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GUTE-NACHT/3503: Boardy - ab zum Sperrmüll (SB)


Gute-Nacht-Geschichte von Boardy


Boardy - ab zum Sperrmüll



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Das Aufstehen und Laufen fällt dem Mann mit der roten Mütze und den abgetragenen Sachen schwer. Doch da bietet sich ihm die Gelegenheit, mit einem Brett auf Rollen loszufahren. "So hab ich mir immer das Seifenkistenrennen vorgestellt", denkt er. Den Berg abwärts geht es leicht. Als der Weg jedoch eben wird, ist auch das Fortkommen auf dem Rollbrett beschwerlich.

"Warum hat das Ding bloß keine Lenkstange?", moniert der Mann, "hier auf der ebenen Strecke ist es also doch leichter, zu Fuß zu gehen. Ich werde das Brett einfach am Bordstein liegenlassen." Mit einem Kick mit dem Fuß landet das Skateboard im Gulli.

"Mich einfach hier zurück zu lassen, finde ich nicht fair!", sagt da eine Stimme und der Mann entrüstet sich darüber, wer sich in seinem Gehirn Gehör verschaffen will. "Ich sollte wohl doch die kleinen viereckigen Flaschen nicht mehr anfassen", stottert der Mann und torkelt allein weiter. Ein Schrei hinter ihm: "Hast du nicht gehört! Ich will mit, du Weihnachtsmann." - "Du Weihnachtsmann? Habe ich richtig gehört? Nur Weihnachtsmann wäre ja noch eine Ehre. Aber du Weihnachtsmann ist eine glatte Beschimpfung."

Der Mann schüttelt den Kopf. Machte sich da einer hinter den Büschen einen Spaß mit ihm? Es ist dunkel, da kann sich so manch einer gut verbergen. Noch ein drittes Mal hört der Mann die rufende Stimme. Doch je weiter er geht, um so schwächer wird sie.

Boardy hat versucht Kontakt zu dem Mann aufzunehmen. Schließlich hielt er ihn für den Weihnachtsmann und den wollte er ja finden. Dieser Mann hier machte zumindest am Anfang der Begegnung einen passenden Eindruck. Aber wäre er der Weihnachtsmann, hätte er sofort gewußt, wer mit ihm sprach.

Boardy überlegt, dem Mann zu folgen. Doch wie dieser ihn gegen den Bordstein gestoßen hatte, war nicht gerade einladend. So beschließt Boardy, sich alsbald allein auf den Weg zu begeben. Doch bei dem Versuch, endlich los zu rollen, stellt Boardy fest, daß eine seiner Rollen in dem Gullideckel festklemmt. Darum hat er dem Mann hinterher gerufen und immer wieder versucht, den Mann um Hilfe zu bitten. Doch der wollte nur fort. Jetzt also sitzt Boardy mit einer Rolle im Gullideckel fest. Wer kann ihm da wohl helfen?


*


An diesem Morgen stehen überall an der Straße alte Schränke, Matratzen, kaputte Spielsachen und noch anderer Kram. Kurz vor Weihnachten nutzen die Bürger noch einmal den Sperrmüll, um ihre Dachböden und Keller leer zu räumen. In wenigen Tagen benötigen sie diesen Platz für all die Dinge, die sie nach Weihnachten ausrangieren werden und für die leeren Kartons der Weihnachtsgeschenke, die sie vorerst noch einmal aufheben möchten. Es könnte ja sein, daß die Geschenke doch noch wieder umgetauscht werden sollen.

Die Männer vom Sperrmüll sind mal wieder von den Socken. "Was da so alles weggeworfen wird", staunt Eddy, "mit all diesen Sachen könnte ich glatt einen Alte-Sachen-Laden aufmachen."

"Das heißt nicht Alte-Sachen", verbessert Theo, "das nennt sich Antiquitäten oder einfach Antik-Laden." Da mischt sich der dritte Müllmann mit in das Gespräch ein. "Was wollt ihr denn mit all dem ollen Zeug?", fragt er, "schaut mal lieber was da vorne im Gully liegt. Ob das auch Sperrmüll sein soll?"

Das Müllauto rollt weiter und Karl, der dritte Mann, bückt sich um das Skateboard aufzuheben. "Es klemmt fest", ruft er Eddy zu, "hilf mir mal!" Gemeinsam holen sie das Skateboard aus dem Gully. "Ich glaub nicht, daß so ein gutes Board weggeworfen werden soll!", überlegt Karl laut. "Wieso gut?", meint Eddy, "da is' ja noch nicht mal eine Lenkstange dran." - "Aber Eddy", stöhnt Theo, "das ist doch ein Skateboard und kein Roller!" - "Kannst du darauf fahren?", fragt Karl, der Theos Besserwisserei nicht mag. "Hab ich nicht nötig", entgegnet Theo, "ich hab ja ein Auto. Nun mach schon, wirf das Brett endlich in den Container. Damit wir weiterkommen."

Doch Karl legt das gefundene Skateboard nach vorn zum Fahrer. "Paß gut darauf auf, ich will es nämlich mit nach Hause nehmen. Und laß nicht zu, daß Theo es wegwirft. Danke!", fügt Karl noch bei.

So ist Boardy nun aus dem Gulli befreit und fährt den ganzen Tag im Müllwagen spazieren


*


Endlich sind alle Straßen für heute abgefahren und der Sperrmüll eingesammelt. Jetzt geht die Fahrt nur noch zur Deponie, anschließend zurück zur Firma und nach dem Duschen ab nach Hause. Karl freut sich schon auf seinen Feierabend. Doch auf der Deponie gibt es fast noch einen Streit zwischen Theo und Karl. Theo will das Skateboard ab in den Müll werfen. Aber Karl hält das Board zurück. Er hatte es nicht aus dem Gully gezogen, sich fast dabei noch die Finger geklemmt, um es jetzt dem Müllberg zu überlassen.

Nachdem Eddy sich auf Karls Seite schlägt und findet, "das Ding sieht doch noch aus wie neu!", gibt Theo beleidigt nach, bringt aber noch Vorschriften an: "Wir dürfen keine Sachen zu unserem eigenen Vorteil zurückbehalten." - "Ich denke, daß jemand das Board verloren hat. Deshalb werde ich es besser sowieso beim Fundbüro abgeben", verkündet Karl und damit ist die Sache gegessen. Trotzdem kommt auf der Rücktour kein Gespräch in irgendeiner Richtung mehr zustande. Alle sind froh, aus ihrer dreckigen Kluft heraus und in der Firma unter die Dusche springen zu können.

Im Grunde findet Karl die Arbeit gut. Immer ist er an der frischen Luft. Doch die Drecksarbeit für andere zu erledigen, wäre weitaus erfreulicher, wenn diese Leute, denen ihr Müll vor der Haustür weggeräumt wird, nicht die Müllmänner mit ihrem eigenen Dreck verwechselten. All das vergißt Karl jedesmal unter der Dusche. Hier ist er nicht mehr Müllmann, sondern ein junger Mann voller Tatendrang und der Liebe zum Sport ...

Schade, daß es zu dieser Jahreszeit nicht mehr hell ist. Sonst könnte Karl noch das gefundene Skateboard ausprobieren. Doch es scheint ohnehin ein Kinderbrett zu sein. Das würde auch erklären, warum das Brett zurückgelassen worden war. Der Junge oder das Mädchen bekamen das festgeklemmte Skateboard nicht wieder aus dem Gullydeckel heraus und waren sicher Hilfe holen gegangen. Wenn sie nun zurückgekommen waren, sind sie sicher traurig, daß ihr Board verschwunden ist ...


*


Feierabend. Endlich ist Karl zurück in seiner Wohnung. Jetzt hat er erst einmal Hunger. Das mitgebrachte Skateboard vom Sperrmüll - oder aus dem Gully - legt Karl im Flur ab. Der Flur ist recht lang. Karl stellt sich auf das Skateboard und rollt bis zum Ende des Flurs. "Na, da bekommt man ja schon richtig Fahrt drauf. Aber für mich ist das Board zu klein und hier im Flur macht das Fahren auch keinen Sinn. Was fange ich also mit dem Board an?"

Dieser Frage geht Karl nach, während er für sich ein paar Brote schmiert. Mit dem vollen Teller setzt er sich in sein einziges Zimmer und schaltet den Fernseher an. Was kommt, gefällt ihm nicht und er drückt schnell wieder den Ausschaltknopf.

Müde ist er eigentlich nicht. Sollte er noch etwas unternehmen an diesem Abend? Er ruft seinen Freund Jörg an und vereinbart ein Treffen. Jörg will ihn in einer halben Stunde abholen. Als sein Freund klingelt, läd Karl ihn noch kurz in die Wohnung ein. "Schau mal, was ich heute von der Arbeit mitgebracht habe." Jörg staunt: "Sollt ihr jetzt neuerdings den Müll per Skateboard einsammeln?" Beide lachen. "Na, das werden die uns sicher nicht zumuten. Da werden wir ja nie fertig. Auch wenn das kleine Ding ganz schön schnell werden kann", meint Karl.

"Kleines Ding? Müll? Wieso lachen die beiden Männer über mich? Das ist nicht fair!", denkt Boardy, "und was soll ich überhaupt hier in der Wohnung! Ich will den Weihnachtsmann finden, um ihm zu sagen, daß er Kenny kein neues Skateboard bringen soll. Doch wenn das so weitergeht, finde ich nie den Weihnachtsmann und auch zu Kenny nicht wieder zurück." Boardy ist traurig. Er merkt nicht einmal, daß er schon wieder zum Einsatz kommt.

Jetzt probiert Jörg das Skateboard aus: "Es ist wirklich schnell und das für ein Kinderskateboard. Damit könntest du glatt das Herz meines Filius erwärmen, wenn er ein paar Jahre älter wäre." Wieder lachen die beiden Männer, denn der Sohn von Jörg ist gerade mal ein halbes Jahr alt. Nun erlöscht das Licht im Flur. Die beiden Männer ziehen noch um die Häuser - ohne Skateboard.

Boardy bleibt im dunklen Flur zurück. Da wäre er schon lieber auf der Straße geblieben. Denn dort hätte er wenigstens ausreißen können.

© 2010 by Schattenblick


zum 22. Dezember 2011