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GUTE-NACHT/3140: Anlocken (SB)


Gute Nacht Geschichten

Im Keller der alten Bücherei bei den Kinderbüchern und Zeitungen lebt Benjamina, die Leseratte. Bücher liebt sie über alles. Darum hat sie auch stets gut aufgepaßt, wenn Vater oder Mutter Eckhardt ihr aus einem Buch vorgelesen haben. Auf diese Weise lernte sie selbst zu lesen. Mit dieser Fähigkeit versucht sie nun, den Bücherwurm davon zu überzeugen, daß Bücher nicht zum Fressen da sind.

Gestern hatte Benjamina dem Bücherwurm eine Geburtstagsgeschichte vorgelesen. Zu Fressen bot sie ihm dabei ein altes Telefonbuch an. Das jedoch verschmähte dieser und machte sich auf und davon.

Benjamina hat eines der kleinen Bücher bereits die Treppe zum Erdgeschoß hinaufgetragen. Hier setzt sie sich nun hin und denkt: "Wenn ich nach diesem Wurm jetzt rufe, kommt er bestimmt nicht. Aber vielleicht kann ich ihn ja mit einer List anlocken." Benjamina, die Leseratte, beginnt laut zu lesen.


*


Es war einmal ein Wurm. Der fühlte sich ziemlich alleingelassen in der dunklen Erde. Seine Freunde und Verwandte hatten sich aufgemacht zum Lande "Kompost". Dort, so hieß es, würde es die beste Erde überhaupt in der Welt geben. Der Wurm allerdings wollte nicht fort. Ihm gefiel es hier in seinem Erdreich. Er wußte ja nicht, daß alle seine Freunde fortgehen würden. Er glaubte, daß sich für ihn nichts ändere. Die Freunde waren ja immer vorbei gekommen, warum nicht jetzt? Aber der Kompost lag im Garten ein ganzes Stück abseits. Da machte sich keiner auf, zurück in die alte Heimat zu kriechen. Hier war ja bereits alles im Überfluß vorhanden, auch jede Menge neuer Freunde. Da wäre es doch töricht, wieder zurück zu gehen.

Von Tag zu Tag gefiel dem Wurm die Einsamkeit immer weniger. Eines Tages kletterte er durch eine große Röhre in der Erde. Ganz in Gedanken wurde ihm zu spät klar, daß dieser Gang von dem Maulwurf gegraben worden war. So begab er sich schleunigst davon. Dabei merkte er nicht, daß er immer weiter zur Erdoberfläche hin kroch. Draußen war es auch nicht viel besser als im Gang. Denn kaum den Kopf aus dem Erdloch herausgestreckt, kam bereits ein Vogel geflogen und riß den Wurm in die Höhe. Mit seiner Beute stieg der Vogel wieder auf in die Luft. Dem Wurm in seinen Krallen wurde es ganz schwindelig. So hoch in der Luft war er noch nie gewesen.

Da stürzte sich plötzlich von oben ein noch größerer Vogel herab und krallte sich den Vogel mitsamt dem Wurm. Der gefangene Vogel dachte nun nicht mehr an seinen Magen, sondern nur noch an das nackte Überleben dachte. Er öffnete seine Krallen, um sich wehren zu können und ließ dabei den Wurm fallen. Dieser sauste immer schneller zu Boden.

Da der Vogel mit dem Wurm vor seiner Gefangennahme noch nicht weit geflogen war, kam es, daß der Wurm bei seinem Absturz schön weich auf dem Komposthaufen landete. Von der Erschütterung des Bodens angelockt, kamen viele seiner alten Freunde aus der warmen Komposterde heraus gekrochen. Vor Freude über das Zusammentreffen mit dem vom Himmel geflogenen alten Freund wurde ein Fest gefeiert. Es gab alles, was das Würmerherz begehrt.


*


Benjamina blickt von dem kleinen Buch empor. Sie hofft, jetzt den Bücherwurm in ihrer Nähe zu entdecken. Doch es war wohl alles umsonst. Enttäuscht begibt sich die Leseratte zurück in ihr eigenes Versteck und grübelt dort darüber nach, wie sie den Bücherwurm doch noch aus seinem Versteck hervorlocken und ihm das Bücherfressen abgewöhnen kann.


16. Februar 2010

Gute Nacht