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GUTE-NACHT/3158: Hinter Glas (SB)


Gute Nacht Geschichten

"Sag mal Hütchen, hast du die Leseratte heute schon gesehen?", fragt der Student Edgar den Bücherwurm, nachdem er schon eine halbe Stunde vergeblich nach Benjamina gesucht hat. "Hütchen? Was ist denn das für ein Name für einen so alten Bücherwurm wie mich. Und nein, auch ich habe Benjamina den ganzen Tag und den Abend dazu noch nicht gesehen", mit diesen Worten dreht sich der Bücherwurm um seine eigene Achse und verschwindet wieder in seinem Zeitungsstapel, der schon ziemlich angegriffen aussieht.

"Nun, dann werde ich eben allein nach Benjamina suchen. Und ja, Hütchen finde ich einen gar nicht so üblen Namen für einen kleinen Kerl, der ständig mit einer neuen Kopfbedeckung erscheint. Aber ich könnte ihn auch Mütze, Zylinder oder Kochtopf taufen. Ach nein, nicht Kochtopf, sondern Kochmütze oder auf französische Art einfach Toque. Nun für diese Wortspielchen habe ich jetzt aber keine Zeit. Ich muß Benjamina finden. Vielleicht ist ihr irgendetwas zugestoßen."

Damit hat Edgar gar nicht so unrecht. Benjamina hatte die vergangene Nacht wieder einmal in dem schwarzen Schrank geschlafen und zwar ganz unten in dem Karton im untersten Regalfach. In diesem Schrank wurde heute aufgeräumt. Allerdings hatte Rassmus, der Praktikant, keine besondere Lust, sich lange mit dieser Arbeit aufzuhalten. So stellte er alles, was nach Altpapier aussah, gleich ohne es sich genauer anzuschauen, auf den Rollwagen. Damit fuhr er dann den Fahrstuhl hinauf ins Erdgeschoß und zog den Wagen hinter sich her ins Freie zur Papiermülltonne. Hier warf er einfach alles Papier hinein. Auch den Karton warf er - ohne ihn vorher auszuleeren oder klein zu reißen - direkt in den großen Schlund der Papiermülltonne. Dann war er schnell wieder mit seinem Wagen verschwunden.

Benjamina schlummerte gemütlich in dem Karton, als er plötzlich geschüttelt wurde. Benjamina verkroch sich tiefer unter all die Papierschnipseln und das Füllmaterial und verhielt sich so still wie sie nur konnte. Obwohl das gar nicht so einfach war bei diesem Geruckele. Dann lag der Karton wieder still, und dennoch hatte Benjamina das Gefühl vorwärts zu gelangen. Dem schloß sich ein weiteres merkwürdiges Gefühl an, als ob es in die Höhe ginge. Bald war wieder das Fahrgefühl vorherrschend. Plötzlich wurde der Karton, in dem Benjamina steckte, hochgenommen und bald darauf wieder fallen gelassen.

"Autsch, das tat weh, trotz der vielen Zettel und Puffer", beschwert sich Benjamina. Zuerst verhält sie sich nun ganz ruhig. Denn sie weiß nicht, welche Gefahr da draußen, außerhalb des Kartons, auf sie lauert. Nach einer langen Zeit, in der aber nichts geschieht, will Benjamina einmal den neuen Ort erkunden. Sie erkennt, daß sie in der Falle sitzt.

"Es muß die große Mülltonne hinter der Bücherei sein, in der ich stecke", stellt Benjamina fest. Vom Fenster im Erdgeschoß aus hat sie diese Tonne schon einmal gesehen. Selbstverständlich will sie so schnell als möglich hier wieder heraus, und das noch bevor die Bücherei ihre Türen schließt. Doch wie soll sie es anstellen. Die glatten Wände kann sie nicht hinaufklettern. "Schade, daß nicht mehr Papier in der Tonne liegt. Wäre hier ein riesiger Berg, könnte ich einfach hinaufsteigen und aus der Tonne hinausklettern."

Bei diesem Gedanken hat Benjamina plötzlich eine Idee. Sie will sich aus dem Mülltonneninhalt einen solchen Berg aufbauen. Zuerst besieht sie sich all das, was bisher in die Mülltonne hineingeworfen wurde. Da plötzlich geht schon wieder die Müllklappe weit auf und die nächste Ladung Altpapier kommt herein gepoltert. Benjamina hat gerade noch Zeit, sich in die äußerste Ecke zu ducken. Dann fällt die Müllklappe wieder herunter. Ein kleiner Spalt bleibt jedoch offen.

"Oh, meine Güte!", Benjamina schlottern ihre vier Beine, "da hat doch einer tatsächlich Bücher nach mir geworfen. Ist denn das die Möglichkeit. Wie kann einer nur Bücher wegwerfen?" Benjamina ist empört. Doch dann erkennt sie ihre Chance und baut sich eine Treppe.

Leider reicht das nicht aus, um heraus zu steigen. Aber es kommen zum Glück immer neue Bücher in den Container herunter. "Das muß ich aussitzen", denkt Benjamina und hofft, daß keines der Bücher auf ihren kleinen Körper trifft. Die Zeit vergeht und schließlich folgen keine neuen Bücher mehr nach. Denn die Bücherei schließt und alle Mitarbeiter gehen nach Hause. Auch Benjamina möchte nach Hause und da strengt sie sich mächtig an, einen Treppenberg hinzubekommen. Endlich kann sie aus dem Container herausschauen.

Sie entdeckt eine Gestalt, die in die Bücherei geht. "Das muß Edgar sein!", aufgeregt versucht Benjamina noch zu ihm zu gelangen, bevor er die Türe schließt. Doch leider kommt sie zu spät und sieht nur noch, wie Edgar die Treppe in den Keller hinunter steigt.

Benjamina drückt ihr Gesicht an die Fensterscheibe der Glastür. Ein bißchen feucht ist sie. "Ob Edgar mich vermißt?", fragt sich Benjamina. Eine ganze Weile hockt sie da hinter der Tür und hofft darauf, doch noch eingelassen zu werden. Langsam wird ihr kalt. "Vielleicht sollte ich die Nacht lieber in der Tonne mit dem Papier und den vielen Büchern verbringen. Da ist es sicher schön warm."

Doch Benjamina bleibt standhaft. Denn nur wenn sie hier wartet, kann Edgar sie finden. Und das geschieht auch. Als Edgar den ganzen Keller abgesucht hat, steigt er ins Erdgeschoß. Da die Eingangstür direkt gegenüber der Kellertreppe liegt, sieht er sogleich das kleine ihm vertraute Gesicht plattgedrückt hinter der Glasscheibe. "Warte, warte!", ruft er und läuft in den Keller, den Schlüssel zu holen. Zum Glück hat Benjamina so lange durchgehalten. Endlich kann sie wieder ins Warme und bekommt auch eine leckere Mahlzeit - Cornflakes.

Aufgewärmt und satt fällt Benjamina plötzlich etwas ganz Wichtiges ein. "Danke, daß du mich gerettet hast. Aber jetzt gibt es noch mehr zu retten, nämlich jede Menge Bücher, die alle wieder aus dem Müllcontainer herausgezogen werden wollen." - "Bücher im Müllcontainer?", Edgar will es erst gar nicht glauben. Doch er folgt Benjamina, und beide retten eine große Ladung alter Bücher aus der Kälte und vor dem Reißwolf.


11. März 2010

Gute Nacht