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GUTE-NACHT/2767: Mülleimermann (SB)


Die Tür der Galerie schlägt hinter dem Zeichner Raimund zu und der Schlüssel dreht sich im Schloß. Einen Augenblick bleibt der Zeichner auf der obersten Stufe der Treppe stehen und blickt hinunter zur Straße. Kinder spielen auf dem Gehsteig wie schon die Tage zuvor. Heute sitzt allerdings kein Mädchen abseits auf den Stufen. Raimund kennt diese Situation. Weil er schon früher am liebsten nur gezeichnet hat, haben die Kinder ihn ausgegrenzt und später überhaupt nicht mehr mitspielen lassen. So zog er sich von den anderen ebenfalls zurück.

Wo war das kleine Mädchen hin? Jetzt setzt sich Raimund auf die Treppenstufe genau an die Stelle, wo das Mädchen an den vorherigen Tagen gesessen hat. Wieso suchte es sich ausgerechnet den Mülleimer als Blickfang in seiner Nähe aus? Das ist nun wirklich kein aussichtsreicher Platz.

Raimund starrt auf den Mülleimer und sieht, daß sich darin etwas bewegt. Hatte sich vielleicht ein Igel durch die Stäbe gedrückt und dann den Plastiksack angefressen und war so in ihn hinein geklettert?

Erinnerungen werden wach. Als Raimund noch ganz klein war, hatte sein Vater von einem Igel erzählt. Dieser war bei ihnen zuhause im Gartenhaus ums Leben gekommen. Dort stand das Puppenbettchen seiner Schwester und darin fand der Vater eines Tages den toten Igel. Wie konnte das geschehen? Hatte jemand den Igel hineingesetzt und ihn nicht wieder heraus geholt? Oder war der Igel zwar durch die Gitterstäbe hineingeraten, dann aber nicht wieder heraus? Raimund weiß es nicht. Hatte ihm das sein Vater überhaupt je erklärt?

Erneut regt sich etwas in dem Müllkorb. Raimund steht auf und sieht nach. Er beugt sich tief über den Korb. Ein Junge der spielenden Kinder hält inne und zeigt auf Raimund. Dann lacht er und ruft den anderen Kindern zu: "Noch einer, der sich sein Frühstück aus dem Mülleimer holt." Jetzt lachen auch die anderen Kinder. Aber als Raimund sich aufrichtet und die Kinder mit seiner grimmigen Mine anblickt, laufen sie lieber davon.

Es dauert nicht lange, da fällt bei Raimund der Groschen. Er kombiniert. Hatte sich das Mädchen wirklich Essensreste aus dem Mülleimer geholt oder war auch sie verleumdet worden? Wieder beugt sich der Zeichner über den Papierkorb und entdeckt, was sich darin bewegt. Es ist ein Joghurtbecher, der hin und her schwingt. Irgendetwas muß darin stecken, daß diese Bewegung in Gang setzt. Vorsichtig streckt der Zeichner seine Hand nach dem Becher aus. Er befürchtet, ein Mäuschen könnte darin die letzten Joghurtreste ausschlecken. Er muß aufpassen, daß das Mäuschen sich nicht erschreckt und ihn in den Finger beißt.

Die Überraschung allerdings ist groß, als Raimund in dem Becher kein winziges Tier vorfindet, sondern die kleine Puppe aus Papier, die derart durchweicht ist von Fett, Wasser, Joghurtresten und einigem mehr, daß sie ganz unansehnlich ausschaut - gar nicht mehr wie sein kleines Wesen, das er darin doch sofort erkennt.

24. Oktober 2008

Gute Nacht