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BERICHT/107: Ein Blick auf die Documenta 12 (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2007

Von der Kopfgeburt zur Weltkunst
Ein Blick auf die Documenta 12

Von Karoline Hille


Moderne, Leben, Bildung - unter diesen Leitmotiven steht die große Schau der Gegenwartskunst, die Documenta 12 in Kassel. Als Stichwortgeber für den künstlerischen Leiter Roger M. Buergel und seine Frau, die Kuratorin Ruth Noack, fungieren Charles Baudelaire mit seiner These, dass jede Modernität einmal Antike ist, Walter Benjamin mit der Frage nach dem "bloßen Leben", die ihn kurz nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Schrift 'Zur Kritik der Gewalt' beschäftigte, und Lenin, dessen Schlachtruf "Was tun?" auf Tschernyschewskis gleichnamigen Bildungsroman von 1863 zurück geht. Die drei Motive verweisen zugleich auf die erste Documenta des Jahres 1955 und deren Spiritus Rector Arnold Bode. Wie Bode geht es den Machern heute um die Projektion eines "Gleichklangs zwischen Kunst, Raum und BesucherInnen".


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Mit ihrer Verbindung von neuer Kunst und den "großen älteren Meistern" der Moderne beanspruchte die erste Nachkriegsschau mitten im Kalten Krieg politische Bedeutung als Nachweis der Demokratiefähigkeit Westdeutschlands und seinen Wiedereintritt in den Chor der westeuropäischen Kulturnationen. Doch zielte die Inszenierung nicht auf rationale Informationsvermittlung, sondern auf das emotionale Erlebnis von Kunst. Bode holte die als "entartet" diffamierte Moderne ins Museum zurück, wobei sich die Ruine des Fridericianums als idealer Ort erwies, und rehabilitierte sie als "unsere Klassik". Die Documenta von 1955 wurde zum Mythos, an den Buergel nicht nur expressis verbis in seinem programmatischen Text 'Der Ursprung' anknüpft, sondern den er auch in die Praxis der eigenen Ausstellung zu übertragen sucht. Der beschworene Gleichklang ist dabei, so Buergel, ebenso Programm wie die Gabe des voraussetzungslosen Schauens, die der ideale, atmosphärische Raum dem Betrachter abverlangt.

Buergel wurde nicht müde, seine Vorstellungen einer ästhetischen Bildungsoffensive à la Bode jenseits vermittelnder Aufklärung unters Volk zu bringen. Doch solle niemandem etwas eingetrichtert werden, "Lernen durch Sehen" gilt als Programm. So gibt es keine Informationen, selbst ein preiswerter Kurzführer fehlt, und das Publikum wird im Dschungel von über 500 Werken allein gelassen. Bilder sollen sich einbrennen, irgendwie. Lust auf Kunst werde bei dieser Documenta, so die Macher, durch Verstörung und Verwirrung ebenso befördert wie durch hedonistisches Wandeln im Grünen, Großzügigkeit der Räumlichkeiten und raffinierte Inszenierungen.

Doch Information und Emotion schließen sich nicht aus, im Gegenteil: Wissensvermittlung unterstützt Bildung und bedeutet weder Gängelung noch Belehrung. Zwei Beispiele mögen das illustrieren. Was nützt es, wenn man angesichts eines monströsen Lastwagens in einem dunklen Raum diffuse Ängste verspürt und nicht weiß, dass der Spanier Iñigo Manglano-Ovalle in seiner Installation die mobile Giftgasfabrik nachbaute, mit deren Foto die Amerikaner 2003 ihren Einmarsch in den Irak legitimierten. Dieser "Beweis" war, wie wir wissen, gefälscht, der LKW ein Phantom Truck. Der Künstler wollte zeigen, wie eine Lüge entsteht, besonders in einer Stadt mit florierender Rüstungsindustrie, die wiederum ihre massive Zerstörung im Zweiten Weltkrieg zur Folge hatte. Mit diesem Wissen werden die Ängste nicht geringer, sie werden konkret und führen zu politischer Aufklärung - sinnlich verpackt. Starke Gefühle seien heute das politische Medium schlechthin, Macht werde über die Sinne ausgeübt, formulierte Hito Steyerl dazu in Bezug auf ihr provozierendes Video, in dem sie das japanische Fesselritual von Frauen, das Bondage, in Beziehung setzt zur Fesselung von Häftlingen in Guantánamo.

Der Prozess eines "Lernens durch Sehen und Wissensvermittlung" greift aber nicht nur bei den politisch motivierten Arbeiten. Einen der schönsten Räume im Fridericianum hat der Wiener Florian Pumhösl mit einer Installation aus drei frei stehenden schwarzen, mit Leinen bezogenen Wänden und acht abstrakten Glasbildern gestaltet. Streng, klar und schnörkellos zieht einen das auf Zeichen reduzierte Formenvokabular der Moderne in seinen Bann - ein Meditationsraum. An einer Wand hängen drei schlichte Baumwollrechtecke der 2005 gestorbenen japanischen Künstlerin Tanaka Atsuko. Warum? Kein Hinweis beantwortet diese Frage. Zweierlei wird hier von Pumhösl in Beziehung gesetzt: Das 1926 von Tomoyoshi entworfene Dreieckige Atelier und die schwarzen Wände, auf denen Herwarth Walden 1914 seine "Sturm"-Ausstellung in Tokio präsentierte. Ein ebenso einfaches wie überzeugendes Beispiel für den Form- und Kulturaustausch der frühen Avantgarden. Und plötzlich wirken die weißen, 'Work' betitelten Stoffbahnen von 1955 nicht mehr rätselhaft.

Dass die Documenta 12 eine faszinierende Schau geworden ist, verdankt sich zuerst den eingeladenen KünstlerInnen, die Kassel als Experimentierfeld annahmen. Weiter beruht die Wirkung auf drei Grundsatzentscheidungen, die eher beiläufig erscheinen und doch die Institution Documenta revolutionieren. Zum ersten Mal sind die Geschlechter fast gleichwertig vertreten, können die Frauen ihren Anteil an der zeitgenössischen Kunst souverän unter Beweis stellen (zweifellos ein Verdienst von Ruth Noack). Erstmals wurde auch der eurozentrische Blick zugunsten einer gleichberechtigten Einbeziehung der Avantgarden aus Asien, aus Afrika, nicht zuletzt aus Osteuropa, aufgegeben. Womit Kassel tatsächlich zum "Tor zur Welt" wird. Schließlich haben Buergel und Noack mit ihrer Auswahl der annähernd 100 KünstlerInnen nicht den Kunstmarkt bedient und, ohne jede Qualitätsminderung, souverän auf große Namen verzichtet. Diese Entscheidung ermöglicht spannende Entdeckungen und viele Überraschungen, zumal das Konzept der "Retroperspektive", der Einbeziehung von älteren, wegweisenden KünstlerInnen, von der Documenta 10 übernommen und ausgebaut wurde.

Wie Catherine David 1997 zur Demonstration der politischen Relevanz der Kunst das Museum verließ und in den profanen Stadtraum zog, so kehren Buergel und Noack, um ihr Fest der Sinne zu feiern, ins Museum zurück. Das Fridericianum, an dem seit 1955 so viel herumsaniert wurde, erhielt mit grünen Wänden und hellen Gardinen museale Weihen - Stellwände wurden entfernt, Fenster geöffnet, eine großzügige Treppe eingebaut. Hinzu kam als weiterer zentraler Ort die Neue Galerie oberhalb der Karlsaue, innen in Grün und Rot getaucht. In beiden Museen entstanden beeindruckende Raumensembles von Arbeiten aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen. Sie treten in einen gleichberechtigten Dialog, wie - im Hauptraum des Fridericianums - die raumgreifenden, in Wellenbewegung gebannten Kunststoff-Flügel der Bildhauerin Iole de Freitas mit den 1966 zur Skulptur geflochtenen Reispapierblättern von Mira Schendel und den zur gleichen Zeit entstandenen gelben Stahlobjekten von Charlotte Posenenske (die faszinierendste Entdeckung der Documenta überhaupt) sowie dem 'Waterfall' des chinesischen Aktionskünstlers Zheng Guogu, der aus Hunderten in Wachs getauchten, von Laien angefertigten Kalligrafien besteht.

In der Neuen Galerie besticht ein Dialog, den die abstrakte Collage aus Kalenderblättern von Tanaka Atsuko aus Japan, das luzide weiße Streifenbild der Kanadierin Agnes Martin von 1964 und die in der islamischen Tradition stehenden linear-minimalistischen Zeichnungen und Fotografien der Pakistanerin Nasreen Mohamedi miteinander führen.

Die Inszenierung solcher Begegnungen ist als belehrender und diktatorischer Blick der Macher kritisiert worden, aber im Idealfall beweisen sie die Durchlässigkeit von Themen und Formen, Bewältigungsstrategien und Erfahrungen ebenso wie die Tatsache, dass es weder geschlossene Kulturen gibt noch die eine Weltkultur.

Nicht zufällig spielen Wasser und Wellenbewegungen eine große Rolle, wie in dem ältesten Stück der Ausstellung, einer persischen Miniatur aus dem 14. Jahrhundert, in der ein fremd anmutendes, ziseliertes Flüßchen durch eine abstrahierte Landschaft fließt. Chinesische Künstler brachten es von der Eroberung Persiens mit. "Migration der Form" nennen Noack und Buergel das. Die Zeichnung mit dem "fremden" Fluß wird zum Ausgangspunkt ihres ästhetischen Konzeptes, zu einem sehr "modernen" Bild für das, was man heute Globalisierung nennt. Menschen waren immer unterwegs, und mit ihnen die Kunst. Diesem Prinzip folgend, werden Werke der KünstlerInnen an mehreren Orten in immer neuen Zusammenhängen inszeniert. Das funktioniert mühelos in den historischen Museumsräumen, in dem so genannten Aue-Pavillon dagegen nicht. Da diese Documenta den Stadtraum konsequent meidet, musste ein neuer "Museums"-Bau her. Er entstand mitten im Auepark und beherbergt über die Hälfte der Exponate. Die temporäre, leicht und luftig geplante Architektur sollte wohl sogar an die Kristallpaläste vergangener Weltausstellungen erinnern. Dass die Ausstellung hier zerfasert und an Stringenz verliert, liegt nicht nur daran, dass aus konservatorischen Gründen Glasfronten und Dach verhängt werden mussten. Das Dialogkonzept der Kulturen funktioniert offensichtlich nur in den geschlossenen Raumsituationen der traditionellen Museumsorte. Schon Bode erkannte den Zusammenhang des emotionalen Kunsterlebnisses mit der Aura des 'Fridericianum'. Allenfalls eingängige, große Installationen, wie das Kanisterboot von Romuald Hazoumé aus Benin können sich im Aue-Pavillon behaupten.

Das Herz der zwölften Documenta findet sich folgerichtig ebenfalls in einem Museum, auf Schloss Wilhelmshöhe, wo die fragilen Kostbarkeiten aus vergangenen und gegenwärtigen Zeiten in einem eigens eingerichteten Bereich die Wanderung der Formen und Inhalte illustrieren. Von da aus mäandert die heutige Kunst wie selbstverständlich zu den alten Meistern in der Gemäldegalerie des Schlosses. Da blickt die polnische Fotokünstlerin Zofia Kulik von ihrem Porträt wie eine Renaissance-Dame auf Rembrandts Selbstbildnis und die Ornamente ihres prachtvolles Gewandes bestehen aus lauter nackten Miniaturmännern. An anderer Stelle fügen sich Kerry James Marshalls pechschwarze "Neger" selbstbewusst in europäische Ahnenreihen ein. Und schließlich, in einem Stilleben-Kabinett schwebt wie ein Hauch ein weißes Blatt vor der Wand, leicht zerknittert vom Falten - die wunderbare Charlotte Posenenske hat es aus Stahlblech geformt. Hier ist sie spürbar, jene unten in der Stadt mitunter vermisste Leichtigkeit der Kunst. Welch ein Abschluss eines langen Documenta-Tages hoch über Kassel - wir sind versöhnt.


Karoline Hilleist promovierte Kunsthistorikerin und arbeitet als Publizistin in Ludwigshafen.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2007, S. 68-71
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2007