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DOCUMENTA/003: "Der Tanz war sehr frenetisch... - Essay von Carolyn Christov-Bakargiev (dOCUMENTA (13))


dOCUMENTA (13)

»Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit«

Ein Essay von Carolyn Christov-Bakargiev



i. vom Standpunkt des Meteoriten betrachten

Das Rätsel der Kunst besteht darin, dass wir nicht wissen, was sie ist, bis sie nicht mehr das ist, was sie war.

Darüber hinaus wird Kunst ebenso durch das definiert, was sie ist, wie durch das, was sie nicht ist; durch das, was sie tut oder tun kann, wie durch das, was sie nicht tut oder nicht tun kann; sie wird sogar durch das definiert, woran sie scheitert.

Eines der Projekte, das sich auf der dOCUMENTA (13) nicht verwirklichen ließ, war der Vorschlag, den zweitgrößten Meteoriten der Welt, El Chaco genannt, für 100 Tage von Nordargentinien an einen Platz vor dem Kasseler Fridericianum zu bringen, unweit von Walter De Marias unsichtbarem, aber präsentem Vertical Earth Kilometer von 1977. Dieser Vorschlag der Künstler Guillermo Faivovich und Nicolás Goldberg kam überraschend und lief unserem Gefühl zuwider, im fortgeschrittenen digitalen Zeitalter postiert zu sein. Es wäre wahrscheinlich das schwerste Objekt gewesen, das jemals von Menschen bewegt worden wäre, von einem Punkt der südlichen Hemisphäre unseres Planeten an einen fernen Punkt der nördlichen Hemisphäre, wo er zu einem zeitweiligen Bezugspunkt und Anlass der Meditation über Objekthaftigkeit, Zeit und Ort werden sollte. Obwohl er - im Verhältnis zu seinem Gewicht von 37 Tonnen - relativ klein ist (etwa 240 x 220 x 200 cm), hätte er als ein gigantisches Übergangsobjekt dienen können, das während seiner Ausstellung von vielen Menschen vorübergehend geteilt worden wäre.[1] Dieser 37-Tonnen-Fels, ein Objekt, das wesentlich älter als die Erde ist, ein winziges Fragment eines großen Meteors, der in die Erdatmosphäre eintrat und in zahlreiche Bruchstücke oder Meteoriten zerschmettert wurde, kam aus einer sehr großen Entfernung und stürzte vor Tausenden von Jahren auf unseren Planeten; er wurde von der Schwerkraft angezogen und versank unter der Erdoberfläche, wo er liegen blieb und ein überirdisches Kraftfeld erzeugte, das von der Dichte seines Kerns aus reinem Eisen in seiner Zusammensetzung ausging, bis er im 20. Jahrhundert ausgegraben und in einem Park nahe der Stadt Gancedo der Witterung ausgesetzt wurde.

Dieses Projekt stieß auf Widerstand bei einigen Anthropologen und mehreren Mitgliedern der indigenen Gemeinschaft der Moqoit, die als seine traditionellen Hüter mit der Ausleihe keineswegs einverstanden waren. Manche waren der Meinung, dass der Meteorit - gemäß ihrer Auffassung des Natur- und Kulturerbes und des Erbrechts - für immer dort bleiben sollte, wo die Natur ihn positioniert hatte. Die Gegner waren sicher auch von anderen berechtigten gesellschaftlichen und politischen Kämpfen motiviert - in der belasteten und gewaltsamen Geschichte der Vergangenheit ist der Raub von indigenem Leben, von Ländereien und Kulturgütern während der Kolonialzeit und, in vielen Teilen der Welt, bis zum heutigen Tag allgemein verbreitet. Einige höchste legitime Rechte standen im Widerspruch zu der Vorstellung von einer temporären Gemeinschaft, die der Meteorit in Kassel erzeugen sollte, und so wurde das Projekt, den Meteoriten für die dOCUMENTA (13) nach Kassel zu transportieren, von den Künstlern und der documenta abgebrochen, die nicht danach strebten, Menschen zu spalten, sondern vielmehr danach, Menschen durch dieses Objekt zusammenzubringen.

Und wenn wir uns nun - jenseits dieses unlösbaren Widerspruchs - fragten, wie es wäre, die Dinge vom Standpunkt des Meteoriten zu betrachten? Er hatte einen schwindelerregenden Raum durchquert, bevor er auf der Erde landete und sich hier niederließ. Hätte er sich gewünscht, diese weitere Reise anzutreten? Hat er irgendwelche Rechte, und wenn ja, wie können diese ausgeübt werden? Kann er fordern, wieder eingegraben zu werden, wie einige der Moqoit behaupten, oder hätte er den Kurztrip zu einer Kunstausstellung, anstatt zu einer Wissenschafts- oder Weltausstellung, womöglich genossen? Welche Veränderung in seinem Innenleben hätte es bewirkt, wenn er vorübergehend in Kassel postiert gewesen wäre - an einem Ort, in Kassel, und nicht an einem anderen Ort, beispielsweise in Argentinien, zu sein? Ein Meteorit auf der Erde ist per definitionem eine aufgehaltene Bewegung durch den Raum; er ist das, was von einem Aufprall übrig bleibt. Welche Art des Aufpralls erzeugt die vorgeschlagene Bewegung nach Kassel und das Aufhalten dieser Bewegung durch lokale Ansprüche für die documenta? Welche Art von kosmischem Staub verbindet Argentinien und Kassel in diesem Aufprall von Abwesenheit oder in diesem abwesenden Aufprall?


ii. intendieren

Die documenta ist ein Geisteszustand. Ihre Geschichte unterscheidet sich von der anderer internationaler Ausstellungen zeitgenössischer Kunst vor allem dadurch, dass sie nicht aus den Handelsmessen oder Weltausstellungen der Kolonialzeit des 19. Jahrhunderts hervorging, die die Wunder der Welt in das alte europäische Zentrum brachten. Sie entstand vielmehr nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem Trauma, in einem Raum, in dem Zusammenbruch und Wiederaufbau zum Ausdruck kamen. Sie entstand zu einem Zeitpunkt, an dem die Kunst einerseits als internationale Sprache und als Welt gemeinsamer Ideale und Hoffnungen von größter Bedeutung zu sein schien und zugleich als nutzloseste aller denkbaren Aktivitäten - im Zustand der Autonomie, wie man in der Moderne behauptete - empfunden wurde.

Die Choreografie der dOCUMENTA (13) untersucht diese Bewegung. Der Begriff »Choreografie« (etymologisch die Notation der Bewegungen einer Gruppe von Sängern oder Tänzern, die die Bühne betreten und wieder verlassen) wird in jüngster Zeit im Zusammenhang mit als harmonisch empfundenen Beziehungen und gemeinsamer Partizipation verwendet. In der choreografischen Imagination der 1990er Jahre waren Vorstellungen von Selbst-Choreografie und Improvisation vorherrschend - gemeinsam zu tanzen, um zu neuen Formen von Übereinkunft und zu einer demokratischen Ästhetik zu gelangen. Allerdings wiederholt diese Vorstellung von einer harmonischen Synchronisierung der Menschen durch eine Reihe von Beziehungen auch falsche und klischeehafte Vorstellungen von einer harmonischen Synchronisierung der Körper in produktiven Ökonomien im Rahmen der Globalisierung - wo Menschen an verschiedenen Orten dank der offenkundigen Improvisationen von Smartphones und anderen digitalen Technologien effizient zusammenarbeiten sollen. Die Choreografie der dOCUMENTA (13) hingegen ist unharmonisch und frenetisch; zugleich erzeugt sie jedoch durch alternative Allianzen und Verbindungen eine gewisse gemeinsame Verständigung über diese Lage. Das Auftreten von Bewegungen und Positionen an unterschiedlichen Orten suggeriert nicht, dass wir zusammen in Utopia tanzen; vielmehr beruht diese Choreografie auf einer räumlichen Wende der Verschiebung, auf einem verzerrten Zusammenspiel von Bewegungen an mehreren Orten, die sich niemals wirklich synchronisieren lassen, die niemals »global« sein können; und bei den Teilnehmern und Besuchern der dOCUMENTA (13) wird nicht das Gefühl geweckt, überall gleichzeitig zu sein und das Leben simultan und gemeinsam in synchronisierter Form zu erleben. Die heutigen Probleme bestehen in erster Linie in einer ausgeprägten und weiterhin wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich in der Welt des frühen 21. Jahrhunderts, in der Unterwerfung von Wirtschaft, Gesellschaft und Natur unter die Finanzsysteme, verbunden mit Fortschritten in der Computertechnologie statt in der Herstellung materieller Güter, sowie in den Schwierigkeiten und Konsequenzen einer konservativen Auffassung von »Erbe« (dass ein kulturelles Erbe speziell meines ist und in keiner Weise mit anderen geteilt oder zusammengeführt werden kann).[2] Es ist die digitale Technik, die diese kritische Situation möglich macht, und ihre Zeit ist gekennzeichnet von Schnelligkeit, Gleichzeitigkeit und kurzen Aufmerksamkeitsspannen.

Dennoch beschäftigt sich die dOCUMENTA (13) nicht mit dem Versuch, historische Verhältnisse durch Kunst zu interpretieren oder zu untersuchen, wie die Sprachen und Materialien der Kunst diese historischen Verhältnisse darstellen könnten. Vielmehr betrachtet sie traumatische Momente, Wendepunkte, Unfälle, Katastrophen und Krisen - Ereignisse, die jene Momente prägen, an denen sich die Welt verändert. Und sie betrachtet sie insofern, als es sich dabei um Momente handelt, an denen sich Beziehungen mit Dingen kreuzen, um Momente, in denen Materie Bedeutung erlangt,[3] wie in der Geschichte des Meteoriten El Chaco.

Daher kommen die Teilnehmer der dOCUMENTA (13) aus einem breiten Spektrum von Tätigkeitsfeldern. Sie kommen überwiegend aus der Kunst, aber auch aus der Wissenschaft, darunter Physik und Biologie, ökologische Architektur und Landwirtschaft, Forschung zu erneuerbaren Energien, Philosophie, Anthropologie, Wirtschafts- und politische Theorie, Sprach- und Literaturwissenschaften, Romane und Lyrik inbegriffen. Sie leisten einen Beitrag zum Raum der dOCUMENTA (13), die untersuchen möchte, wie unterschiedliche Formen von Wissen im Mittelpunkt der aktiven Übung stehen, sich die Welt neu vorzustellen. Was diese Teilnehmer tun und was sie auf der dOCUMENTA (13) »ausstellen«, mag Kunst sein oder nicht. Doch ihre Handlungen, Gesten, Gedanken und Kenntnisse erzeugen Verhältnisse und werden durch Verhältnisse hervorgebracht, die man als Kunst interpretieren kann, Aspekte, die Kunst behandeln und aufgreifen kann. Die Grenze zwischen dem, was Kunst ist und was nicht, wird unwichtiger.

Tatsächlich widmet sich die dOCUMENTA (13) der künstlerischen Forschung und Formen der Imagination, die Engagement, Materie, Dinge, Verkörperung und aktives Leben in Verbindung mit Theorie untersuchen, ohne sich jedoch der Theorie und epistemologischen Begrenzungen unterzuordnen.

Auf diesen Gebieten ist Politisches untrennbar von einem sinnlichen, energetischen und weltgewandten Bündnis zwischen der aktuellen Forschung auf verschiedenen wissenschaftlichen und künstlerischen Feldern und anderen, historischen ebenso wie zeitgenössischen Erkenntnissen.

Die dOCUMENTA (13) wird, wie bereits am Anfang dieses Buchs erwähnt, von einer ganzheitlichen und nichtlogozentrischen Vision angetrieben, die die Formen und Praktiken des Wissens aller belebten und unbelebten Produzenten der Welt teilt und respektiert.

Es wird der Versuch unternommen, das menschliche Denken nicht hierarchisch über die Fähigkeiten anderer Spezies und Dinge zu stellen, zu denken oder Wissen zu produzieren. Das heißt nicht, dass wir immer in der Lage sind, Zugang zu diesem anderen Wissen zu erlangen, auch wenn Wissenschaftler, und insbesondere Quantenphysiker, dies durchaus versuchen - beispielsweise, wie Photonen zusammen tanzen und denken; doch es gibt dem Blick auf unser eigenes Denken eine besondere Perspektive. Es macht uns demütiger; es ermöglicht uns, das Partielle der menschlichen Handlungsmacht zu erkennen, und ermutigt uns, einen weniger anthropozentrischen Standpunkt einzunehmen. Es ist heute wichtig, ein Bündnis zu schmieden zwischen dem fortschrittlichen sozialen Denken, das aufgrund seiner Beschäftigung mit sozialer und ökonomischer Ungerechtigkeit in menschlichen Gemeinschaften traditionell anthropozentrisch ist, und dem aktuellen Vermächtnis ökologischer Perspektiven.[4] Es ist wichtig, damit das gegenwärtige ökologische Nachdenken über Fragen von Autonomie und Nachhaltigkeit nicht missverstanden wird oder riskiert, in die Falle nationalistischer und traditionalistischer Lokalpatriotismen zu geraten.

Der Feminismus formulierte in den 1970er Jahren den Gedanken, dass das Private nicht vom Öffentlichen getrennt ist und dass in dieser privaten Welt eine Bruchlinie der Politik lag. Er beschäftigte sich mit Fragen von »Othering« und lag damit gelegentlich im Widerstreit mit anderen linksintellektuellen Gruppierungen, die es vorzogen, über Politik nur im Sinne von Klassenkampf und Produktionssphäre zu diskutieren. Mit der Zeit stellte sich heraus, dass die biopolitische Bruchlinie in der Tat ein zentrales Konfliktfeld darstellte und dass unsere innerste physische und mentale Subjektivität bis hinunter zu den kleinsten Genen ein kolonisierter Raum geworden war. Donna Haraway und anderen Denkern zufolge scheint sich diese Bruchlinie heute erneut verschoben zu haben. Das emanzipatorische Potenzial, auf neuartige Weise zu denken, ohne ein konstituiertes Wissen zu produzieren, das instrumentell ist und sich leicht in verkäufliche Investitionen umwandeln lässt, könnte in einer Übereinkunft zwischen den menschlichen und den zahlreichen nichtmenschlichen Intelligenzen, Affekten und Glaubensinhalten, Emotionen und Formen des Vertrauens bestehen, die sich zwischen allen Lebensformen dieses Planeten herstellen lässt. Das heißt nicht, dass das Interesse an der Menschheit und an Menschen, an ihrem Leben und ihren Kulturen, an ihrer Kunst und ihren Vorstellungen abgenommen hätte. Es beruht vielmehr auf dem Prinzip, dass im »Werden-mit« [»becoming with«] mehr Potenzial liegt als in Misstrauen, Angst und Wettbewerb um Ressourcen und Möglichkeiten. Die Philosophin und Wissenschaftlerin Vinciane Despret behauptet:

Die Ratte schlägt dem Studenten und der Student der Ratte eine neue Art und Weise von »Gemeinsam-Werden« [»becoming together«] vor, wodurch neue Identitäten entstehen: Die Ratten bieten den Studenten die Möglichkeit, »gute Experimentatoren zu sein«, während die Studenten ihren Ratten die Möglichkeit bieten, das »Zusammensein mit einem Menschen« um neue Bedeutungen zu erweitern, eine Möglichkeit, neue Formen des »Zusammenseins« zu entdecken.

Sie fügt hinzu, dass Vertrauen eine Form von Liebe ist, und dass das Gefühl des Vertrauens es dem Potenzial ermöglicht, Realität zu werden. Man bringt sich in eine Position der Offenheit, des Glaubens, der Leidenschaft:

Das Wissen »leidenschaftslos« zu machen, führt uns nicht zu einer objektiveren Weltsicht, sondern nur zu einer Welt »ohne uns«, und damit auch ohne »sie« - Grenzen werden so schnell gezogen. Und solange uns diese Welt als eine Welt erscheint, »die uns egal ist«, wird sie auch eine verarmte Welt sein, eine Welt aus Verstand ohne Körper, aus Körpern ohne Verstand, Körpern ohne Herzen, Erwartungen, Interessen, eine Welt von begeisterten Automaten, die fremdartige und stumme Kreaturen beobachten; anders gesagt, eine schwach artikulierte (und sich schwach artikulierende) Welt.[5]

Eine weltgewandte Intra-Aktion mit Materialien, Objekten, anderen Tieren und ihren Wahrnehmungen legt Formen von Desymbolisierung und die Ablehnung von Wissen und Vorstellungen von Eigentum nahe; sie eröffnet zudem die Möglichkeit einer langsameren Form von Zeit - die Zeit der Materialien. Dazu gehört auch eine neue Beziehung der Menschen zu ihrem uralten Wissen, für ihren eigenen Unterhalt und Nahrungsmittel zu sorgen (und zugleich eine Ablösung von der industriellen Nahrungsmittelproduktion, die Menschen auf eine dramatische Weise entmachten kann, wie wir sie in den vergangenen 10.000 Jahren noch nicht erlebt haben), ebenso wie Formen der Wachstumsrücknahme, Alternativen zu Bankgeschäften wie etwa durch Zeitbanken oder Tauschhandel, die Schaffung von Möglichkeiten für Beziehungen und Intra-Aktionen mit allen Dingen, die nicht digital sind, das Teilen von Kunstwerken und Objekten aus unterschiedlichen Orten und Zeiten, Objekte, die nicht immer filmisch sind.


iii. sich engagieren

Diese Vorstellung von Engagement zielt darauf ab, die Aufmerksamkeit vom Anthropozentrischen auf eine ausgewogenere Beziehung zu allen nichtmenschlichen Produzenten zu richten, mit denen wir den Planeten und unsere Körper teilen.[6] Sie deckt sich mit den Absichten einer Künstlerinitiative namens And And And, einer 2009 gegründeten Gruppe, die als Teil der dOCUMENTA (13) in deren Vorfeld eine Reihe von Veranstaltungen, Interventionen, Situationen und Ereignissen an verschiedenen Orten weltweit organisierte. Es begann am 24. Juni 2010 mit einer Konferenz auf dem Amerikanischen Sozialforum in Detroit, Michigan (Event 1); es folgten Veranstaltungen und Konferenzen in aller Welt, darunter eine Diskussion über Kunst und Kultur im postrevolutionären Tunesien am 24. Mai 2011 (Event 8), eine Solidaritätsadresse an die Occupy-Wall-Street-Bewegung zugunsten der »Ästhetiker einer neu entstehenden Politik« (Event 10) und ein »Prozess« gegen den Konzern Monsanto, dem derzeit größten Hersteller von gentechnisch verändertem Saatgut, am 28. Januar 2012 (Event 13). Dieser künstlerische und politische Prozess wies auf poetische und buchstäbliche Weise darauf hin, dass die gegenwärtigen juristischen Rahmenbedingungen nicht ausreichen, um das Ausmaß und die Art der verursachten Schäden zu verhandeln. »Die aktuelle Gesetzeslage garantiert Monsanto die Rechte einer rechtsfähigen 'Person', während menschliche Nichtbürger und nichtmenschliche Handelnde in unserer Biosphäre nicht anerkannt werden«, schrieb der Compass of the Midwest Radical Culture Corridor, eine Gruppe, die von And And And zur Beteiligung eingeladen worden war. »Das geltende Recht produziert exklusive Vorstellungen von Legitimität und Schäden, welche diejenigen Rechtspersonen, die nicht auf Profitmaximierung abzielen, ignorieren und benachteiligen. Unser Vorschlag lautet, alles, was lebt, als potenziellen Kläger bei der Abrechnung der von Monsanto verübten Verbrechen zu betrachten.«

Die Veranstaltungen von And And And waren hintergründig; sie standen nicht im Fokus der medialen Aufmerksamkeit und fanden weit entfernt von Kassel statt; so konnten sie allmählich eine Reihe von Erfahrungen zu Erinnerungen verdichten, die zu ihren Kasseler Aktivitäten im Sommer 2012 hinführen; diese widmen sich der Ermutigung der Kulturen der Gemeingüter, nichtkapitalistischem Leben, Praktiken der »Aufhebung« überlieferter Werte und Normen sowie Praktiken des künstlerischen Lebens.

Die Bedeutung und Gültigkeit der Projekte von And And And beruhte auf dem Zeitraum von mehreren Jahren, der nach und nach ihr Engagement erkennbar werden ließ.

Dieser langsame Prozess war möglich, weil die documenta alle fünf Jahre stattfindet. Die documenta-Zeit, die - im Gegensatz zur heutigen Geschwindigkeit und ihren kurzen Aufmerksamkeitsspannen - vor allem durch Dauer charakterisiert ist, verläuft nicht in die Richtung von Effizienz und »Pseudoaktivitäten« einer produktiven Gesellschaft. Die documenta kann sich dort verorten, wo die Lücken der Sprache, die Momente der Stille und die Worte, die nicht einmal unter Hypnose ausgesprochen werden, bedeutsam werden. In dieser Stille entstehen Gefühle, die das Durcheinander der heutigen Zeit durchbrechen können. Sie stellt den konstruierten Strukturen der Aktualität ein Element der Rechtzeitigkeit gegenüber. Sie lässt Raum für das Nichtfunktionstüchtige und Nichtwahrnehmbare, für das Nicht-ganz-Erscheinende.


iv. platziert und postiert sein

Die dOCUMENTA (13) ist in einer offenkundigen Gleichzeitigkeit von Orten und Zeiten angelegt, vor dem Hintergrund der Einflüsse des Internets darauf, wie Wissen in unserer Welt produziert und in Umlauf gebracht wird, wie sich Subjektivität in einer endlosen Konstruktion und Rekonstruktion des Selbst konstituiert und wie Wirtschaft, Politik und Gesellschaft im Allgemeinen durch das Digitale beeinflusst und transformiert sind und in Zukunft sein werden. Im Lauf der vergangenen zehn bis fünfzehn Jahre hat eine Reihe von Geräten (stationäre Rechner, Laptops, iPads, Mobiltelefone, BlackBerrys und iPhones) Menschen tatsächlich auf eine Weise miteinander verbunden, die zuvor nicht möglich war; es entstanden »molekulare« Netzwerke und Archive, in denen Menschen zunehmend vernetzt und zunehmend voneinander getrennt sind. Durch die Möglichkeiten der Smartphone-Technologien finden Revolutionen statt und stürzen Regierungen, doch Erfahrungen werden immer mittelbarer. Der Zugang zu Informationen wird schneller und schneller, und mehr und mehr Informationen müssen zugänglich werden - daher die Obsession, so viel wie möglich von unserem vergangenen und gegenwärtigen Leben zu scannen und zu archivieren. Die Vergangenheit, eine potenziell unerschöpfliche Fundgrube historischer Spuren, verfolgt uns im digitalen Zeitalter mehr als jemals zuvor. Um diese allumfassenden Archive aufzubauen, wurde die - zunehmend kooperative - Arbeit von immer mehr Menschen eingesetzt, in einer von Wissen angetriebenen Ökonomie, die zunehmend auf der Basis der Produkte dieser immateriellen Arbeit funktioniert.[7] Kognitive Arbeit erzeugt geistige Güter, und die Kontrolle über diese Informationsströme und die Fähigkeit, sie zu nutzen, bedingt Formen von Macht; darin deutet sich an, dass Künstler in einer Zwickmühle stecken: zwischen dem emanzipatorischen Potenzial der künstlerischen Praxis - dem Potenzial der Imagination - und der Tatsache, ein Prototyp des entfremdeten, prekär beschäftigten Kreativarbeiters des 21. Jahrhunderts zu sein. Gleichzeitig offenbart in der aktuellen Quantenphysik ein unendlich genauer Blick auf die kleinsten subatomaren Partikel einen Ort und einen Moment, wo Realität und Information übereinstimmen, wo das Mentale und das Physische, das Subjekt der Beobachtung und die Beobachtung als solche sich wechselseitig hervorrufen, wo Menschen, ihre Gedanken und die Dinge der Welt miteinander zusammenhängen und sich in einer Welt, die irdisch und keineswegs immateriell ist, gegenseitig erzeugen.

Vor diesem Hintergrund artikuliert sich die dOCUMENTA (13) durch vier zentrale Positionen, die vier möglichen Bedingungen entsprechen, unter denen Menschen, und insbesondere Künstler und Denker, heute agieren. Die Position des Künstlers in der Welt wird zu einem Modus der Ausstellung, zu einem Modus des Erscheinens. Diese Positionen oder Standpunkte, die bei Weitem nicht alle Positionen abdecken, die ein Subjekt einnehmen kann, gewinnen ihre Bedeutung durch ihr wechselseitiges Resonanzverhältnis. Die vier Positionen, die innerhalb der mentalen und realen Räume des Projekts ins Spiel kommen, sind folgende:

Unter Belagerung. Ich bin umlagert vom anderen, belagert von anderen.
Auf dem Rückzug. Ich bin zurückgezogen, ich beschließe, die anderen zurückzulassen, ich schlafe.
Im Zustand der Hoffnung oder des Optimismus. Ich träume, ich bin das träumende Subjekt der Antizipation.
Auf der Bühne. Ich spiele eine Rolle, ich bin ein Subjekt im Akt der Wiederaufführung.

Der Zustand des Auf-der-Bühne-Stehens, der Reperformativitat und Virtuosität, betrifft die Frage des Ausstellens von Kunst, der Beziehungen zum Publikum, und damit den Status der dOCUMENTA (13) als Ausstellung, aber auch die digitalen und nichtdigitalen Modalitäten und Dispositive, durch die Menschen sich inszenieren und Subjektivität in Intersubjektivität immer wieder neu performieren. Kassel, das auf dem Feld der zeitgenössischen Kunst traditionell eine zentrale Bühne ist, fungiert als Metapher für diese letzte Bedingung des Subjekts, umfasst aber auch Aspekte der anderen drei erwähnten Positionen.

Die vier Zustände (»auf der Bühne«/»unter Belagerung«/»im Zustand der Hoffnung«/»auf dem Rückzug«) beziehen sich auf die vier Schauplätze - Kassel, Kabul, Alexandria/Kairo und Banff -, an denen die dOCUMENTA (13) physisch und konzeptuell verortet ist, während sie zugleich darauf abzielen, die Assoziationen, die charakteristischerweise mit diesen stets veränderlichen Orten und Bedingungen verknüpft sind, »aufzutauen«. Jede dieser Positionen ist ein Zustand, ein Geisteszustand, und steht in einer spezifischen Beziehung zur Zeit: Während der Rückzug die Zeit aufhebt, erzeugt das Auf-der-Bühne-Sein eine lebhafte und lebendige Zeit des Hier und Jetzt, die kontinuierliche Gegenwart; während die Hoffnung durch das Gefühl eines Versprechens - das Gefühl einer Zeit, die sich eröffnet und nicht endet - die Zeit freisetzt, verdichtet das Gefühl des Belagerungszustands die Zeit bis zu einem Punkt, an dem es jenseits der Elemente des Lebens, die eng an uns gebunden sind, keinen Raum mehr gibt.

Die dOCUMENTA (13) vollzieht daher eine räumliche oder, genauer gesagt, »standortbezogene« Wende, indem sie die Bedeutung eines physischen Ortes betont, gleichzeitig jedoch auf die Verlagerung und Schaffung anderer und partieller Perspektiven abzielt, ungefähr so wie jener abwesende präsente Meteorit - eine Erforschung von Mikrogeschichten in wechselnden Maßstäben, die die lokale Geschichte und Wirklichkeit eines Ortes mit der Welt verbinden. Sie öffnet sich wie eine Matrjoschka-Puppe, um verborgene Räume und Erzählungen hinter, in und unter der Oberfläche zu offenbaren. Sie spricht in einem Bauchrednerakt von innen nach außen - eine zweite Stimme, die aus dem Bauch, aus dem Inneren des Körpers kommt.

Das Fridericianum, die documenta-Halle und die Neue Galerie in Kassel sind Museumsräume, die eine Entsprechung zu einer Vielzahl anderer Räume bilden, die unterschiedliche - physische, psychische, historische und kulturelle - Bereiche und Wirklichkeiten repräsentieren. Es gibt Räume, die den technischen und den Naturwissenschaften gewidmet sind, wie das Ottoneum und die Orangerie, sowie kleine Gebäude in der großartigen, weitläufigen Parkanlage der barocken Karlsaue, die an den Rückzugsort der Gemeinschaft des Monte Verità bei Ascona zu Beginn des 20. Jahrhunderts erinnern. Es gibt andersgeartete »bürgerliche« Räume, die in der Vergangenheit genutzt wurden und heute vergessen sind - oftmals Räume der Freizeit und der gesellschaftlichen Interaktion in der Nachkriegszeit des Wiederaufbaus -, darunter alte Ballsäle, Kinos und Hotels. Ein Gegenstück zum Park bilden die Industriellen Räume in der Umgebung des früheren Hauptbahnhofs, Kassels ehemals wichtigstem Bahnhof, der heute nur noch für den Regionalverkehr genutzt wird - ein dystopischer Raum, der verbunden ist mit der Fabrikwelt, die für das nationalsozialistische Regime Panzer produzierte, und der ebenso vom Zusammenbruch wie vom Fortleben verheerender Ideen des 20. Jahrhunderts zeugt.

Im Erdgeschoss des Fridericianums, jenseits der Brise, die der Künstler Ryan Gander geschaffen hat, und der Klänge von Ceal Floyers Stimme, ist die Rotunde mit Glas verschlossen. Sie enthält eine Reihe von Kunstwerken, Objekten, Fotografien und Dokumenten, die als programmatischer, traumähnlicher Ort anstelle eines Konzepts zusammengebracht wurden. Sie werden vorübergehend in diesem »Brain« der dOCUMENTA (13) zusammengehalten, nicht, um auf eine Geschichte oder auf ein Archiv zu verweisen, sondern als eine Gruppe von Elementen, die an widersprüchliche Verhältnisse und engagierte Positionen des In-und-mit-der-Welt-Seins erinnern - indem sie Ethik, Begehren, Angst, Hoffnung, Zorn, Entrüstung und Trauer an den Zuständen von Hoffnung, Rückzug, Belagerung und Bühne messen. Zu den ältesten Objekten in diesem Raum gehört eine Reihe von »Baktrischen Prinzessinnen« (2500-1500 v. Chr.) aus dem westlichen Mittelasien. Die zusammengesetzten Steinfiguren bestehen aus dunkelgrünem oder grauem Chlorit beziehungsweise Speckstein, mit Köpfen aus weißem Kalkstein, und weisen manchmal auch Elemente aus Lapislazuli auf. Die Köpfe, Körper, Arme und Füße dieser kleinen Statuen sind lose zusammengefügt, ohne Klebstoff oder irgendein anderes Mittel, um ihre Teile dauerhafter zu verbinden. Sie existieren heute nur dank des Einsatzes und der Sorgfalt, die über Jahrtausende hinweg dem »Zusammenhalt« ihrer Teile in einem prekären Miteinander gewidmet wurden. Ihre Größe entspricht der unserer Smartphones und anderer technischer Geräte, obwohl sie für uns nicht das digitale Leben, sondern den bodenständigen Charakter des verkörperten Lebens definieren, ebenso wie die Gefährdung aller Körper, darunter auch die Korpusse der Kultur.

Die dOCUMENTA (13) in Kassel ist bewusst unbequem und unvollständig; sie vermisst dringend - man muss bei jedem Schritt wissen, dass etwas Grundlegendes unbekannt, unsichtbar und verloren gegangen ist - eine Erinnerung, eine ungelöste Frage, einen Zweifel. Das, was in der Neutralität der Ausstellungsräume sichtbar ist und erlebt werden kann, findet einen Kontrapunkt in einem geisterhaften Anderen, an einem Ort, der als Schauplatz eines Experiments dient und den Besucher möglicherweise selten aufsuchen werden, da er zwanzig Minuten vom Stadtzentrum entfernt liegt. Das aus dem 12. Jahrhundert stammende Benediktinerkloster Breitenau in Guxhagen wurde Mitte des 19. Jahrhunderts in ein Gefängnis umfunktioniert; konsequenterweise diente es später als »Besserungsanstalt« und unter der NS-Herrschaft als Konzentrationslager; kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, Anfang der 1950er Jahre (als auch die documenta entstand) wurde es unter der Bezeichnung »Fuldatal« als Mädchenerziehungsheim genutzt; heute ist es teils Gedenkstätte des Zweiten Weltkriegs und teils psychiatrische Einrichtung. Es ist weniger ein »Schauplatz« der Ausstellung, als vielmehr ein wichtiger Bezugspunkt: Alle Künstler und Teilnehmer der dOCUMENTA (13) haben es bei ihrem ersten Besuch in Kassel für ihre grundlegenden Recherchen besichtigt. Es ist ein Geisterraum, der für die gesamte Erzählung und den Denkprozess der Ausstellung von Anfang an entscheidend war.

Breitenau ist das andere Kassel, das Unbewusste der dOCUMENTA (13), wo auf der grauenhaften Schattenseite der Gesellschaft über Generationen hinweg - körperliche, psychische, sexuelle und auch kreative - Unterdrückung und Maßregelung praktiziert wurden. Es repräsentiert eine Parallelwelt oder eine weitere Ebene - die Ebene der institutionellen Unterdrückung, mit ihrer düsteren Geschichte von Inhaftierung und Züchtigung.


v. zweifeln

Der deutsche Soziologe, Philosoph und Musikwissenschaftler Theodor W. Adorno (1903-1969), seit den 1930er Jahren bekannt für sein Lob der künstlerisch autonomen Avantgarde, das auf der kritischen Theorie und der Kritik an der modernen Konsumgesellschaft und ihrer Kulturindustrie beruhte,[8] schrieb 1968:

Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht. [...] Sie muß gegen das sich wenden, was ihren eigenen Begriff ausmacht, und wird dadurch ungewiß bis in die innerste Fiber hinein. [...] Das Gewordensein von Kunst verweist ihren Begriff auf das, was sie nicht enthält. Die Spannung zwischen dem, wovon Kunst getrieben ward, zu ihrer Vergangenheit umschreibt die sogenannten ästhetischen Konstitutionsfragen.[9]

Adornos Position war politisch radikal, stand jedoch jedem unmittelbaren politischen Engagement von Kunst grundlegend skeptisch gegenüber.

Dem antiken Philosophen und Arzt Sextus Empiricus (160-210 n. Chr.) zufolge gibt es drei Arten von Philosophen: diejenigen, die erklären, die Wahrheit gefunden zu haben, die Dogmatiker; diejenigen, die erklären, dass es unmöglich sei, die Wahrheit zu finden, die Akademiker; und diejenigen, die sie weiterhin suchen, die Skeptiker (»skepsis«, σκεψις, bedeutet »Suche«). »Die Skepsis ist die Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen, von der aus wir wegen der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Sachen und Argumente zuerst zur Zurückhaltung [εποϰη/epoke], danach zur Seelenruhe [αταραξια/ataraxia] gelangen«, schrieb Sextus am Anfang seiner Pyrrhoneioi hypotyposeis (Grundriß der pyrrhonischen Skepsis), in denen er die Überlegungen eines der postsokratischen Begründer des Skeptizimus, Pyrrhon von Elis (360-270 v. Chr.), beschrieb.[10] Er fügte hinzu:

Das motivierende Prinzip der Skepsis nennen wir die Hoffnung auf Seelenruhe [αταραξια]. Denn die geistig Höherstehenden unter den Menschen, beunruhigt durch die Ungleichförmigkeit in den Dingen und ratlos, welchen von ihnen man eher zustimmen solle, gelangten dahin zu untersuchen, was wahr ist in den Dingen und was falsch, um durch die Entscheidung dieser Frage Ruhe [αταραξια] zu finden. Das Hauptbeweisprinzip der Skepsis dagegen ist, daß jedem Argument ein gleichwertiges entgegensteht. Von hier aus nämlich glauben wir schließlich dabei zu enden, daß wir nicht dogmatisieren.[11]

Dies ist keine simple Form von Relativismus, noch ist es Zynismus - es ist eine Form von Offenheit für den Raum des Propositionalen, des möglichen gemeinsamen Worlding. Der Skeptizismus ist eine optimistische Haltung, der an der Wirksamkeit der Induktion als Mittel zur Erlangung von Wissen zweifelt.[12] Das Paradox liegt in der Tatsache, dass man, um ein echter Skeptiker zu sein, an die Möglichkeit glauben muss, Wissen zu erlangen - das Ziel eines Skeptikers ist es daher, aufzuhören, ein Skeptiker zu sein.

Pyrrhon erlebte den Aufstieg und Fall von Alexander dem Großen; er reiste mit ihm nach Mittelasien und Indien und kehrte mit zahlreichen verschiedenen Kenntnissen und Standpunkten zurück. Später erlebte er auch die Bürgerkriege des Reichs mit, eine traumatische Welt der Desillusionierung in der Zeit nach Alexander. Auch wenn man Epochen nicht wirklich miteinander verknüpfen kann, ist es hilfreich, einen Gedankensprung zu machen und zu sehen, wie wir derzeit mit einer Phase der Instabilität konfrontiert sind, die Verbindungen, Trennungen und Beziehungen zwischen entfernt gelegenen Orten herstellt. Und in unseren unruhigen Zeiten liegt im Skeptizismus wieder eine Chance.

Vor dreißig Jahren fand die erste experimentelle Verifikation der Quantenverschränkung statt; vor dreißig Jahren wurde die erste Pflanzenzelle gentechnisch verändert, und vor zwanzig Jahren entstanden die ersten gentechnisch veränderten Organismen (gentechnisch verändertes Saatgut); vor fünfundzwanzig Jahren ermöglichte die PCR-Maschine die Reproduktion von DNA-Ketten, die für jede Form von gentechnischer Forschung erforderlich sind; vor fünfundzwanzig Jahren fiel in Europa die Mauer zwischen Ost und West; seit fünfundzwanzig Jahren nutzen weite Teile der Gesellschaft täglich das Internet, was Mitte der 1990er Jahre mit E-Mails begann und sich mit dem World Wide Web fortsetzte, das zunächst der Informationssuche und seit der Entwicklung des Web 2.0 dem intensiven Upload von Informationen dient; vor weniger als fünf Jahren zeigte die Finanzkrise die Unsicherheit unserer derzeitigen Finanzsysteme, die eher eine zeitgenössische Religion darstellen als eine Wissenschaft; und wir befinden uns inmitten weltweiter politischer Aufstände wie dem Arabischen Frühling.

Es heißt, dass wir in einem Zustand permanenter Krisen, Notlagen und Ausnahmen leben.[13] Zusammenbruch und Wiederaufbau erscheinen nicht mehr als zwei aufeinanderfolgende Momente, sondern treten oftmals gleichzeitig auf, und die Unsicherheit von Existenzen in aller Welt ist zur Norm geworden. Seit der Zeit vor dem Aufstieg des Bürgertums im späten 18. Jahrhundert, als die Kunst noch eine kultische oder ideologische Funktion besaß, wurden Kunstwerke und Kunstobjekte, ebenso wie die genetische Vielfalt von Saaten, nicht mehr in solchem Ausmaß zufällig oder absichtlich geschaffen und zerstört. Im Internet-Zeitalter - eine Epoche, in der Zahlen, die Grundlage jeder Datenverarbeitung, immer »realer« geworden sind - bedeutet die Zerstörung des Symbolischen, für das die Kunst ein Paradebeispiel ist, den Menschen bisweilen mehr als die Zerstörung physischer Körper und Leben.[14]

Aufgrund der Tatsache, dass es viele gültige Wahrheiten gibt, ist man ständig mit unlösbaren Fragen konfrontiert. Dadurch entstand einerseits die Wahlmöglichkeit, keine Wahl zu treffen, kein Konzept zu produzieren und aus einer Position des Rückzugs zu handeln; oder, andererseits, eine Wahl zu treffen, von der man weiß, dass sie auch teilweise und unvermeidlich »falsch« sein wird.

Die Aussetzung des Urteils ist kein Abschluss - sie eröffnet den Raum des Propositionalen.


vi. sich engagieren und bezeugen

Der Krieg schafft Fakten. Doch auch die Kunst kann Fakten schaffen, die jedoch ganz anderer Art sind. Anfang 1971 besuchte der Turiner Arte-Povera-Künstler Alighiero Boetti Kabul und beschloss, zusammen mit dem Afghanen Gholam Dastaghir im Share-Nau-Distrikt, in der Nähe der Chicken Street, ein Hotel namens One Hotel zu eröffnen. Er verbrachte dort die Hälfte des Jahres als Hotelmanager und Künstler und ließ dort zwischen 1971 und 1977 seine gestickten Mappe herstellen.

Die Frage, sich an Projekten in Afghanistan zu beteiligen - an einem Schauplatz, der sich offenkundig im Zustand der Belagerung, aber auch der Hoffnung und des Rückzugs befindet, und der mehr als fast jeder andere Ort der Welt auf der globalen Bühne der Medien steht - wurde ausgiebig diskutiert. Selbst heute, nach monatelangen Seminaren und der Entstehung von Kunst vor Ort, bleibt diese Frage offen. Im Zögern und in einer vergleichenden Untersuchung verschiedener Epochen und Orte drängten sich manche Fragen unmittelbar auf: Ist die Organisation von Kunstprojekten in Kriegsgebieten oder besetzten Gebieten (im Fall von Afghanistan, nach der sowjetischen Okkupation und dem anschließenden zwanzigjährigen Bürgerkrieg nach 1978, nach der totalitären Herrschaft der Taliban von 1996 bis 2001 und während der gegenwärtigen Besetzung durch ausländische, europäische und US-amerikanische Streitkräfte) eine Form der »Normalisierung« unfassbarer Ereignisse? Oder ist ein solches Engagement eine Form alternativen Handelns, mit dem sich das Potenzial der Kunst einsetzen und überprüfen lässt, ob diese wirksam eingreifen und die Gewalt, Ungerechtigkeit und Konflikte an diesen Orten verringern kann? Und wie hoch ist das Risiko eines solchen Handelns und eines solchen Engagements, von Kräften instrumentalisiert zu werden, die die Normalisierung dieses Zustands anstreben? Um diese Frage zu beantworten, könnte man sich fragen, ob die Kunst und ihr System der Präsentation durch Ausstellungen nicht immer irgendwie »instrumentalisiert« wird, sogar in Kassel; und wenn dies der Fall ist, warum sollte man eine solche Instrumentalisierung nur in nichteuropäischen oder nichtwestlichen Kontexten infrage stellen, während man diese Themen im Westen ignoriert? Oder, besser gesagt, wie kann man unter der Bedingung einer propositionalen und skeptischen Ambivalenz handeln, selbst wenn die eigenen Handlungen, ästhetischen Vorstellungen, Praktiken und Gedanken teilweise und potenziell problematisch sind? Ich habe mich entschieden, auf eine Art und Weise zu agieren, die Menschen nicht noch stärker isoliert, sondern Möglichkeiten für das Gegenteil eröffnet.

Der ursprüngliche Impuls ging nicht von der Vorstellung des Kriegsszenarios aus, sondern von der Idee einer Form von Kontinuität zwischen dem pulsierenden, internationalen Leben der 1970er Jahre in Kabul, als Boetti sich dort aufhielt, und unserer Zeit; er lag in der Zurückweisung des vom Krieg bestimmten Ausnahmezustands und in der Entscheidung, durch Akte radikaler Imagination hos me[15] zu agieren - das heißt, als ob die Situation nicht die wäre, die sie ist, als ob es die Kontrollpunkte, Betonwände und Barrieren, den Konflikt, die Besatzung und die Militarisierung in Kabul nicht gäbe -, und zugleich das alltägliche Leben, das in einer militarisierten Zone gefordert und unvermeidlich ist, fortzusetzen.

So wurde der Künstler Mario Garcia Torres, der schon vor der dOCUMENTA (13) ein Kunstwerk geschaffen hatte, das sich auf Boettis One Hotel bezog, zu einer Recherchereise nach Kabul eingeladen; als sein Kunstwerk für die dOCUMENTA (13) schlug er vor, das alte Hotel ausfindig zu machen und zu reaktivieren. Es stellte sich heraus, dass das Gebäude, das gelegentlich als Büro genutzt wurde, während des Bürgerkriegs nicht zerstört worden war, wie Boetti behauptet hatte.[16] Es wurde also 2011 von Garcia Torres als Kunstwerk der dOCUMENTA (13), als Ort, an dem sich Dinge ereignen können, angemietet. Garcia Torres machte sich daran, das aufgegebene und vergessene Anwesen zu reaktivieren und versetzte es wieder in den Zustand, in dem es sich befand, als Boetti dort lebte, pflanzte im Garten Rosen an und servierte seinen Gästen durch das Jahr 2012 hindurch Tee. Ausgehend von etwas, das wir normalerweise als Kunstwerk auffassen, wurde diese neue Version des One Hotel zu einer teils realen, teils fiktionalen Raum-Zeit der Imagination für die dOCUMENTA (13). Dieses Kunstwerk in Gestalt eines Akts der Wiederherstellung eines zeitgenössischen Kulturerbes bildete die erste Grundlage einer Präsenz der dOCUMENTA (13) in Kabul, einer Stadt im Belagerungszustand, deren Bewohner von den Medien ständig als Akteure auf einer permanenten Bühne betrachtet werden. Eine Geschichte, die mit zeitgenössischer Kunst zu tun hat, überlagerte sich mit einer Geschichte, die mit aktuellen Ereignissen zu tun hat, und schuf einen Ort, an dem der Druck des Belagerungszustands plötzlich nachließ und sich ein Garten öffnete, der mit Gesprächen über das Morgen gefüllt war.

Projekte wurden auch mit Künstlern initiiert, die 2010 nach Kabul kamen, wie etwa Francis Alÿs und Lara Favaretto, sowie mit anderen, die sich aus der Distanz engagierten, darunter Tacita Dean; in der Emigration lebende afghanische Künstler wie Mariam Ghani, Khadim Ali und Masood Kamandy beteiligten sich mit anderen, die in Kabul leben, wie Rahraw Omarzad, und den jungen Kunst- und Theoriestudenten aus Kabul, unter ihnen Zainab Haidary, Abul Qasem Foushanji und Mohsen Taasha, an den Seminaren der dOCUMENTA (13). In den ersten Wochen des Jahres 2012 bot die Überlagerung des Lebens, das Boetti Anfang der 1970er Jahre führte, mit aktuellen Erfahrungen den Rahmen, um eine Reihe von Seminaren mit Studenten aus Kabul sowie mit afghanischen und internationalen Künstlern, Freunden und Philosophen zu initiieren. Vor dem Hintergrund dieser Widersprüche wurde über die Rolle der Imagination als politisches Instrument debattiert; die Möglichkeit, künstlerische Praxis zu definieren, wurde in theoretischen Konferenzen erörtert, die an der Fakultät für bildende Kunst der Universität Kabul, im Queen's Palace und am CCAC - Centre for Contemporary Arts Afghanistan, Kabul (mit Goshka Macuga und Christoph Menke) sowie in praxisbezogenen Seminaren wie »seeing studies« mit Natascha Sadr Haghighian und Ashkan Sepahvand, aber auch im Rahmen des »Archive Practicum« bei Afghan Film diskutiert; dort ging es um das Potenzial von afghanischem Dokumentarfilmmaterial aus den 1950er bis 1980er Jahren, das von Mariam Ghani und Pad.ma archiviert und als Aufbewahrungsort des Zeitgenössischen kommentiert wurde. Mehrere Seminare drehten sich um Materialien und ihre verkörperten Transformationen, darunter Michael Rakowitz' Workshop zur Steinbearbeitung, der in einer Höhle in Bamiyan stattfand, nicht weit entfernt von den Nischen, wo bis zu ihrer Zerstörung während des Kriegs 2001 die gigantischen Buddha-Statuen gestanden hatten.

Der Krieg schafft Fakten. Auch die Kunst schafft Fakten, eine andere Art von Fakten. Hier stellt sich die Frage der indirekten Rede. Wie kann man an Orten und unter Bedingungen, unter denen man keine offene Position beziehen kann - weil dies beispielsweise den Zusammenbruch des gesamten Projekts bedeuten würde -, die Kunst bestärken? Wann kann ein Geheimnis nicht ein Akt des Rückzugs, sondern ein Akt mutigen Engagements sein?

Der Körper, neu positioniert und als Zeuge postiert, schießt ein Foto, und manchmal stirbt er. Dies steht im Mittelpunkt von Rabih Mroués Arbeit für die dOCUMENTA (13) - eine nichtakademische Lecture-Performance und eine Installation, die den Einsatz von Mobiltelefonen während der Aufstände in Syrien 2011/12 untersuchen. Mroués Arbeit umfasst kurze, fragmentarische und ruckelnde Videos, die von Demonstranten oder Augenzeugen mit ihren Mobiltelefonen aufgenommen und ins Internet gestellt wurden; manche wurden von Menschen gemacht (»geschossen«), die starben, als sie paradoxerweise ihre eigene Ermordung aufzeichneten. Die Kamera ist jetzt eine Prothese des Körpers, und so, wie der Körper desjenigen, der das Bild macht, gefährdet ist, so ist auch das Leben der Bilder gefährdet, die häufig benutzt werden, um das Denken zu reduzieren, anstatt mit ihnen und durch sie zu denken.

Susan Sontag behauptete 1973, dass die Handlung, eine Szene zu fotografieren, eine Handlung der Macht, ein »Schießen« auf die Welt sei.[17] Heute scheint es sich umgekehrt zu verhalten. Der gewaltsame, aggressive Blick scheint immer mehr der Person zu gehören, die eine Fotografie zu einem späteren Zeitpunkt, im Moment ihres Uploads im Internet, und an einem anderen Ort, in weiter Ferne an ihrem Laptop betrachtet. Die Macht besteht heute darin, auf YouTube herumzustöbern und Bilder vom distanzierten und sicheren Standpunkt des eigenen Computers zu »googeln«. Der Zeuge hingegen, der die Fotografie macht, ist ein Subjekt, das seinen oder ihren Körper an die Frontlinie stellt und am Leben der Dargestellten persönlich beteiligt ist.[18] Der Zeuge hat keinen Abstand zu den Dingen, Menschen und Ereignissen. Der Krieg nimmt zu, wenn man gegenüber denen, die mit Krieg überzogen wurden, Formen von Distanz herstellt. »Dennoch«, schrieb Judith Butler, »möchte ich folgende Auffassung vertreten: Um verstärkt soziale und politische Forderungen nach Schutzrechten und nach dem Recht auf Integrität und Wohlergehen vertreten zu können, benötigen wir zunächst eine neue Ontologie des Körpers, eine Ontologie, die mit einem neuen Verständnis von Gefährdung, Schutzlosigkeit, Verletzlichkeit, wechselseitiger Abhängigkeit, Exponiertsein, körperlicher Integrität, Begehren, Arbeit, Sprache und sozialer Zugehörigkeit einhergeht.«[19]


vii. sich konzentrieren

Heutzutage entstehen häufig zwei Arten von Texten über Kunst. Die einen berichten über die Intentionen der Künstler und die Wirkungen, die ihre Kunstwerke auf die Betrachter ausüben, wie auch über die gesellschaftlichen Folgen dieser Wirkungen, und dieses Register ist oft beschreibend und illustrativ. Die zweite Art findet sich in Schriften, die die heutigen kuratorischen Positionen der Kunst behandeln und einen metakünstlerischen Diskurs bilden. Dieser zweite Sprachmodus entstand in einer Zeit der Selbstwahrnehmung kuratorischer Praxis und der Professionalisierung auf dem Feld des Ausstellungsmachens; gleichzeitig kamen die sogenannten postmodernen Diskurse der 1980er Jahre auf, die später, in den 1990er und 2000er Jahren, auf die Auffassung und Zirkulation von Kunst als Diskurs angewandt wurden. Als Übung in Verkörperung könnte man experimentell untersuchen, wie man wieder an die visuellen, strukturellen und phänomenologischen Analysen des 20. Jahrhunderts anschließen kann, ohne die politische und gesellschaftliche Dimension der aktuellen Debatten über Kunst aufzugeben.

Für die Gestaltpsychologen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war visuelle Wahrnehmung nicht einfach retinal, und ein »visuelles Muster« war nicht die Summe retinaler Impulse auf der Netzhaut. Vielmehr beschäftigte sich die Wahrnehmungspsychologie mit der mentalen Seherfahrung: Man denkt, während man sieht, und man sieht nur, während man denkt; Denken und Wahrnehmung sind nicht zwei getrennte Momente, und Sehen/Denken beruht auf der Auffassungsgabe für ein verborgenes Feld von Kraftlinien. In den 1950er Jahren verband Rudolf Arnheim Wahrnehmungspsychologie und Kunst und verstand dies als eine besondere Art der Metawahrnehmung. Man wird heute nicht all seine Schlussfolgerungen teilen: Er unterstützte einige konventionelle, essentialistische Perspektiven, die von den konservativen künstlerischen Kreisen seiner Zeit gefördert wurden - dass Menschen zu einem Gefühl für Ausgewogenheit neigen, die sich entweder durch einfache Strategien wie Symmetrie oder Zentrierung erreichen lässt, oder durch ein kontrapunktisches Ausbalancieren von entgegengesetzten Massen und Formen. (Es erscheint heute offensichtlich, dass die Aussagekraft vieler künstlerischer Praktiken - in einer fragmentierten Welt, die von der Dominanz der Medien und von einfachen, direkten Kommunikationsformen geprägt ist, die Formen von Leben und Emanzipation ausschließen - eben gerade in der Mehrdeutigkeit und Bedeutungsoffenheit aller Kunst liegt.)

Andere Positionen Arnheims können jedoch höchst erfrischend sein. So wandte er sich etwa gegen ein Übermaß an Kunstkritik und Theorie (»Die Kunst scheint in Gefahr zu sein, totgeredet zu werden. Nur selten stoßen wir auf etwas Neues, das wir bereitwillig als echte Kunst ansehen [...]«) und fügte hinzu: »Wir haben die Gabe vernachlässigt, Dinge mit unseren Sinnen zu erfassen. Die Begriffe haben sich von den Wahrnehmungsbildern gelöst, und das Denken ergeht sich in Abstraktionen.«[20] Das könnte man sicher auch heute sagen, im Zeitalter des Überflusses an instrumenteller Theorie und der Ströme von Informationen und Immaterialität. Visuelle Ausdruckskraft lag für ihn in den Objekten selbst und weniger in unseren Projektionen von Gefühlen auf die wahrgenommenen Objekte:

Wenn man den Ausdruck nur für das menschliche Verhalten gelten läßt, kann man sich den in der Natur wahrgenommenen Ausdruck nur als das Ergebnis der »Vermenschlichung von Natur« vorstellen - ein Gedanke, der [...] beispielsweise die Traurigkeit von Trauerweiden als Produkt einer Einfühlung, eines Anthropomorphismus, eines primitiven Animismus beschreiben soll. [...] Eigentlich wäre das Gegenteil lehrreich und angemessen, nämlich das menschliche Verhalten und den menschlichen Ausdruck mit den allgemeineren Eigenschaften zu beschreiben, die die Natur als Ganzes betreffen.[21]

Alle Kunstwerke drücken etwas aus und haben Ausdruck. Arnheim behauptete, dass diese Muster universell sein könnten; und auch wenn sich die Kunst stets verändere, seien manche Elemente immer identisch und doch immer anders.

Wenn man anstelle der Unterschiede das Geteilte oder Gemeinsame in den Blick nimmt, betrachtet man Erfahrung phänomenologisch. So betonte Maurice Merleau-Ponty anstelle des Bewusstseins den Körper als Quelle des Wissens; er betrachtete die Beziehung zwischen dem Körper-Subjekt und einem Objekt als eine Form von »Faktizität«[22] und Zusammentreffen, eine Begegnung, in der verschiedene Akteure, darunter auch Objekte, aufeinandertreffen. In seiner Phänomenologie der Wahrnehmung spricht Merleau-Ponty vom Körper als einem Organismus, der mit der Welt durch eine Wahrnehmung der Dinge verbunden ist, die er als Empfinden bezeichnete:

Dann empfände ich genau insofern, als ich mich vom Empfundenen nicht unterschiede, insofern dies also, ortlos in der objektiven Welt, mir nichts bedeutete. [...] Bald ist es die Bindung des Wahrgenommenen an seinen Kontext, gleichsam seine Viskosität, bald die Anwesenheit einer positiven Unbestimmtheit in ihm, die es verhindern, daß sich räumliche, zeitliche und numerische Ganzheiten in handlichen, wohl unterschiedenen und identifizierbaren Begriffen artikulieren. Diesen vorobjektiven Bereich eben gilt es in uns zu erforschen, wollen wir das Empfinden verstehen.[23]

In einem Vorgriff auf das, was er später (um 1960) la chair du monde (das Fleisch der Welt) nannte, konzentriert sich ein Kapitel seines 1945 erschienenen Buchs auf das Begehren, die Liebe und den sexuellen Körper:

Nun stieß der Versuch, den Bezug zwischen inkarniertem Subjekt und seiner Welt freizulegen, solange wir nur den Raum und das Wahrnehmungsding ins Auge faßten, auf die Schwierigkeit, daß sich hier dieser Bezug wie von selbst in das bloße Verhältnis des erkenntnistheoretischen Subjekts zu seinem Objekt verwandelte. Gibt sich doch die natürliche Welt als über ihr Sein-für-mich hinaus an-sich-seiend, und die Bewegung der Transzendenz, in der das Subjekt sich ihr öffnet, stellt uns, gleichsam von sich selbst mitgerissen, einer Natur gegenüber, die, um zu existieren, unseres Wahrnehmens nicht bedarf. Zur Aufklärung der Genesis des Seins-für-uns bedarf es so endlich der Betrachtung eines Erfahrungsbereiches, der offenkundig Sinn und Wirklichkeit nur für uns hat: unserer affektiven Umwelt. Sehen wir also zu, welchergestalt ein Gegenstand oder ein Wesen in der Begierde oder der Liebe für uns Existenz gewinnt, um von daher besser zu begreifen, wie überhaupt Gegenstände und Wesen zu existieren vermögen.[24]

Wenn man mehr Zeit hat, kann man sich besser konzentrieren, und wenn man sich beispielsweise lange auf ein einziges Kunstwerk konzentriert, bündelt man seine Aufmerksamkeit und meditiert, wie ein Kalligraf, weniger abgelenkt im globalen Datenstrom. Und wenn ein Kunstwerk eingehend betrachtet wird, wird es, wie in der Meditation, eine immer abstraktere Übung, ein Denken und gleichzeitiges Imaginieren, bis die Phänomenologie dieser viskosen Erfahrung dem Geist erlaubt, mit der Materie zu verschmelzen und die Welt, möglicherweise, allmählich nicht mehr vom Standpunkt des scharfsichtigen Subjekts, des distanzierten Subjekts zu betrachten, sondern aus dem Inneren sogenannter Objekte nach außen zu sehen: Ich bin der Ball, der Ball ist ich. Wir sind ein Ball. Ich bin ein Kunstwerk. Wie seltsam meine Macher sind! Vor allem jene Objekte, die wir verwenden, um Dinge gemeinsam mit anderen zu tun, schaffen Formen von Transition, die die traditionellen Subjekt-Objekt-Dichotomien aufbrechen; sie sind Quasi-Objekte, Objekte des Übergangs, wie Michel Serres vor dreißig Jahren bemerkte.[25]

Lassen Sie uns zusammen eine Fotografie anschauen (S. 42 im Original). Das Bild wurde im documenta-Archiv gefunden. Eine Frau, links im Bild, betrachtet eine Skulptur, die auf der II. documenta 1959 ausgestellt war. Auf demselben Konsoltisch, in der Mitte des Bildes, ist eine weitere Skulptur positioniert. Auf der rechten Seite steht ein Mann; es ist nicht erkennbar, ob er die Skulptur betrachtet oder nicht.

Das Foto wurde im Sommer von einem unbekannten Fotografen aufgenommen. Wir wissen nicht, wer sie ist; wir wissen nicht, wer er ist.

Im Jahr 1959, als diese Aufnahme entstand, gab es weltweit zahlreiche Ereignisse. In Vietnam wütete der französische Indochinakrieg. Fulgencio Batista floh aus Havanna, als die Truppe um Fidel Castro vorrückte und Che Guevara und Camilo Cienfuegos die Stadt betraten. Im kongolesischen Leopoldville wurden zweiundvierzig Menschen in gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Teilnehmern einer Versammlung der Abako-Partei getötet. In Frankreich übernahm Charles de Gaulle die Funktionen des ersten Präsidenten der Fünfen Republik. Walt Disney präsentierte seinen sechzehnten Zeichentrickfilm, Sleeping Beauty, und in den USA kam die Barbie-Puppe auf den Markt. In der Schweiz wurde in einer Volksabstimmung das Frauenwahlrecht abgelehnt, und die erste Interkontinentalrakete Titan I startete von Cape Canaveral, Florida, zu ihrem ersten erfolgreichen Testflug, während die NASA die erste US-amerikanische Astronautengruppe vorstellte. Im gleichen Jahr nahm die baskische Untergrundorganisation ETA ihre Aktivitäten in Spanien auf. Weltereignisse und die Eroberung des Weltraums verknüpften sich 1959 in den Medien; es war auch das Jahr, in dem Pan-Am-Piloten behaupteten, am 11. Juli über dem Pazifik UFOs gesichtet zu haben.[26]

Um auf unsere Fotografie zurückzukommen: Was man auf diesem Bild sieht, sind zwei Personen, Teil des documenta-Publikums, vor zwei Skulpturen des aus Barcelona stammenden Künstlers Julio González. González war einer der ersten Künstler, die in der bildenden Kunst die Technik des Eisenschmiedens einsetzten, die er dank einer Ausbildung als Kunstschmied beherrschte. González ging um 1900 nach Paris, wo er Picasso kennenlernte, den er später im Schmieden unterwies. Wenn wir das Foto betrachten, sehen wir, dass der Boden schmutzig und uneben wirkt. Die Frau ist barfuß. Ihre Bewegungen sind merkwürdig. Sie sieht aus, als ob sie sich zur linken Seite drehte, als wolle sie anhalten und sich der Skulptur zuwenden. Ihr Gewicht hat sich auf ihren linken Fuß verlagert, wodurch eine andere Form von Linearität entsteht. Dieser scheinbare Sinneswandel wurde möglicherweise dadurch bewirkt, dass der Mann aufhörte, sie zu betrachten, so dass sie ihre Aufmerksamkeit auf das Werk richtete, beinahe so, als besäße es eine magnetische Kraft, die sie zu dem Mann auf Distanz halten und den Blickkontakt unterbrechen könnte. Die Hand vor ihrem Mund verrät ihre erhöhte Aufmerksamkeit bei der Betrachtung des Kunstwerks, aber auch ihre Verwunderung oder vielleicht ihre Überraschung. Was könnte sie überrascht haben? Dieses Foto ist interessant, weil sich dort eine Triangulation findet, die zu einer möglichen Szene führt, in der sich die beiden Personen über das Werk unterhalten könnten. Das Werk von González fungiert wie ein Instrument, das diese Begegnung und dieses Gespräch möglich macht. Die andere Skulptur auf dem Tisch ist ein Kopf; sie befindet sich fast im Zentrum des Fotos, leicht nach rechts versetzt. Sie wirkt stumm, als sei der Einsatz von figurativer Kunst unnütz und wirkungslos. Niemand betrachtet diese zweite Skulptur, und sie erscheint beinahe indifferent, passiv. Der lange Tisch, der Sockel, bildet ein Präsentationssystem. Er wurde vermutlich nach einem Entwurf von Arnold Bode, dem Initiator der documenta, aus Metall angefertigt. Eine dritte Skulptur ist hinter dem Mann verborgen; man sieht auf dem Bild nur einen Teil von ihr, das an einen Schwanz oder ein verborgenes organisches Element denken lässt. Der Mann geht, mit den Händen hinter dem Rücken, wie ein flâneur, als mache er einen Spaziergang, ohne wirklich vor der Skulptur anzuhalten. Er geht vorbei, während die Frau steht.

González' Skulpturen scheinen in dem Bild zu agieren, wie das von Donald Winnicott beschriebene »Übergangsobjekt«, der erste »nicht zum Selbst gehörende Besitz«, dem das Kind besondere Aufmerksamkeit widmet.[27] Das Objekt markiert den Übergang von einer symbiotischen Einheit mit der Mutter (eine Phase, in der sich das Kind eins mit der Welt und imstande fühlt, die Welt auf magische Weise nach seinem Willen zu beherrschen und zu erschaffen; in einem Zustand, wo das Begehren sofort befriedigt wird, als ob die Objekte des Begehrens erzeugt werden könnten, indem man sie einfach heraufbeschwört) und einer autonomen Identität, die von der Welt getrennt ist, aber in Beziehung zu ihr steht. Eine Puppe oder ein Stofftier, der eigene Daumen oder eine Decke werden mit Zärtlichkeit behandelt und dürfen nicht verändert werden, außer durch das Kind selbst, das dieses Objekt eine Zeit lang als etwas Tröstliches benutzt, um Ängste abzuwehren. Für Winnicott ist dieses »Stadium [...], das zwischen der völligen Unfähigkeit und der wachsenden Fähigkeit des Kindes liegt, die Realität zu erkennen und zu akzeptieren«, das Wesen der Illusion. Die Wichtigkeit des Übergangsobjekts besteht, obwohl es halluzinatorischer Natur ist, in seiner Realität, nicht in seinem Symbolismus. Es ist kein »inneres Objekt«, wie eine geistige Vorstellung - es ist ein Besitz. Es ist für das Kind jedoch auch kein »äußeres Objekt«: »Natürlich ist es nicht das Objekt, das einen Übergang darstellt. Das Objekt repräsentiert den Übergang des Kindes aus einer Phase der engsten Verbundenheit mit der Mutter in eine andere, in der es mit der Mutter als einem Phänomen außerhalb seines Selbst in Beziehung steht.«[28] Der Gebrauch des Objekts »symbolisiert die Einheit von zwei Dingen, Mutter und Kind, die jetzt getrennt sind, zum Zeitpunkt und an dem Ort des Ursprungs ihrer Trennung.« Das Übergangsobjekt, weder innere psychische Erfahrung noch äußere Wirklichkeit, existiert in einem Raum des Spiels, und sein Gebrauch liegt an der Grenze seiner Abgetrenntheit, was unsere Haltung bei der Betrachtung solcher Objekte beeinflusst. Während es beim Kind und im Leben von Erwachsenen in der Kunst und Religion akzeptiert ist, wird es ansonsten zum »Zeichen von Verrücktheit«. Winnicott beschreibt, wie das Kind das Übergangsobjekt beschädigt oder zerstört, um zu überprüfen, dass es die Aggression überlebt - dass seine Existenz fortbesteht; er erklärt, wie die Bedingung des Überlebens die Möglichkeit schafft, das Objekt als eine vom Selbst getrennte Form der Realität zu verstehen:

Folgende Entwicklungsstufen sind nacheinander beobachtbar: 1. Das Subjekt steht in Beziehung zum Objekt. 2. Anstatt in die äußere Welt gestellt zu werden, wird das Objekt vom Subjekt aufgefunden. 3. Das Subjekt zerstört das Objekt. 4. Das Objekt überlebt diese Zerstörung. 5. Das Subjekt kann das Objekt verwenden.
Das Objekt wird immer wieder zerstört. Diese Destruktion wird zum unbewußten Hintergrund für die Liebe zum realen Objekt, das außerhalb des Bereichs der omnipotenten Kontrolle des Subjekts steht.[29]
Bei der Destruktion des Objektes, um die es mir geht, gibt es keinen Zorn, obwohl man sehr wohl von einer Freude sprechen kann, wenn das Objekt überlebt. Von diesem Augenblick an (oder als Ergebnis dieser Phase) wird das Objekt in der Phantasie ständig wieder zerstört. Diese Eigenschaft, ständig wieder zerstört zu werden, macht die Realität des überlebenden Objekts überhaupt erst erlebbar, verstärkt die Gefühlsbeziehung und führt zur Objektkonstanz. Erst danach kann das Objekt verwendet werden.[30]

Die Fotografie der documenta-Besucher - die barfüßige Frau und der unbekannte Mann, die an den Skulpturen von González entlanggehen - erinnert mich an Chris Markers Film La Jetée (1962), in dem der Protagonist ein Bild benutzt, um eine Reise in die Zeit vor dem Dritten Weltkrieg zu unternehmen, weil er hofft, dadurch eine Möglichkeit zur Rettung zukünftiger Überlebender zu finden. Das von ihm gewählte Bild ist eine Kindheitserinnerung; er hatte beobachtet, wie am Flughafen Paris-Orly auf einer Aussichtsplattform ein Mann ermordet wurde. Das Bild zeigt ihn selbst, der aus der Zukunft in die Vergangenheit zurückgekehrt war. Auf einer seiner Zeitreisen begegnet er einer Frau, wahrscheinlich seiner Mutter, die ihn auf dieser Reise zu führen scheint. Ihre Begegnung findet in einem Museum statt. Es ist merkwürdig, dass Roland Barthes in einem seiner meistzitierten und bekanntesten Essays aus dem Jahr 1980 schrieb:

Die PHOTOGRAPHIE hat im übrigen, historisch gesehen, als Kunst der PERSON begonnen: ihrer Identität, ihres zivilen Standes, dessen, was man, in jeder Bedeutung des Worts, das An-und-für-Sich des Körpers nennen könnte. [...] Das Kinderphoto meiner Mutter vor Augen, sage ich mir: sie wird sterben: ich erschauere wie der Psychotiker bei Winnicott vor einer Katastrophe, die bereits stattgefunden hat. Gleichviel, ob das Subjekt, das sie erfährt, schon tot ist oder nicht, ist jegliche Photographie diese Katastrophe.[31]

Es geht bei dieser Frage also eher um Bedürfnisse als um Wünsche; und man könnte behaupten, dass die Subjektivität oder Subjektbildung im Zeitalter der fortgeschrittenen Digitalisierung oftmals in einem Zustand »subjektiver Omnipotenz« eingefroren sei, was daran liegt, dass es auf alle Fragen sofort eine Antwort gibt - es reicht die Eingabe in unsere Browser. Unsere Zeit ist stärker von der Gleichzeitigkeit der Produktion, Sammlung und Kommunikation von Informationen geprägt als von den früheren Anblicken des Spektakels und den megalomanischen chaotischen Zuständen, die das Spektakel in der Vergangenheit auslöste. In diesem Zustand »subjektiver Omnipotenz« des Zeitalters der fortgeschrittenen Digitalisierung scheinen alle Informationen vorhanden und nach Belieben zugänglich zu sein, doch die Erfahrung wird abgetrennt und unterbrochen. Wir haben das Gefühl, dass wir die Befriedigung unserer Wünsche erlangen und uns tatsächlich nach Belieben unsere eigene Welt schaffen können, wie in der Vorstellung eines Kindes, bevor seine Übergangserfahrung beginnt. Und so konzentriert sich die dOCUMENTA (13) weder auf das Performative oder das virtuose »Ich bin hier« der Facebook-Generation, noch thematisiert sie das unbewegliche Objekt - die konservative Rückkehr zum Geschmack, zum akademischen Archivieren und Sammeln, das im Einklang mit patriarchalischen Stimmungen ein alternatives Erbe unbeweglicher Objekte konstruiert. Die dOCUMENTA (13) ist vielmehr ein Raum der Beziehungen zwischen Menschen und Dingen, ein Ort des Übergangs und des Durchgangs zwischen Orten und an Orten, ein politischer Raum, an dem die polis nicht nur von menschlicher Handlungsmacht begrenzt wird, ein Raum des Rückhalts und des Engagements, ein verletzlicher Raum, ein gefährdeter, aber auch umsorgter Raum.

Das Kunstwerk, eine mehrdeutige Entität, ein Quasi-Objekt, dessen Eigenschaften sowohl Erdung als auch Beziehung ermöglichen, erfüllt die Aufgabe des Übergangsobjekts, eine Requisite für eine Übung, eine Gymnastik des Ohne-Seins, ohne einander, aber auch des »Werdens-mit«, nicht verkabelt, an einem Ort und nicht an einem anderen Ort, zu einer Zeit und nicht zu einer anderen Zeit, genau hier, an diesem Ort, mit dieser Nahrung, diesen Tieren, diesen - ärmeren und auch reicheren - Menschen.


Anmerkungen

[1] Die Dichterin, Romanautorin und Malerin Etel Adnan schrieb am 26. Januar 2012: »[D]ie Präsenz des El-Chaco-Meteoriten in Kassel wird von größter Bedeutung sein. Er wird uns zuallererst mit Argentinien verbinden, das seit viertausend Jahren der Standort des Meteoriten ist, und er wird uns zugleich auf vollkommene und dramatische Weise mit dem Weltall verbinden. Er wird die Welt daran erinnern, dass die Landung von Meteoriten auf der Erde an sich ein kosmisch-spirituelles Ereignis ist. Eine Heimsuchung durch das noch Unbekannte. Er wird der Brennpunkt der documenta in Kassel sein, die Präsenz eines Erzengels, verkörpert von einem Stein, und er wird uns noch einmal einschärfen, dass der Mittelpunkt des Universums überall ist und in diesem Fall, auf poetische Weise, genau dort sein wird, wo El Chaco liegt. Die 'Bewegung' von El Chaco von seinem aktuellen Standort an einen anderen Ort unseres Planeten wird unsere Denkbewegung in Gang bringen oder beschleunigen. Der Meteorit ist ein Raumfahrzeug und wird möglicherweise eine weitere Reise beenden. Seine visuelle Kontemplation, eine mystische Erfahrung, wird uns zu Gagarin, Armstrong und zu den Astronauten zurückführen, die nach ihnen kamen, und zu den menschlichen Reisenden, die noch folgen werden. Genauer gesagt, wird sie uns nicht zurück, sondern nach vorne bringen; sie wird eine Aufforderung an die Menschheit sein, ihrem Schicksal zu folgen; sie wird einen neuen Ausgangspunkt auf dem Weg zum Geheimnis des Seins darstellen.«

[2] Susan Buck-Morss, Autorin des Essays im dOCUMENTA (13)-Notizbuch Nr. 004 im Gespräch mit der Autorin im Januar 2012; siehe auch den Vortrag »The History of Humanity Demands a Communist Mode of Reception« vom 8. Februar 2012 an der New School of Social Research, New York.

[3] Siehe Karen Barad, Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham, N. C.: Duke University Press 2007.

[4] Michael Hardt, »Two Faces of Apocalypse: A Letter from Copenhagen«, in: Polygraph, Nr. 22, 2010, S. 265-274.

[5] Vinciane Despret, »The Body We Care For - Figures of anthropo-zoo-genesis«, in: »Bodies on Trial«, hrsg. v. M. Akrich und M. Berg, Body and Society, 10, Nr. 2/3, Juni 2004, S. 111-134. http://vincianedespret.blogspot.com/2010/04/body-we-care-for-figures-of-anthropo.html.

[6] Siehe Donna Haraway, When Species Meet, Minneapolis: University of Minnesota Press 2007.

[7] Im vergangenen Jahrzehnt entstanden zahlreiche Untersuchungen zum Kognitiven Kapitalismus. Siehe beispielsweise Franco Berardi Bifo, Contro Il lavoro (1970); Maurizio Lazzarato, Lavoro Immateriale. Forme di vita e produzione di soggettivita (1997); Enzo Rullani und Luca Romano, Il postfordismo. Idee per il capitalismo prossimo venturo (1998); Enzo Rullani, »La conoscenza come forza produttiva: autonomia del post-fordismo«, in: Capitalismo e conoscenza, hrsg. v. Lorenzo Cillario und Riccardo Finelli (1998); Nick Dyer-Whitheford, Cyber-Marx: Cycles and Circuits of Struggle in High Technology Capitalism (1999); Enzo Rullani, »Le capitalisme cognitif: du déjà vu?«, in: Multitudes, 2 (2000); Bernard Paulré, »De la 'New economy' au capitalisme cognitive«, in: Multitudes, 2 (2000); Richard Sennett, The Corrosion of Character: The Personal Consequences of Work in the New Capitalism (2000); Michael Hardt und Antonio Negri, Empire (2000); Franco Berardi Bifo, La fabbrica dell'infelicita. New economy e movimento del cognitariato (2001); Paolo Virno, »General Intellect«, in: Lessico Postfordista. Dizionario di idee della mutazione, hrsg. v. Adelino Zanini und Ubaldo Fadini (2001); Paolo Virno, Grammatica della Moltitudine (2001); Jeremy Rifkin, The Age of Access: The New Culture of Hypercapitalism, Where all of Life is a Paid-For Experience (2001); Y. Moulier Boutang (Hrsg.), L'eta del capitalismo cognitive (2002); Yann Moulier Boutang, Le capitalisme cognitif: la nouvelle grande transformation (2007); Andrew Ross (Interview von Geert Lovink), »Organic Intellectual Work« (2007); Antonio Negri und Judith Revel, »Inventer le commun des hommes« (2008), Franco Berardi Bifo, The Soul at Work: From Alienation to Autonomy (2009); Andrew Ross, Nice Work If You Can Get It: Life and Labor in Precarious Times (2009).

[8] Siehe seinen Essay »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens«, zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. VII, 1938; wieder abgedruckt in ders., Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, Göttingen: Vandenhoeck 1982, S. 9-45.

[9] Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, hrsg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973 [Orig. 1970], S. 9-12.

[10] Sextus Expiricus, Grundriss der pyrrhonischen Skepsis, eingeleitet und übers. v. Malte Hossenfelder, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 94 [8].

[11] Ebd., S. 95-96 [12].

[12] Einer der Zugänge zur Skepsis findet sich in dem Potenzial, das im aktiven Gebrauch von Dummheit liegt, jener wesentlichen »Trübung oder Schwächung, die die Voraussetzung der Äußerung bildet« (ebd., S. 12), in der Widerrufung normierter Intelligenz, in der Weigerung, konstituiertes Wissen zu produzieren, in Formen selbstentäußernder Schüchternheit und in Akten von Blödigkeit. Siehe Avital Ronell, Dummheit, übers. v. Rike Felka, Berlin: Brinkmann und Bose 2005 [Orig. 2000], sowie Avital Ronell und Anne Dufourmantelle, Fighting Theory, Chicago: University of Illinois Press 2010.

[13] Für Giorgio Agamben ist der Ausnahmezustand ein Zustand der Aufhebung demokratischer Rechte in außergewöhnlichen Zeiten. Agamben, Ausnahmezustand, übers. v. Ulrich Müller-Schöll, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004 [Orig. 2003].

[14] Wir erinnern uns gut an die Bilder der Zerstörung von Denkmälern in Osteuropa nach 1989, an die Plünderung des irakischen Nationalmuseums in Bagdad nach der US-Invasion 2003 und die Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan durch die Taliban 2001.

[15] Im Römerbrief spricht Paulus von der Berufung jener, die in die messianische Gemeinschaft gerufen werden, als einem Zustand, wo zuallererst ihre Unterschiede annulliert werden, wie etwa der Unterschied zwischen einem Sklaven und einem Freien, einem Beschnittenen und einem Unbeschnittenen. Alsdann werden jene, die »gerufen« sind, aufgefordert, ihr Leben wie gewohnt fortzusetzen, aber mit einer Form von Berufung, die zugleich auch eine Widerrufung ihres gewohnten alltäglichen Lebens ist. (»Dies aber sage ich, die Zeit ist zusammengedrängt. Was bleibt, ist, damit die Frauen Habenden als ob nicht [hos me] Habende seien und die Weinenden als ob nicht Weinende und die sich Freuenden als ob nicht sich Freuende und die Kaufenden als ob nicht Behaltende und die die Welt Nutzenden als ob nicht Nutzende. Es vergeht nämlich die Gestalt dieser Welt. Ich will jetzt, daß ihr ohne Sorgen seid.«) Diese messianische Zeit ist Giorgio Agamben zufolge eine widerrufene Zeit, eine Zeit nach der Zeit, eine Zeit, die bleibt. Siehe ders., Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Romerbrief, übers. v. Davide Giurato, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006 [Orig. 2000], S. 33-35.

[16] Tatsächlich hatte Tom Francis das Gebäude bei einer Reise im Vorjahr ausfindig gemacht und begleitete uns nach Kabul.

[17] »Jedem Zücken der Kamera wohnt Aggressivität inne. [...] Wie die Kamera eine Sublimierung des Gewehrs ist, so ist das Abfotografieren eines anderen ein sublimierter Mord [...].« Susan Sontag, Über Fotografie, übers. v. Mark W. Rien und Gertrud Baruch, Frankfurt a. M.: Fischer 1980 [Orig. 1973].

[18] Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Home sacer III), übers. v. Stefan Monhardt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003 [Orig. 1998].

[19] Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, übers. v. Reiner Ansén, Frankfurt a. M. und New York: Campus 2010 [Orig. 2009], S. 10.

[20] Rudolf Arnheim, Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges, Neufassung, übers. v. Hans Hermann, Berlin und New York: Walter de Gruyter 1978 [Orig. 1974], S. 1.

[21] Ebd., S. 456.

[22] Hier können frühere Konzepte der phänomenologischen Reduktion, wie etwa die Edmund Husserls, heute wieder nützlich sein.

[23] Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. v. Rudolf Boehm, Berlin: Walter de Gruyter 1966 [Orig. 1945], S. 21, 31.

[24] Ebd., S. 185.

[25] Michel Serres, »Theorie des Quasi-Objekts«, in: Ders., Der Parasit, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981.

[26] http://de.wikipedia.org/wiki/1959 (abgerufen im März 2012).

[27] Donald W. Winnicott verwendete diesen Begriff erstmals am 30. Mai 1951 in einem Vortrag vor der Londoner British Psycho-Analytical Society (veröffentlicht 1953 unter dem Titel »Transitional Objects and Transitional Phenomena: A Study of the First Not-Me Possession«, in: The International Journal of Psychoanalysis, Nr. 34, 1953, S. 89-97; dt. »Übergangsobjekte und Übergangsphänomene. Eine Studie über den ersten, nicht zum Selbst gehörenden Besitz«, in: Psyche, 23, 9, 1969, S. 666-682). Er entwickelte seine Überlegungen weiter in Playing and Reality, London, Tavistock Publications 1971; dt. Vom Spiel zur Kreativität, übers. v. Michael Ermann, Stuttgart: Klett-Cotta 1974.

[28] Ebd., S. 12, 25.

[29] Donald W. Winnicott, »Objektverwendung und Identifizierung« [Vortrag vor der New York Psychoanalytic Society, 12. November 1968], in: ebd., S. 101-110, hier S. 110.

[30] Ebd., S. 109.

[31] Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, übers. v. Dietrich Leube, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989 [Orig. 1980], S. 89, 106.

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Quelle:
dOCUMENTA (13) - Pressemitteilung vom 6. Juni 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2012