Schattenblick → INFOPOOL → KINDERBLICK → GESCHICHTEN


KALENDERGESCHICHTEN/102: 06-2019   Der kleine Elefant - ein Geheimnis ... (SB)



Roland hockt traurig im Gras, neben ihm sitzt der freundliche Elefantenbulle und Nico läuft munter auf die beiden zu - Buntstiftzeichnung © 2019 by Schattenblick


Die gefährliche Begegnung mit dem Löwen am Wasserloch saß dem kleinen Elefanten noch in den Knochen. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er so viel Angst, noch nie zuvor fühlte er sich so hilflos und er wusste nicht einmal wie er das Elefanten-Baby Nico vor dem Löwen-Angriff hätte schützen können. Glücklicherweise rettete die Elefantenherde die beiden kleinen Elefanten aus ihrer Notlage.

Nico verkroch sich unter seiner Mutter und weinte, was aber niemand sehen sollte. Sanft tastete Mama Maja mit dem Rüssel nach ihrem Sohn, der sich in ihrer Nähe und durch ihre Berührungen langsam wieder beruhigte. Roland saß immer noch etwas abseits und beobachtete verlegen Mutter und Sohn. Trotz all der gerade überstandenen Aufregungen und der Todesangst wurde ihm bei diesem Anblick ganz warm ums Herz. Er wünschte sich das erste Mal in seinem Leben, doch auch zu einer richtigen Elefantenfamilie zu gehören.

Der große Elefantenbulle, der sich freundlicherweise zu ihm gesellt hatte, ermunterte ihn, wieder aufzustehen und nicht traurig zu sein: "Ronny, du bist zwar klein, aber erwachsen, also nimm dich zusammen und lerne aus diesem unglückseligen Abenteuer!", brummte er.

"Aber ich hätte aufpassen sollen, Nico ist noch ein Baby und ich hätte ...", seufzte der kleine Elefant.

"Klar, aber du bist fremd hier und kennst die Gefahren nicht, die hier überall lauern. Wir hätten alle achtsamer und aufmerksamer sein müssen, statt dessen amüsierten wir uns über eure Tollerei am Wasserloch", gestand der Elefantenbulle.

Roland erhob und reckte sich, blickte zu dem großen Elefanten auf und beschloss, sich zusammenzureißen, so fasste er neuen Mut. Just in dem Moment trabte Nico auf ihn zu und schien schon wieder guter Dinge zu sein.

"Hey, Ronny", flüsterte Nico ziemlich laut, "das war aber ganz schön gefährlich! Mama meint, ich solle nicht verzagen und in Zukunft achtsamer sein. Ja, das hat sie gesagt und dann auch noch, dass wir Elefanten uns nicht wirklich vor jemanden fürchten müssen, wenn wir erst mal richtig groß sind. Wir haben nur einen Feind und das ist der Mensch!" Nico war ganz aufgeregt, weil er nun von einer weiteren, wohl viel gefährlicheren Bedrohung gehört hatte, die noch grausamer und schrecklicher ist als jene, die von einem Löwen ausgeht. "Ich habe beschlossen, möglichst schnell sehr, sehr groß zu werden", sann Nico nach, "Ronny, hast du selbst auch schon Menschen gesehen? Gibt es dort, in dem Land in dem du bisher gelebt hast, etwa welche?"

Roland war sprachlos, erinnerte er sich doch seit langem einmal wieder an die Gräfin und Johann. Seine Erlebnisse hatten ihn so gefangen genommen, dass er überhaupt nicht mehr an die beiden gedacht hatte. "Wo mögen sie wohl jetzt sein?", überlegte er und sorgte sich gleichwohl, ob er sie überhaupt je wiedersehen würde. Und jetzt erzählte ihm Nico, dass Menschen die schlimmsten Feinde der Elefanten sein sollten? Wie passte das zusammen? Die Gräfin und Johann waren immer gut zu ihm und auch zu all den anderen Tieren, die es noch in seiner Heimat gab. Wie konnten sie böse Feinde sein?

Derweil wurde Nico ungeduldig: "Hallo, Ronny, träumst du? Ich glaube nicht, dass es dort, wo du herkommst, Menschen geben kann. Wie sollten denn sie in einem Steinland leben können, wo es nichts zu essen gibt." Damit war für den kleinen Nico die Sache erledigt und er plapperte munter weiter: "Weißt du, Ronny, was das Tollste ist, ich weiß zu wem wir gehen müssen, ich weiß wen wir fragen müssen ..."

"Fragen, wonach denn fragen? Wohin gehen? Was meinst du Nico, ich verstehe dich nicht", bekümmert hob der kleine Elefant seinen Kopf. "Na, ja, nach der Pflanze suchen, nach dem Gras, von dem man riesig groß wird, wenn man nur genügend davon isst."

"Oh, ich wusste doch gar nicht, dass es so etwas gibt", staunte Ronny.

"Hmm, komm mal mit!", forderte Nico und stratzte ohne weitere Erklärung in Richtung Mama Maja. Roland folgte ihm.

"Mama, kannst du Ronny erklären, was es mit der Pflanze auf sich hat, die, von der man so riesengroß wird?"

Mama Maja hatte sich gerade ein Büschel Blätter ins Maul geschoben und kaute noch, deshalb nickte sie nur und zermalmte weiter das Blattwerk, bis sie es hinunterschlucken konnte.

"Wieso wollt ihr darüber etwas wissen. Wie kommt ihr dazu, nach dem uralten Elefanten-Geheimnis zu fragen?", wunderte sie sich doch sehr, "Nico, hast du etwa wieder die alten Elefanten belauscht und Dinge gehört, die dich noch gar nichts angehen?" Dabei schaute sie sehr erbost drein und Nico machte ein zerknirschtes Gesicht, er gab es jedoch lieber gleich zu, versuchte aber zu erklären: "Ich dachte, ich wollte, ich bin, ... Mama, ich wollte ganz, ganz schnell groß werden, damit mir niemand mehr gefährlich werden kann!", stammelte Nico.

Mama Maja war gerührt, aber sie musste dennoch das Geheimnis der Elefanten bewahren und konnte es nicht zulassen, dass ihr kleiner Sohn es munter drauflos ausplapperte.

"Also, hört gut zu. Das ist eine sehr schwer zu findende Pflanze und es gilt seit Ewigkeiten unter den Elefanten die Absprache, dass sie nur in besonderen Notfällen gegessen werden darf. Man muss sie sehr lange kauen, bis genügend Saft herausquillt, den schluckt man, nicht aber die zerkauten Halme, die muss man unbedingt wieder ausspucken."

"Was ist denn ein Notfall?", wollte Roland gern wissen, denn insgeheim sah er sich selbst auch schon die Pflanzenhalme kauen, in der Hoffnung dann ebenso groß zu werden, wie der Elefantenbulle.

"Nun, wenn die Mutter eines Elefantenbabys getötet wurde und keine seiner Tanten mehr Milch hat, die es trinken könnte, dann kaut eine Elefantenkuh diese Pflanze und flößt dem Kleinen den Saft ein. Es dauert dann nicht lange und das Baby wächst und gedeiht und niemand braucht sich mehr um sein Überleben zu sorgen. Das wäre so ein glücklicherweise seltener Notfall."

Roland konnte sich die Frage nicht verkneifen: "Könnte ich auch als ein Notfall gelten. Vielleicht würde ich so groß werden wie die anderen?"

"Hmm, also, hmmm", Mama Maja musste nachdenken, denn so eine Art Notfall war in der gesamten Geschichte der Elefanten noch nicht vorgekommen, "da muss ich mich erst einmal mit den anderen beraten, Ronny, denn so jemandem wie dir sind wir noch nie zuvor begegnet."

"Und was ist mit mir, Mama, was ist mit mir, ich will auch ganz schnell wachsen?!"

"Nein, Nico, du bist ganz bestimmt kein Notfall, du bist gesund und kräftig, allenfalls bist du schrecklich ungeduldig - aber das ist kein Notfall, das ist ganz normal", versicherte Mama Maja ihrem Sohn sehr eindringlich und machte deutlich, dass es keinen Sinn hatte, weiter zu betteln. Was aber Roland, den kleinen Elefanten betraf, war sie sich nicht sicher, ob es vielleicht doch eine Möglichkeit gäbe, ihm zu helfen.

Roland träumte derweil schon davon als ganz gewöhnlicher Elefant in einer richtigen Elefantenfamilie zu leben. Abermals schwanden seine Erinnerungen an die Gräfin und Johann, die sich allerdings sehr um ihn sorgten und mittlerweile sogar einige Dorfbewohner gebeten hatten, sie bei der Suche nach ihm zu unterstützen.

Fortsetzung folgt ...


zum 4. Juni 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang