wenn auch knappen) Sieg der Regierungspartei von 43 zu 39 Prozent voraus.

Viele versprochende Inhalte

Ein Blick auf die Programme der genannten Gruppierungen verrät zudem die inhaltlichen Vektoren eines gesellschaftlichen politischen Diskurses, den die PiS bei weitem am besten für sich zu nutzen weiß. Die Rolle des Staates wird hierbei offensichtlich von einer Mehrheit auf einen funktionierenden Wohlfahrtsstaat reduziert, der verlässlich Sozialtransfers gewährleistet und endlich das marode Gesundheitswesen modernisiert. Auch wenn arbeitgebernahe Kommentatorinnen und Verbände lauthals vor Inflation, Steuererhöhungen, Unternehmenspleiten und einem Zusammenbruch des ohnehin löchrigen Rentensystems warnen, überbieten sich die Parteien geradezu mit Angeboten und Versprechungen hinsichtlich steuerfreien Renten (Bauernpartei), höherem Mindestlohn (die PiS will ihn zum Ende der kommenden Legislaturperiode gar fast verdoppeln) sowie günstigen Medikamenten und einem Schnellzugang zu Fachärzten (Linke).

Die Debatten um einen "staatspolitischen Umbau", der seit vier Jahren wegen des Angriffs der Regierung auf Grundpfeiler des europäischen Verständnisses von Rechtsstaatlichkeit die in- und ausländischen Medien beherrschen, verlaufen hingehend weitestgehend abseits des Interesses der breiten Bevölkerung. Diese nimmt weder an den ausufernden innenpolitischen Skandalen und der europapolitischen Maßregelung der PiS größeren Anstoß, noch interessiert sie sich eingehender für die diesbezüglichen Angebote der Konkurrenz hinsichtlich administrativer Dezentralisierung (Bürgerkoalition) bzw. einem gemischten Wahlsystem aus Direkt- und Listenmandaten sowie der teilweisen Wahl der Richterschaft durch Bürgerinnen und Bürger (Polnische Koalition).

Die ideologische Auseinandersetzung dreht sich zudem entgegen der landläufigen Annahme in erster Linie nicht mehr um sexuelle und reproduktive Rechte, sondern um die identitätsstiftende Frage des Familienbildes entlang der Achse Katholische Kirche vs. Rechte sexueller Minderheiten und säkularer Staat. Auch das Interesse an Außen- und Europapolitik, das zeigten bereits die Europawahlen, hält sich demgegenüber in eng umrissenen Grenzen.

Auch umweltpolitische Themen stehen auf der Agenda

Soweit, so vorhersehbar. Aber auf einem für Polen überaus wichtigen, aber bislang wenig beachteten Feld tut sich dennoch außergewöhnlich viel - der Ökologie. Bereits im Europawahlkampf waren bei Linken und Liberalen Themen wie z.B. der bis dato identitäts- und sicherheitspolitisch undenkbare Kohleausstieg aufgetaucht. Jetzt finden sie sich in vielerlei Hinsicht in allen wichtigen Programmen wieder.

Die Bürgerkoalition setzt dank der zu ihr gehörenden Grünen Partei u.a. auf Gewässerschutz und ein Ende der Pelztierzucht, die vorrangige Thermomodernisierung von Gebäuden sowie einen bedeutenden Ausbau der erneuerbaren Energien: bis 2030 sollen jeweils zehn GW Leistung aus Solarenergie, meeres- und landbasierten Windkraftanlagen kommen und lokale Energiequellen aus Biomasse, Biogas und Geothermie gefördert werden. Die Polnische Koalition will bei einem systematischen Ausstieg aus der Kohle im selben Zeitraum sogar 50 Prozent des polnischen Energiemixes aus Erneuerbaren bestreiten.

Die Linke plant neben einem schnellen Kohleausstieg ein "Paket für Wälder", das massiv naturbelassene Flächen schaffen und Feuchtgebiete schützen soll. Die PiS setzt hingegen auf den Bau vorgeblich "sauberer und sicherer" Atomkraftwerke, die bis 2040 20 Prozent der polnischen Energieproduktion sicherstellen sollen, sowie große Infrastrukturprojekte zur Begradigung von Flüssen und den Bau großer Wasserrückhaltebecken. Die Konföderation ist ebenfalls eine Verfechterin der Kernenergie, hat ihre Punkte zum Umweltschutz (Wald-, Luft- und Gewässerschutz, Lebensmittelsicherheit) aber recht allgemein unter dem Punkt "Gesundes Leben" zusammen mit "Anti-Choice"-Postulaten untergebracht.

Diese für Polen relativ große Vielfalt an umweltpolitischen Themen hat auch damit zu tun, dass die polnische Bevölkerung dank eines größeren Interesses ihrer Medien und der wachsenden Mobilisierung der Jugendklimabewegung, aber vor allem wegen anhaltender Probleme mit der Luftreinheit und zweier aufeinander folgender Dürrejahre stärker als bisher direkte Auswirkungen des Klimawandels auf ihr Lebensumfeld und die Zukunftschancen ihrer Kinder erkannt haben.

So gingen etwa während des Klimastreiks am 20. September Zehntausende junger Menschen in über 60 polnischen Städten auf die Straße, 12.000 davon alleine in der Hauptstadt. Dies ist die größte Straßenmobilisierung in der Geschichte der polnischen Ökobewegung und ein Meilenstein im Kampf für den Klimaschutz in Polen - die Stimme streikender Jugendlicher, die u.a. Polens Klimaneutralität bis 2040 fordern, ist schwer zu ignorieren. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass eine jüngst von der britischen Organisation Hope not Hate veröffentlichte Studie zu dem Ergebnis kam, dass 68 Prozent der polnischen Befragten der Auffassung seien, der Umweltschutz müsse sogar auf Kosten wirtschaftlichen Wachstums zu einer politischen Priorität des Regierungshandelns werden.

Eine Chance für die Zukunft?

Auch wenn die PiS also die Wahlen aller Voraussicht nach gewinnen und erneut eine Alleinregierung wird formieren können, ist davon auszugehen, dass das neue Parlament deutlich anders aussehen wird als das bisherige. Zum einen scheint es möglich, dass die Linke mit um die zehn Prozent einen vorzeigbaren Wiedereinzug ins Parlament schaffen wird, allerdings nicht auf Kosten der Regierungspartei, sondern unter Rückgang der Unterstützung für liberale Gruppierungen. Zum anderen dürften angesichts der dynamischen Veränderungen innerhalb der polnischen Parteienlandschaft in den letzten Jahren alle die Sperrklausel überwindenden Gruppierungen eine Reihe neuer Gesichter ins Parlament bringen.

Überdies besteht das erste Mal tatsächlich Hoffnung darauf, dass sich unter diesen auch einige grüne oder zumindest deutlich für ökologische Lösungen aufgeschlossene Personen befinden werden. In dieser Neubesetzung wird dann zu diskutieren sein, inwieweit sich der soziale Hunger auf noch mehr transfer-basiertem Wohlstand, globale ökonomische Herausforderungen und die rasant um sich greifenden ökologischen Zukunftsängste miteinander werden vereinen lassen.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Oktober 2019

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