Schattenblick →INFOPOOL →KINDERBLICK → GESCHICHTEN

GUTE-NACHT/2797: Verfangen im Stacheldraht (SB)


Gute Nacht Geschichten - Wilhelm Wunderlich


Grau, grau, immer nur grau ist dieser Tag, kalt und nebelverhangen. Eigentlich braucht Parkwächter Wilhelm Wunderlich heute nichts im Park erledigen. Es ist sein freier Tag. Doch bei diesem kalten Wetter sieht er auf jeden Fall nach den Kaninchen und bringt den Vögeln Futter. Plötzlich hört er aufgeregte Kinderstimmen.

Vorsichtshalber sieht Wilhelm lieber einmal nach. Da sind drei kleine Jungen, die drüben am Zaun Fangen spielen. Zwei sind über den Zaun geklettert. Der dritte ist um einiges kleiner und scheint sich in dem Zaun verfangen zu haben. Wilhelm geht zum Zaun hinüber. "Dieser verdammte Stacheldraht", schimpft Wilhelm, als er sieht, daß sich der kleine Junge beim Hinüberklettern des Zauns in diesem Draht, um den in kürzeren Abständen Spitzen aus Draht oder Blech gedreht sind, verfangen hat. "Gut, daß ich vorbeigekommen bin", stellt Wilhelm fest, "allein wärst du hier nicht herausgekommen." Die beiden etwas älteren Jungen schauen Wilhelm zu, wie er den Kleinen befreit. Er drückt den Stacheldraht herunter, nachdem er ersteinmal einige dieser Stacheln aus der Hose des Jungen gezogen hat. Jetzt kann der Kleine sich auf seiner Seite des Stacheldrahts wieder in Sicherheit bringen. "Bist du verletzt?" fragt Wilhelm besorgt. Er kann ja nicht sehen, ob der spitze Draht den Jungen unter der Hose gerissen hat. Der Kleine schüttelt den Kopf und ist mißtrauisch. "Seid bloß vorsichtig, wenn ihr über Zäune steigt. An diesem Stacheldraht hat sich schon so manch einer verletzt." Der Kleine ist frei und schon sind die drei Jungen am Verschwinden, ohne "Danke" zu sagen. Doch das stört Wilhelm nicht. Der Kleine war sicher froh, wieder frei zu sein. Das ist das Wichtigste.

"Dieser verdammte Stacheldraht", brummt Wilhelm noch einmal. In seinem Amt als Parkwächter hat er sich schon oft bei seinem Vorgesetzten über diesen schrecklichen Draht beschwert. Doch es nutzte bisher nichts. Immer wieder wurde er an einigen Ecken verwendet, die nicht so offensichtlich ins Auge fallen. Aber jetzt hat Wilhelm einen echten Grund zur Beschwerde. Schließlich hätte sich der Kleine ganz schön verletzen können. Wenn von der Gemeinde nichts geschieht, will Wilhelm den Stacheldraht auch ohne Genehmigung gegen einen anderen Zaun austauschen!

Wilhelm ärgert sich. Schon so manch einen Cowboy hat dieser Stacheldraht arbeitslos gemacht. Denn als vor über 100 Jahren, am 24.11.1874, der amerikanische Farmer Joseph F. Glidden aus Illinois ein Patent für die Herstellung von Stacheldraht erhielt, stellte er diesen Draht zur Einzäunung von Weiden auch in Massen her. Nun übernahm der Stacheldraht einen großen Teil der Aufgaben der Cowboys. Bislang waren sie für das Zusammenbleiben der Herden und den Schutz des Weidelandes zuständig gewesen. Nun aber war der Stacheldraht da. Erfunden hatte diesen Draht schon 1868 der Amerikaner Michael Kelly. Doch der produzierte ihn nicht.

Nicht nur den Cowboys war der Stacheldraht ein Dorn im Auge. Schließlich dient Stacheldraht nicht nur der Umzäunung von Tierweiden, sondern auch zum Absperren von Geländen, in die Menschen nicht eindringen oder aus denen sie nicht herauskommen sollen. Da heißt es dann, Stacheldraht dient dem Bau von Drahthindernissen.

Wilhelm denkt unweigerlich an die Zonengrenze und die Mauer von Berlin, wo Stacheldraht mit verwendet wurde. "Zum Glück gibt es die Mauer heute nicht mehr. Aber es gibt immer noch zu viele Grenzen mit Stacheldraht in der Welt", denkt Wilhelm.

Es wird Zeit, nach Hause zu gehen. Ja, ein gemütliches Zuhause, wo es gleich schön warm sein wird, erwartet Wilhelm. Dort wird er sich auf sein Sofa legen und bei Musik ein Dämmerstündchen abhalten. Alles Licht im Zimmer bleibt ausgeschaltet. Wilhelm läßt es im Zimmer einfach immer dunkler werden. Nur die drei roten Lämpchen am Radio werden brennen. Dann träumt Wilhelm vor sich hin. Da gibt es keinen Stacheldraht.

1. Dezember 2008

Gute Nacht