Schattenblick →INFOPOOL →KINDERBLICK → GESCHICHTEN

GUTE-NACHT/2897: Corinna blickt hinter den Vorhang (SB)


Gute Nacht Geschichten


"Was ist denn mit dir los?", fragt Frau Langer ihre Tochter, die im Schlafanzug und mit frisch geputzten Zähnen schon um halb acht `Gute-Nacht' sagen will. Corinna gähnt und antwortet auf die Frage: "Ich bin einfach müde." Frau Langer faßt ihre Tochter an die Stirn, ob Corinna vielleicht Fieber hat. Doch die Stirn ist nicht heiß. "Also gute Nacht, mein Schatz." - "Gute Nacht, Mama."

In ihrem Zimmer angekommen, zieht sich Corinna eine lange Hose und ein T-Shirt über den Schlafanzug und legt sich damit ins Bett. Schließlich möchte sie nicht in ihren Nachtsachen im Kaufhaus erscheinen. Die Vorhänge an dem Fenster sind zugezogen, so liegt das Zimmer im Dunkeln. Corinna schließt die Augen. Schon steht sie in der Nähe der Ladentheke des Süßwarenstandes im Kaufhaus. `Huch, ich bin ja schon drin', denkt sie, `das ist ja toll. Wenn ich gar nicht durch die offene Ladentür eintreten muß, dann kann ich morgen auch später ins Bett gehen.'

Schon freut sie sich auf ein leckeres Bonbon, da sieht sie wie eine Verkäuferin die Bonbons aus aller Welt zurück in die jeweiligen Kartons schüttet, diese auf einen Wagen stapelt, den sie dann zum Fahrstuhl schiebt. Es ist der Fahrstuhl, der auch zur Dekorationsetage führt. Corinna kann nicht mit einsteigen, denn sie darf nicht gesehen werden, wenn sie noch länger hier im Kaufhaus bleiben will.

Die Kunden strömen zu den Ausgängen. Corinna braucht einen Platz, an dem sie sich gut verstecken kann. Schon länger wünscht sie sich, einmal ganz alleine in einem Kaufhaus zu sein. Zu diesem Zeitpunkt schafft sie es nicht mehr zum Personalfahrstuhl und mit ihm nach oben in ihr Versteck zu gelangen. Doch sie kennt den Weg in die Schaufenster-Dekoration. Die Räume der Innendekorateure, wozu auch Corinnas Tante May gehört, liegen im vierten Stock. Die Räume der Schaufensterdekorateure liegen gleich hier im Erdgeschoß, wo auch die großen Fenster zum Ausstellen der Waren sind. Während die Abteilung für die Innendekoration nur wenig Puppen und Material zum Schmücken bedarf, benötigt die Schaufensterdekoration viel Platz für ihre Schaufensterpuppen und die Kästen auf denen sie die Waren präsentieren. Somit braucht diese Abteilung viel mehr Platz als die andere und findet ihn in noch zusätzlichen Räumen im Kellergeschoß.

Corinna kennt sich auch hier ein wenig aus, denn sie durfte einmal einen ganzen Samstag lang ihrer Tante helfen, die als Vertretung in der Schaufensterdekoration aushalf. Da samstags immer nur einer der Dekorateure Dienst hat und Tante May ihrer Nichte zeigte, wie sie sich fast unsichtbar machen konnte, durfte sie mitkommen. Mit ihrem Wissen schleicht sich Corinna in einen der Kellerräume und versteckt sich zwischen den Schaufensterpuppen. Sie sind fast alle nackt. Schließlich wandern die ausgestellten Kleidungsstücke gleich nach der Präsentation in den Fenstern wieder in die Abteilungen zurück, in denen die Kleidungsstücke verkauft werden.

Hier in der Schaufensterdekoration ist schon seit vier Uhr nichts mehr los und in den Kellerräumen schon gar nicht. Die Dekorateure sind längst heim gegangen. Nur ein Dekorateur hat meist noch etwas länger Dienst, falls einmal eine Puppe im Fenster umfällt oder etwas anderes geschieht. Neulich erst, das erzählte Tante May, sei aus Versehen ein Hund in die Dekorationsabteilung geraten, obwohl Hunde gar nicht ins Kaufhaus dürfen. Dann hatte der kleine Kerl auch noch den Weg ins Schaufenster gefunden. Die Kunden vor dem Fenster fanden es lustig und glaubten, der kleine Kerl solle für Stimmung sorgen und die Kunden anlocken. Doch die Dekorateure fanden das gar nicht lustig. Schließlich setzte der kleine Dackel einen dicken Haufen voll auf den "Sandstrand" mit Palmen in Fenster 7.

Nachdem Corinna jetzt schon eine ganze Weile gewartet und sich dabei hier umgeschaut hat, blickt sie auf die große Uhr an der Wand. Es ist inzwischen 20.44 Uhr. `Ob ich mich schon einmal in den Verkaufsraum vage? Vielleicht sind die Putzkolonnen schon für heute fertig?'

Corinna verläßt den Kellerraum und gelangt in einen schmalen Gang. Hier ist sie doch vorhin nicht entlang gekommen? Sie sieht einen Vorhang und überlegt: `Was wohl dahinter ist?' Vorsichtig steckt Corinna die Nasenspitze zwischen den beiden Vorhanghälften hindurch, die beiden Augen folgen.

"Oh, was ist das?", Corinna zieht den Kopf schnell zurück. Sie wäre beinahe wie der kleine Dackel in einem Schaufenster gelandet. Vor lauter Schreck, hat sie die Augen geöffnet. Da liegt sie in ihrem Zimmer, eingekuschelt unter ihrer Decke.

Corinna drückt ihren Kuschelbär fest an sich. `Warum bin ich nur so schreckhaft?', fragt sich Corinna und nimmt sich vor, morgen erst später ins Kaufhaus zu reisen, wenn keine Putzkolonnen mehr im Einsatz sind, und sie endlich einmal richtig allein im Kaufhaus sein kann.

Erstveröffentlichung 7. September 1998

1. April 2009

Gute Nacht