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BERICHT/168: Das soll Kunst sein? (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 135/März 2012
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Das soll Kunst sein?

Museen, Galerien und Rankings als Vertrauensproduzenten

von Ulrich Schreiterer



In der modernen Kunst, speziell auf dem Kunstmarkt, kommt es entscheidend auf Glaubwürdigkeit und Performance an. Kunstkennerschaft und Kunstbesitz sind ein soziales Distinktionsmittel. Was dabei als wertvoll angesehen wird, hängt in hohem Maß von Vertrauen ab. Dieses Vertrauen wird maßgeblich über ein vielfältiges System erzeugt, das Messen und Werten ermöglicht: Ranglisten von Künstlern, Galerien und Sammlungen und nicht zuletzt die Einschätzung von Kunstkritikern.

Wer von uns hat sich das, Hand aufs Herz, beim Anblick zeitgenössischer Kunst nicht schon einmal gefragt? Die bluttriefenden Performances eines Hermann Nitsch, die flüchtigen Kritzeleien eines Cy Twombly, die pornografischen Porzellanstatuetten eines Jeff Koon oder die monotonen Streifendekorationen eines Daniel Buren provozieren regelmäßig Kopfschütteln, oft sogar wütende Verachtung beim Publikum. In der breiten Bevölkerung schwelt ein tiefes Misstrauen gegenüber moderner Kunst, die mit allerlei Un-Sinn und Verrücktheiten assoziiert, aber nicht mehr für "schön" gehalten wird. Putzfrauen treffen vermutlich den Nerv vieler Zeitgenossen: 1986 entsorgten sie kurzerhand ein ominöses Fettobjekt von Joseph Beuys in der Düsseldorfer Kunstakademie, 2011 schrubbten sie in Dortmund Teile eines Werks von Martin Kippenberger vom Boden weg.

Eine autonome - und das heißt vor allem selbstbezügliche - Kunst trat erstmals 1863 mit dem "Salon des Refusés" in Paris ins öffentliche Rampenlicht. Die schon aus der Antike bekannte Vorstellung, Schönheit bleibe allen Bemühungen ästhetischer Theorie zum Trotz letztlich eine Sache subjektiven Geschmacks, gewann leitmotivische Kraft: "Beauty is in the eye of the beholder". Was legitime oder unerlaubte Medien und Formate, Themen und Ausdrucksformen sind, ist inzwischen herzlich egal. "I want to avoid all aesthetics", bekannte etwa Gerhard Richter. Nur das Neue zähle, die Irritation von Gewissheiten - und die Wertschätzung der Kenner und Sammler.

Mit Marcel Duchamps "Ready-Mades" kam die Kunst schon vor dem Ersten Weltkrieg im Alltag an. 50 Jahre später nobilitierte die Pop Art die Zeichenwelt des Massenkonsums zur wertvollen Kunstware. Was die einen als Verlust von Sinn und Form beklagten, bejubelten andere als Versprechen: "Alles ist Kunst" und "Jeder ist ein Künstler", verkündete Joseph Beuys. Doch das blieb eine künstlerische Position, der niemand recht glauben wollte, geschweige denn vertrauen konnte. Denn die Wertschätzung von Kunst, sei es als Besitz, sei es als Kennerschaft, ist nach wie vor ein soziales Distinktionsmittel, heute mehr denn je. Ihr hoher Signalwert prädestiniert Kunst geradezu für eine conspicuous consumption, in der sich Thorsten Veblen zufolge Distinktionswünsche Ausdruck verschaffen. Doch dafür will der Kunstsinn demonstriert und sozial beglaubigt werden. Unter dem Katechismus von anything goes ist das eine nicht ganz triviale Übung: Künstler wie Kunstkonsumenten müssen wissen, wie man sich auf dem Parkett bewegt, was fliegt und was floppt. In schwarzen Klamotten auf Vernissagen herumzustehen reicht nicht. Gerade durch das aufwendige Drumherum wird Kunst ein so formidables positionales Gut und ein Objekt zu etwas Besonderem, nämlich einem Kunstwerk.

Sich im Kunst-Stück richtig zu verhalten ist riskant, denn der Markt ist launisch und hoch volatil, Qualität unsicher oder gar ephemer: Weltweit wächst die Zahl der Kunstsuchenden, die Neu-Gier ist unersättlich, Einstiegspreise verzeichnen immer neue Höchstmarken. Rasch trennt sich in der Kunstszene die Spreu vom Weizen, der Parvenü vom Kunstliebhaber - doch wie und warum, ist oft schwer zu begreifen. Alle, die irgendwie mit Kunst zu tun haben, suchen daher händeringend nach einem verlässlichen Kompass für den richtigen Umgang mit dem Objekt ihrer Begierden. Sie wollen an der Kunstwelt teilhaben, als Kenner durchgehen, aber nicht als die Dummen dastehen.

Um die schillernde Szene rankt sich ein Kordon institutioneller Praktiken und sozialer Vertrauenstechnologien, die Transparenz und Orientierung versprechen und gute (wertvolle) von schlechter (wertloser) Kunst, Originalität von Mittelmaß zu trennen beanspruchen. In der zeitgenössischen Literatur und Musik, deren Markt nicht annähernd so groß ist und deren Liebhaber am Geschäft des impression management als kultivierte Avantgarde nur mäßig interessiert scheinen, gibt es dazu keine Parallele. Was den Kunstbetrieb so einzigartig macht, ist die Spannung zwischen sozialer Inklusion (jeder hat Zutritt, für jeden Geschmack und Geldbeutel ist etwas dabei) und Exklusivität (nur wer den Code kennt, wird akzeptiert), breiter Teilhabe und steiler Stratifikation, nicht zu vergessen die scharfe und gleichzeitig unsichere Grenzziehung zwischen dem Geschmack der Massen (Kitsch) und dem selbsternannter Eliten (Minimalismus). Die "economies of validation" (Jens Beckert) der zeitgenössischen Kunst mit Sammlern, Aficionados und Vernissage-Flaneuren als Nutznießern und zugleich Ko-Produzenten beruhen auf zwei Pfeilern: Galerien und Museen handeln mit Reputation, und Rankings bilden Preise ab, die der Reputation jedoch nicht passiv folgen, sondern längst eine eigene Bedeutung erlangt haben und Teil der Wertsetzung geworden sind.

Die Währung, um die es geht, heißt Vertrauen: Kunst ist Vertrauenssache. Die Kunstwelt lebt von programmatischen Irritationen, deren Stärke und Validität indes stets neu geprüft und glaubwürdig attestiert sein will. Ohne das Gütesiegel vertrauenswürdiger Institutionen und Gewährsleute ist Kunst wertlos, egal, wie gut, originell, faszinierend oder trashy sie auch sein mag. Der Treibstoff für die Kunstszene ist nicht passives und erst Recht nicht blindes Vertrauen, sondern ein aktives, sorgfältig produziertes und fein kalibriertes Vertrauen.

Dieses Vertrauen zu produzieren und sozial zu zirkulieren ist das Geschäft der Galeristen, Kuratoren und Kritiker. Sie filtern die Überfülle von Objekten und Materialien, Perspektiven und Positionen der aktuellen Kunstproduktion, bringen sie in eine imaginäre Reihung, definieren Wegmarken des Ruhms und schubsen junge, noch unbekannte Künstler auf einen cursus honorum, in dem sie selber als Schiedsrichter, Laudatoren und Pförtner agieren. Zwischen den Künstlern und solchen Sachwaltern der Kunst, die als Mittler zum Publikum wirken, entsteht eine symbiotische Beziehung wechselseitiger Abhängigkeiten. Mit der Hackordnung von Galerien und Museen korrespondiert die Reputation, die sie den von ihnen gezeigten Künstlern verschaffen, und jede Stufe höher auf der Reputationsleiter lässt höhere Preise und noch mehr Aufmerksamkeit erwarten. Angesichts der schmerzlichen Knappheit an herausragenden Werken bieten renommierte Galeristen und Kunsthändler ihren Stammkunden inzwischen bereits, wo und wann immer es nur geht, Wartelisten für neue oder wieder neu auf den Markt kommende Objekte ihres Gefallens. Überspitzt formuliert, sind die Wartelisten Ikonen des Kunstbetriebs: Sie versprechen den Sammlern Exklusivität, Intimität und Vertrauen seitens "ihrer" Galerie, garantieren dieser saftige Preisaufschläge für die Vermittlungsdienste, zelebrieren Kunst als Arkanum und befeuern auch noch die Nachfrage.

Preise für Kunst sind mit denen für andere Güter oder Dienstleistungen kaum zu vergleichen. Zwar reflektieren auch sie Knappheitssignale und die Wertschätzung eines Künstlers und einer Kunstrichtung. Aber mehr noch als durch Angebot und Nachfrage werden sie durch kunstvolle Inszenierungen bestimmt, die selbst auf dem Markt für Luxusgüter nicht ihresgleichen haben. Preise geben gar nicht erst vor, Qualität zu messen oder abzubilden. Eher trifft das Gegenteil zu: Oft liest man hohe Preise als Indiz für Qualität. Die Preisgestaltung der Galeristen steckt voller Ungereimtheiten, folgt aber überall denselben Faustregeln: 1. Verlange einen möglichst hohen Preis, weise ihn schwarz auf weiß im Katalog aus oder teile ihn auf Anfrage mit. 2. Gewähre niemals einen Nachlass auf den Listenpreis, aber erhöhe ihn auch nicht bei unerwartet starker Nachfrage. 3. Hast du mehrere Objekte eines Künstlers im Angebot, darfst du dazwischen nicht qualitativ diskriminieren - der geforderte Preis bemisst sich einzig und allein nach Größe beziehungsweise Fläche, je größer ein Bild, desto teurer. Auktionen kommen nur für den Sekundärmarkt, das heißt im Handel mit "gebrauchter" Kunst, aber nicht für die Erstvermarktung in Frage, obwohl sie als das beste Instrument für die Ermittlung von Preisen für seltene Güter mit einem hohen status value gelten. Eine direkte, offene Preisaushandlung könnte nämlich darauf hindeuten, alles drehe sich nur um Geld. Das aber würde den Nimbus dieser besonderen Ware zerstören, von dem der Markt zehrt und auf den niemand verzichten kann: Kunst muss teuer sein, darf sich aber nicht dem Verdacht aussetzen, sie werde als profitable Geldanlage geschätzt.

Zwischen Reputationsproduktion und Preisgestaltung hat sich in jüngster Zeit ein neuer Typ professioneller Vertrauensbroker etabliert. "Art consultants" werden in erster Linie für Unternehmen tätig, die, wie etwa die Deutsche Bank in Frankfurt oder Daimler in Stuttgart, ihre Konzernzentralen mit moderner Kunst ausstaffieren wollen. "Art advisers" betreiben dagegen eine Art persönlicher Kunsterziehung und Geschmacksbildung für reiche Sammler, die sich nicht urteilssicher genug fühlen, selbst zu entscheiden, in welche Werke oder Künstler sie investieren sollen. Beider Karrieren illustrieren die steigende Bedeutung von moderner Kunst als positionales Gut. Interessanterweise scheinen die Dienste von "art advisers" in Amerika besonders nachgefragt zu sein. Eine Kunsthändlerin aus Chelsea erklärte sich das im Gespräch mit der New York Times so: "Americans more than other people tend to want to do the correct thing. (...) Europeans have more confidence in their own taste, in their own take on things".

Wer es einfacher und billiger haben will, kann sich im Internet auf die Sprünge helfen lassen. Der in London basierte Dienst "ArtTactics" zum Beispiel bietet neben ausgefeilten "Art Market Reports" zum Stückpreis von 75 GBP "Confidence Rankings", eine gereihte Wertschätzung der jeweils wichtigsten Künstler für unterschiedliche Regionen (Europa, USA, Indien, China) und Marktsegmente. Das "TOP 5 ArtTactic Long-term Artist Confidence Ranking" führt Gerhard Richter an (http://www.arttactic.com/). Über das Standing einzelner Aussteller, Kunsthändler und Künstler kann man sich rasch und umfassend auf Websites wie artnet.de oder artreport.com informieren. In den Datenbanken von Artfacts. NetTM sind circa 25.000 Galerien und 300.000 Künstler gelistet, davon 229.000 mit biographischen Details. Ihren Beitrag zum Vertrauensmanagement beschreibt die Firma wie folgt: "Die gelisteten Ausstellungen werden für die jeweiligen Künstler in einem Punktesystem bewertet, das den Grad der Aufmerksamkeit misst, die der Künstler von Kunstinstitutionen bekommen hat. Das Ranking hilft die zukünftigen Auktionserfolge und Galerieverkäufe des Künstlers festzustellen" (http://www.artfacts.net/).

Allerdings beruhen alle diese Auskünfte nur auf Preisen. In eindrucksvollen Zahlenkolonnen und Graphen bekommt man den monetären track record von Ausstellern und Künstlern vor Augen geführt. Das Rätsel, was das alles mit Qualität zu tun hat, was gute Kunst auszeichnet und wofür Preise für moderne Kunst eigentlich stehen, bleibt aller vermeintlichen Transparenz zum Trotz weiterhin ungelöst hinter einem geheimnisvollen Schleier verborgen.


Ulrich Schreiterer arbeitet seit Mitte 2008 am WZB. Hauptsächlich beschäftigt ihn der internationale Vergleich von Entwicklungsdynamiken im Hochschulwesen und in der weltweiten Forschungskooperation. Die Beobachtung des Kunstmarktes ein soziologisches Steckenpferd des Liebhabers moderner Kunst.
uli.schreiterer@wzb.eu


Literatur

Beckert, Jens/Rössel, Jörg: "Kunst und Preise. Reputation als Mechanismus der Reduktion von Ungewissheit am Kunstmarkt." In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 56, 2004, S. 32-50.

Geldzahler, Henry: "Determining Aesthetic Values". In: Richard Hertz (Ed.): Theories of Contemporary Art. Englewood Cliffs: Prentice-Hall 1985‍ ‍[1982], S. 115-127.

Velthius, Olav: "Damien's Dangerous Idea: Valuing Contemporary Art at Auction". In: Jens Beckert/Patrik Aspers (Eds.): The Worth of Goods. Valuation and Pricing in the Economy. Oxford/New York: Oxford University Press 2011, S. 178-200.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 135, März 2012, Seite 31-33
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2012