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TIERGESCHICHTEN/019: Das Ei und der Hund ... (SB)



Julian stapfte missmutig an dem steinigen Strand entlang. Die Wellen brandeten mit ihren Schaumkronen dicht vor seinen Füßen. Das Meerwasser war angenehm warm, doch Julian wusste, dass er an dieser Stelle nicht ins Wasser gehen durfte. Hier waren schon viele Menschen in den vergangenen Jahrzehnten ums Leben gekommen, weil sie die starke Strömung unterschätzt hatten - das Meer riss sie von den Füßen und zog sie mit hinaus. Julian fluchte leise vor sich hin. Warum nur hatte seine Mutter hier oben im Norden mitten in der Einsamkeit ein Haus gekauft? In der nahegelegenen Kleinstadt hatte sie eine Stelle als Krankenschwester im örtlichen Krankenhaus angetreten. Und in dieser Stadt befand sich auch die Grundschule, die er nach den Ferien besuchen sollte. Doch wie sollte er hier Freunde finden? Die Sommerferien waren noch lang und in der näheren Umgebung schien sich keine Menschenseele aufzuhalten. Julian ärgerte sich, weil er seine Freunde Andy und Charly, die eigentlich Andreas und Christoph hießen, nicht mehr treffen konnte. Die Entfernung war zu groß. Sie waren beste Kumpel und sorgten mit ihren Späßen in der vierten Klasse oft für Wirbel - sehr zum Missfallen der Lehrer.

Julian bückte sich nach einem handlichen Stein, den er mit großem Schwung und samt seinem ganzen Frust ins Meer schleuderte. Als er sich den nächsten Stein-Kandidaten aussuchte, entdeckte er in einiger Entfernung ein merkwürdiges Gebilde. Es hatte die Form von einem Ei. Nein, kein Hühnerei, auch kein Gänse- oder Straußenei - es war noch viel größer.

Vorsichtig näherte Julian sich. Dieses Ding reichte ihm bis zur Hüfte. Er umrundete es, um es von allen Seiten zu begutachten. "Ich weiß nicht, ob Dinosaurier Eier gelegt haben. Aber wenn, dann muss dies ein Dino-Ei sein", sprach der Junge leise vor sich hin. Natürlich wusste er, dass das nicht sein konnte, denn Dinosaurier waren schon seit vielen Millionen Jahren ausgestorben. Aber was war es dann? Julian legte sein Ohr an die Schale, um zu prüfen, ob sich darin etwas bewegte. Nichts, absolut nichts war zu hören. Auch auf sein Klopfen hin rührte sich darin nichts. Die Oberfläche dieses Dings glänzte silbrig, schimmerte wie Metall.

Julian überlegte, was er nun mit seinem Fund anfangen sollte. Da fiel ihm der alte Schafschuppen ein, der sich hinter der nächsten Strandbiegung befand, wo der Steinstrand in einen von Gras bewachsenen Abschnitt wechselte. Dort, weit vom Wasser entfernt, stand der Schuppen. Gleich bei seinen ersten Erkundungsgängen hatte Julian ihn ausfindig gemacht und ihn zu seinem geheimen Unterschlupf auserwählt. Nun, welcher Ort hätte geeigneter sein können? Dorthin wollte er das seltsame Monster-Ei rollen. "Wenn da wirklich jemand drinnen lebt und vielleicht bald ausschlüpft, braucht dieses Wesen Schutz", dachte Julian. Er stemmte sich gegen das Ei und war überrascht, da es sich erstaunlich leicht bewegen ließ.

"Also, ein Dino-Ei ist es wohl kaum, dazu scheint es mir zu leicht zu sein", murmelte der Junge. "Vielleicht stammt es gar nicht von dieser Welt und ist kein Ei, sondern eine Raumkapsel, in der ein Außerirdischer hier gelandet ist. Oder ein Kind von einem Außerirdischen wächst in dem Ei heran." Julian rollte, während er sich so seine Gedanken machte, das Ei immer weiter über die kleinen Steine, bis er schließlich die Grasfläche erreichte. "Wäre es möglich, dass es das Ei eines mutierten Huhns ist? Wer weiß schon, welche Tiere sich nach den Atomunfällen in Tschernobyl oder Fukushima verändert haben. Zeit genug ist wohl vergangen. Aber dann müsste dieses Riesen-Mutanten-Huhn ja hier irgendwo noch herumlaufen. Wenn es aber ein Alien-Kind sein sollte, müsste ich es meiner Mutter sagen, damit sie sich kümmern könnte." Das waren die Überlegungen, die Julian in seinem Kopf hin und her bewegte.

Endlich erreichte er den Schuppen. Er ließ das Ei liegen und öffnete die Tür. Schummeriges Licht erfüllte den Stall und Julian ging in die Ecke, in der sich ein Haufen Stroh und Heu befand. Er lockerte den Haufen auf und baute eine Art Nest. Dann rollte er das Ei und bugsierte es in das Nest. "So, jetzt musst du allein zurechtkommen. Ich kann mich ja schlecht auf dich draufsetzen und dich ausbrüten!", lachte Julian. Das Ei blieb stumm.

Julian eilte nach Hause. Morgen würde er wieder nach dem Ei sehen. So vergingen zwei Tage, an denen er sich stets einmal zum Schafstall aufmachte. Das Ei blieb wie es war, es zeigte keinerlei Veränderungen. Doch am dritten Tag, es war schon später Nachmittag, da kam ihm aus dem Stall ein kleiner Hund entgegen. Als er an Julians Sandalenschnallen zupfte, erkannte der Junge, dass es noch ein Hundewelpe war. Er beugte sich zu ihm hinunter: "Bist du etwa aus dem Ei geschlüpft?" Natürlich wusste Julian, dass das nicht sein konnte, und er nahm den Kleinen hoch, der sofort die Gelegenheit nutzte, ihm übers Gesicht zu schlecken. Julian lachte. Er setzte den kleinen Hund wieder auf den Boden und ging weiter zum Schafstall. Das Ei war heil und sah aus wie immer.

Plötzlich drangen laute Stimmen in den Stall. Jemand fluchte: "Verdammt, Sören, wo ist das Ei geblieben? Hätten wir es nur gleich zum Dorfplatz gebracht!"

"Mann, wer kann den ahnen, dass jemand ein solch riesiges Ei stiehlt? Überhaupt, wer will denn damit irgendetwas anfangen?", schimpfte der andere. "Da hilft nichts, wir müssen weitersuchen. Ich hab keine Lust, nochmal so ein Ei zu bauen!" - "Ja, sicher, ich auch nicht, aber das Hühnerfest ohne das Ei, das geht auch nicht."

"Also weiter, wir suchen den ganzen Strand ab, denn wer auch immer das Ei mitgenommen hat, im Dorf wäre man auf ihn aufmerksam geworden. Also kann es nur hier in der Nähe sein", stellte Jörgen fest.

Julian wurde etwas mulmig zumute. Sollte er sich still verhalten oder den beiden sagen, dass er das Ei mitgenommen hatte. Er zögerte, doch dann öffnete er die Stalltür und rief: "Hallo, hier, hier ist das Ei!" Die beiden großen Jungen blieben stehen, blickten ihn erstaunt an und gingen ihm entgegen. "Bist du sicher, wir meinen kein kleines Hühnerei, sondern ein riesengroßes, silbrig glänzendes."

"Ja, ja, genau, das liegt hier im Schafstall in einem Nest", erklärte Julian, "ich hab es selbst da hineingerollt".

Ungläubig schauten die Jungen in den Stall und fingen dann fürchterlich an zu lachen. Sie konnten sich gar nicht beruhigen. Es schien Julian fast, als machten sie sich über ihn lustig. "Warum lacht ihr denn so?"

"Na, ja, weißt du, es sieht einfach komisch aus, das Ei im Nest", meinte Sören.

Als sie den zerknirschten Gesichtsausdruck von Julian bemerkten, hörten sie auf zu lachen und Jörgen fragte ihn, ob er der Zugereiste sei, der jetzt mit seiner Mutter in dem Haus an der Dorfstraße wohnt. Als Julian das bestätigte, machten sich die Kinder miteinander bekannt und die beiden großen Jungs stellten sich als recht freundliche Kerle heraus. Sie erklärten Julian, dass sie selbst das Ei gebaut hatten, damit es beim Dorffest zu Ehren der Hühner am Wochenende auf dem Dorfplatz aufgestellt werden konnte. "Das Hühnerfest ist sehr lustig, mit Musik und Tanz und vielen Eierspeisen. Alle Hühner des Dorfes dürfen an dem Tag mitten unter den Menschen herumlaufen und gackern."


Ein riesiges Ei in einem Eierbecher mit vielen Hühnern drum herum - Buntstiftzeichnung: © 2022 by Schattenblick

Hühnerei-Atrappe
Buntstiftzeichnung: © 2022 by Schattenblick


"Davon habe ich noch nie gehört", grinste Julian und gestand den beiden dann, was er sich alles vorgestellt hatte, was das für ein Ei sein könnte, bis dahin, dass es vielleicht eine Kapsel von Außerirdischen sei. Da lachten sie alle zusammen und rollten das Ei auf den Dorfplatz. Als sie so dastanden und ihr Werk betrachteten, zupfte wieder der kleine Hund an Julians Sandale.

"Wisst ihr vielleicht, wem der kleine Hund gehört?"

"Das kann nur ein Ausreißer von Hansens Welpen sein. Wenn du ihn behalten willst, frag einfach Mutter Hansen, die ist froh, wenn sie alle Hunde irgendwo unterbringen kann", schlug Jörgen ihm vor. Julian freute sich, hob den Welpen auf den Arm, erkundigte sich, wo Frau Hansen wohnt, und lief nach Hause. Er wollte seine Mutter fragen, ob er den kleinen Hund behalten dürfe. Als sie den Welpen auf dem Arm ihres Sohnes erblickte, da konnte sie nicht anders, als ihm erlauben, den Kleinen zu behalten. Am Abend besuchten sie Frau Hansen und gingen dann nach einem freundlichen Gespräch alle drei glücklich nach Hause.

"Weißt du schon, wie du ihn nennen willst?"- "Ja, Mama, ich würde ihn gern 'Monster' nennen, denn er soll doch ziemlich groß werden. Und ein 'Monster' wird mich bestimmt gut beschützen, was meinst du?", strahlte Julian vor Freude. "Hmm, Monster, hmm", wiegte seine Mutter ihren Kopf wenig überzeugt hin und her. Julian setzte den Hund auf den Boden und rief: "Monster, komm, komm her!" Und der Kleine hüpfte wild auf ihn zu.

Ende


8. August 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 176 vom 13. August 2022


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