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GUTE-NACHT/3622: Ein ganzer Stapel Bücher (SB)


Gute-Nacht-Geschichten

Ein ganzer Stapel Bücher

Enna liegt mit Mausohr im Bett und bürstet ihr das Fell. "Sei nicht so ungeduldig", versucht das Mädchen ihre Stoffmaus zu beruhigen. Beide warten auf Uroma Kathie. Enna erklärt: "Oma braucht heute einfach etwas länger, um ein Buch zum Vorlesen auszusuchen."

Aber da klopft es bereits an der Tür. "Herein", ruft Enna laut und verkneift sich den Zusatz, "wenn es kein Schneiderlein ist." Dieser Satz ist einer von Uroma Magdas Lieblingssprüchen, die Enna gar nicht leiden kann. "Wieso soll ein Schneider nicht hereinkommen dürfen", fragt sie sich stets.

Uroma Kathie tritt ein. In den Händen hält sie einen ganzen Stapel Bücher. Enna staunt nicht schlecht. "Oma, liest du mir heute die ganze Nacht vor?", fragt sie erfreut.

"Das wohl nicht." - "Aber warum hast du dann so viele Bücher mitgebracht?", möchte die Kleine wissen.

Uroma Magda lädt die Bücher auf dem Nachttisch ab und nimmt im Schaukelstuhl Platz. "Weißt du, ich habe heute etwas in der Zeitung gelesen, über einen Kinderbuchautor. Der hat sehr, sehr viele Bücher geschrieben - du kennst einige davon. Er war schon sehr alt und ist jetzt gestorben. Ich hab mal alle Bücher zusammengesucht, die wir von ihm im Haus haben."

Enna schaut auf den Stapel Bücher. Sie nimmt eines nach dem anderen vom Nachttisch und verteilt sie auf der Bettdecke. Das oberste Buch ist ihr fremd. Es sieht unheimlich aus mit dem dunklen Haus und den großen, schwarzen Vögeln darauf. "Das ist Krabat", sagt Uroma Kathie, "ich glaube, das ist noch ein bißchen zu unheimlich für dich."

Bis auf Krabat kennt Enna die Helden der anderen Bücher wirklich alle. Da ist die kleine Hexe, die heimlich zu dem Fest der großen Hexen fliegt, aber eigentlich noch viel zu jung dafür ist und deshalb nicht dabei sein darf. Dabei ist auch Räuber Hotzenplotz, der sich immer mit Kasperl anlegt. Auf dem nächsten Buch schaut Enna der kleine Wassermann entgegen, und auf dem übernächsten taucht das kleine Gespenst auf. Das ist Ennas Lieblingsgeschichte. Die Turmuhr auf der Burg des kleinen Nachtwesens bleibt eines Tages stehen und wird erst Stunden später repariert. Dadurch gerät der Schlafrhythmus des kleinen Gespenstes durcheinander. Es wacht nicht mehr um Mitternacht, sondern Schlag 12 Uhr am Mittag auf. Das bringt einige Verwicklungen mit sich.

"Was soll ich dir vorlesen?", fragt Uroma Kathie. Enna überlegt. Dann antwortet sie: "Erzähl was von dem Mann, der die Bücher geschrieben hat!"

"Mhm, ich weiß gar nicht viel von ihm", beginnt Uroma Kathie, "es ist merkwürdig, wenn wir in einem Buch lesen, dann erscheinen uns die Figuren darin so lebendig. Die Frau oder der Mann, die sich diese Helden ausgedacht haben, sind indess' gar nicht für uns vorhanden, irgendwie denkt man nicht an sie, außer sie tauchen selber in der Geschichte auf. Aber wenn so ein Schriftsteller oder eine Autorin stirbt, versuchen wir diese Menschen in ihren Büchern wiederzufinden. Es ist, als sprächen sie nun direkt selber zu uns. Weißt du, was ich meine?"

Enna überlegt einen Moment. Dann sagt sie: "Mhm, das ist so, als wenn du mal verreist bist. Wenn ich mir dann abends die Bilder in den Büchern mit Mausohr ansehe, hören wir manchmal deine Stimme, als ob du uns die Geschichte gerade vorliest. Meinst du das?"

"Ja, ein bißchen meine ich das so. Durch seine Bücher bleibt uns ein Schriftsteller viele Jahre in Erinnerung, ja manchmal über Jahrhunderte wie zum Beispiel Goethe." Enna macht große Augen. Doch Uroma Kathie winkt nur ab: "Von dem lese ich dir vielleicht später mal etwas vor, wenn du in die Schule gehst."

Eine Weile ist es still im Raum. Dann sagt Enna: "Oma, kannst du nicht auch ein Buch für mich schreiben?"

"Ich?", wundert sich Uroma Kathie. "Ja, bitte. Ich möchte in deinem Buch lesen, wenn ich groß bin, und dich dabei immer hören." - "Na mal sehen, es wird kein Buch werden, aber ein paar Geschichten werden mir schon einfallen." - "Ja bitte, und alle meine Omas und mein Opa sollen auch darin vorkommen", bestimmt Enna. Sie steigt aus dem Bett auf Uromas Schoß und drückt sich fest an sie.

Nach einer Weile sagt Uroma Kathie: "Nun aber ab ins Bett, du bist ja schon ganz kalt." Enna schlüpft zurück unter ihre Decke. Uroma Kathie nimmt Ennas Lieblingsbuch vom Bett und liest den Titel laut vor: "'Das kleine Gespenst' von Otfried Preußler." Jetzt schlägt sie das Buch auf und die Geschichte beginnt ...

"Gute Nacht."


zum 22. Februar 2013