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FRAGEN/003: Wo die Kunst heute steht (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2011

JENSEITS DES KULTURSTAATS?
Politische Konkretheit oder Rückzug ins Ästhetische? -
Wo die Kunst heute steht


Kultur-Gespräch mit Alexander Koch (*1973), Kunstkritiker und Kurator, Ulli Lust (*1967), Schriftstellerin und Comiczeichnerin, und Jan Turowski (*1969), Politikwissenschaftler und Kulturtheoretiker. Die Gesprächsleitung hatte Klaus-Jürgen Scherer.


NG/FH: Im Unterschied zur älteren, politisierten Künstlergeneration - man denke etwa an Günter Grass oder Klaus Staeck - scheint bei jüngeren Kulturschaffenden nicht mehr eine solch enge politische Bindung vorhanden zu sein. Entspricht dieser Eindruck Ihrer Wahrnehmung?

ALEXANDER KOCH: Ich würde eher von einer zyklischen Wiederkehr der Politisierung in der Kultur sprechen. Sicherlich gab es einen starken Aufschwung in den späten 60er und 70er Jahren, aber auch in den 80ern gab es eine Politisierung im Rahmen von Pop, und auch für die frühen 90er Jahre war ein erheblicher politisierender Schub maßgeblich.

Mittlerweile könnte man zwar meinen, diese Politisierung sei wieder etwas abgeebbt. Ich möchte jedoch die Gegenhypothese aufstellen, dass sich die Kunstszene heutzutage in unterschiedliche Felder diversifiziert hat, die parallel existieren. Es gibt verschiedene Akteursgruppen, die eigene soziale Verbände bilden und ihre eigenen Institutionen, Märkte, Diskursfelder, ihr eigenes Vokabular und auch eigenen sozialen Habitus haben.

Es gibt ein Feld von Kulturschaffenden, die ähnlich politisiert sind wie in den 20er, 60er oder 90er Jahren. Und es gibt Felder, auf denen man hedonistischer, erfolgsorientierter und weniger an gesellschaftlichen Zusammenhängen interessiert ist.

Insofern sollte man nicht fragen, wo stehen wir gerade, sondern wer steht wo?

ULLI LUST: In der Literatur- und Comiczeichnerszene, besonders unter den jungen Studenten, bemerke ich häufig, dass sie für politisch relevante Themen nicht zu begeistern sind. An der Kunsthochschule Berlin-Weißensee greifen wir sehr bewusst solche Themen auf. Doch wenn die Studenten nicht darauf gestoßen werden, ist es eher unwahrscheinlich, dass sie sich damit auseinandersetzen. Trotz allem habe ich die Hoffnung, dass sich die Jugend bei der Zuspitzung von Problemlagen, etwa im Umweltbereich, wieder mehr politisiert und das Engagement auch "cool" findet.

JAN TUROWSKI: Ich glaube, dass es hilfreich wäre, auch den Begriff der Politisierung auszudifferenzieren. Die Vorstellungen von politischem Engagement haben sich radikal verändert, auch die Möglichkeiten, sich heute politisch einzubringen, und die Parameter der Erfolgsmessung.

Ein großes Defizit besteht darin, dass wir keinen universellen Politikbegriff mehr haben. Es gibt viele einzelne Aktionsfelder - Kapitalismuskritik, Kampf gegen Umweltzerstörung etc. - die Themen sind durchaus präsent, aber es gibt keinen Universalentwurf mehr. Und entsprechend agieren auch die Künstler. LUST: Das ist ein Zeichen der Zeit. Es soll keinen universellen Begriff des Politischen geben, zumal dieser auch sehr unrealistisch erscheint. Es gibt das Bedürfnis nach einfachen Lösungen. Zu lernen, dass es diese aber nicht immer gibt, scheint mir ein erster wichtiger Schritt.

NG/FH: Wenn es nicht mehr die Weltanschauungen, die große Erzählung, die umfassenden Theorieentwürfe gibt, wie äußert sich politische Kunst denn dann?

KOCH: Diese sehr geradlinige Politisierung wie bei Grass und Staeck ist heute kaum mehr vorzufinden. Stattdessen gibt es sehr viele Künstler, die ein hohes gesellschaftliches und politisches Bewusstsein haben, und gewifs auch stärker politisch aktiv werden würden, wenn sie denn das Gefühl hätten, es gäbe eine Andockstation dafür. Parteipolitik ist jedoch etwas, das für kaum einen in der Kunstszene eine Option wäre.

Gleichzeitig ziehen aber sehr viele Künstler aus ihrer Politisierung die Motivation für ihre kreative Arbeit und stellen sich so jeden Tag ins Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Auch wenn sie und ihre Werke dies nicht immer gleich zeigen. Das wäre vielen heutigen Kunstschaffenden zu holzschnittartig. Denn die Verhältnisse und mein "Eingelassensein" sind heute viel komplexer.

TUROWSKI: Das kann jedoch auch leicht als eine Art Entschuldigung dienen. Politik ist ein sehr komplexes Verfahren von Aushandlung und sehr mühselig. Man muss sich aus der Deckung wagen und die Frage beantworten: Wie sieht mein politisches Engagement konkret aus, vor allem wenn es nicht mehr Parteipolitik ist, nicht mehr um die Herstellung einer politischen Öffentlichkeit geht, wenn es nicht mehr die Positionierung zu politischen Sachfragen ist? Man ist nur noch politisch, weil man es behauptet. Man fühlt sich wohl in einem kulturellen Linksdiskurs, aber es ist häufig auch eine "Gratisoperation", die von einem nichts einfordert und abverlangt...

KOCH: ...was man dann "Haltung" nennt: Dem würde ich zustimmen. Ich glaube, dass es das passende Argument dafür ist, sagen zu können, aus den realen politischen Fragestellungen halte ich mich raus. Das können Künstler besonders gut, weil sie anführen können, auf der Ebene der Symbolik zu operieren.

Zudem hat künstlerische Praxis eine Langzeitwirkung, hat mit Paradigmen zu tun, die eher eine subkutane gesellschaftliche Wirkungsebene haben. Das kann gar nicht vordergründig politisiert werden. Mit solcherlei Argumenten jedenfalls kann man sich als Teil der Kulturlandschaft sehr gut aus dem wirklichen öffentlichen Leben heraushalten, was viele tun.

NG/FH: Warum schließt ein solches Selbstverständnis des Künstlers aus zu akzeptieren, dass andere den notwendigen Job des Politischen machen? Ist die Lage nicht ernster, wenn die politischen Institutionen, insbesondere die Parteien, für Künstlerinnen und Künstler uninteressant scheinen, KUNSTFORUM international titelte jetzt gar: Vom Ende der Demokratie?

LUST: Bezogen auf diese Angst vor der Parteinähe frage ich mich, ob das wirklich etwas mit den Inhalten zu tun hat oder eher mit dem, als was Politik heute betrachtet wird. Man hat viele negative Assoziationen vor Augen, wenn man über Parteiarbeit redet: Interessen, Verrat etc.

Vor allen Dingen macht man sich nicht schuldig, wenn man sich für keine Partei entscheidet.

TUROWSKI: Ich stimme überein, aber ich glaube, dass diese Ablehnung einer universellen Antwort letztendlich nicht gleichbedeutend ist mit der Akzeptanz des Status Quo.

Mir geht es nicht darum, eine einfache Antwort auf eine komplexe Welt zu finden, sondern über Alternativen zu dem Bestehenden nachzudenken. In diesem Zusammenhang sollte die Kultur ihren eigenen Status reflektieren. Es ist schwer über Alternativen nachzudenken, wenn man sich selber in dem System perfekt eingerichtet hat. Darin besteht der Unterschied zu den 60er und 70er Jahren, in welchen sich die Kunst auch über ihren Status in der Gesellschaft auseinander setzte. Man hat versucht, die Kunst selbst radikal zu verändern, um damit die Gesellschaft zu ändern. Das ist heute fundamental anders. Heutzutage nimmt keiner mehr für sich in Anspruch, durch eine Veränderung der Kunst die Gesellschaft zu verändern.

LUST: Das hat mit der Zeit zu tun. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte man wirklich das Gefühl, inmitten erheblicher gesellschaftlicher Umbrüche zu stehen. Während die Erfahrung seit den 50er Jahren ist, dass es keine radikalen Paradigmenwechsel innerhalb der Gesellschaft mehr gibt. Heute haben wir das Bewusstsein, dass sich trotz aller Veränderungen die grundsätzlichen Sachverhalte nicht ändern lassen. Nur wenn eine radikale Katastrophe einträte, würden die Menschen ihr Denken ändern. Sonst eher nicht.

NG/FH: Gibt es in Literatur, Theater und Film nicht auch einen Trend, sich wieder verstärkt mit gesellschaftlichen Problemlagen auseinander zu setzen, etwa mit Arbeitslosigkeit oder Prekarisierung?

LUST: In der Literatur gibt es einen Trend zum dokumentarischen Erzählen. Gerade durch unsere allumfassende Medienwelt und dadurch, dass wir uns immer häufiger in dieser extrem virtuellen Realität bewegen, in welcher unser Gehirn unser Fortbewegungsmechanismus ist und nicht unser tatsächlicher Körper, gibt es ein Bedürfnis nach Authentizität, nach echtem Leben.

Über dieses dokumentarische, authentische Erzählen kommen dann auch wissenschaftliche und politische Ansprüche zum Tragen. Dafür gibt es definitiv ein Interesse.

KOCH: Für die Bildende Kunst ist dies eine sehr schwierige Frage, die man nur ambivalent beantworten kann. Es gibt eine überraschend große Präsenz gesellschaftspolitischer Themen. Dort, wo der Kunstmarkt nicht so stark ist, finden die engagierteren Formate auch durchaus ihren Platz. Es ist fast schon eine Mode geworden. Auf der Berlin Biennale etwa gab es viele dokumentarische, politisch-gesellschaftlich interessierte und motivierte Projekte, zugleich aber war die Zielrichtung dieser Projekte oft vollkommen unklar. Kritisiert wurde, dass die Probleme scheinbar immer andere haben: Krieg führt man z.B. meistens in Israel, Migranten kommen bevorzugt aus Ex-Jugoslawien oder aus der Türkei. Und wenn sie in Berlin leben, dann in Kreuzberg. Sodass man sich letztlich in der Bestätigung von Klischees wiederfindet, die den Status Quo von dem, was wir so schon immer geglaubt haben zu wissen, zementieren. Und die zeitgenössische, scheinbar politische Kunst trägt zu diesem Zementieren bei.

Wo man Politisches in die Hand bekommen könnte, indem man die Dinge dorthin adressiert, wo sie nach Gestaltung rufen, wo sie jenseits der Vorurteile und Meinungsmatrizen konkret bearbeitet werden müssten, genau dort wagen sich Künstler oft nicht ran: Wenn man sich auf die Seite einer Partei schlagen müsste, wo man konkret einen Gesetzesentwurf durchlesen müsste, um zu verstehen, was gemeint ist, etwa mit Integrationspolitik - da ist die Kunst raus.

NG/FH: Warum eigentlich?

TUROWSKI: Da könnte man drei Punkte ansprechen.

Erstens: den alten Mythos des Künstlerischen. Letztlich handele ich aus der Subjektivität heraus und bewege mich auf der Ebene der Symbolproduktion und nicht auf jener der Gesetzesmacherei. Weswegen der Künstler auch nicht den Gesetzestext lesen muss, da auch ihm klar ist, was mit Integration gemeint ist. Dieser Sachverhalt wird dann lieber in einem Dokumentarfilm abgehandelt. Das reicht an Konkretheit. Letztlich ist es ein Rückzug in das Feld des Ästhetischen.

Zweitens: Man könnte sagen, dass Institutionen und der Markt nur solche künstlerischen Praxen langfristig ernähren, die es nicht zu genau wissen wollen. Die letztlich wiederum Produkte erstellen, die auf dem Kunstmarkt funktionieren. Praxen, die sich gern mehr ins gesellschaftliche Leben einmischen wollen und nicht verkaufbar sind, haben keine Existenzgrundlage.

LUST: Aber innerhalb des Kunst-Diskurses wäre es akzeptiert, so stark einzugreifen? Wie würden die Künstler-Kollegen darauf reagieren?

TUROWSKI: ...das wäre der dritte Aspekt: Inwiefern wäre es opportun, innerhalb eines Kunstbegriffes der linken Avantgarde heute auf ein internationales Kunstereignis mit politischem Anspruch zuzugehen, mit der herausfordernden Frage: Habt ihr Euch denn eigentlich mit den politischen Akteuren über das Thema, das ihr adressiert, verständigt? Bisher würden dies 100% verneinen.

NG/FH: So hatte Niklas Luhmann also recht mit der These von der Verselbstständigung der gesellschaftlichen Subsysteme?

TUROWSKI: Natürlich gibt es historische Phasen, in denen man sich in Subsystemen stärker einrichten kann. In einer anderen Phase stößt dieses Subsystem wiederum an seine eigenen Funktionsgrenzen. Beizeiten ist es dann wieder notwendig, über diese Systemgrenzen hinauszublicken.

Das ist der Aspekt, den ich vorhin kritisierte: Man kann sich perfekt in diesem System einrichten.

LUST: Aber es gibt doch zahlreiche Künstler, die permanent ihren eigenen Kunstbetrieb bespiegeln.

KOCH: Ich würde dem zustimmen, der Grad an kritischer Selbstreflexion ist innerhalb des Kunstfeldes so hoch, dass man es mittlerweile fast nicht mehr hören kann. Es gibt nichts, was nicht durchanalysiert ist. Es gibt auch keine Selbstkritik, zu der das Kunst-System nicht bereit wäre. Es ist fast ein Manierismus geworden. Ich sehe das Problem ganz woanders und zwar, sich viel stärker auf die gesellschaftliche Wirklichkeit einzulassen. Nicht die eigenen Bedingungen reflektieren, das hat man lange genug getan. Aber sich auf die Bedingungen anderer Menschen einzulassen und sich damit zu befassen, wie wir als Gemeinschaft funktionieren können, das ist ein viel wichtigerer Schritt, der im Zusammenhang mit Politisierung gesehen werden muss. Und dieser fällt sehr viel schwerer, als sich selbst zu reflektieren.

NG/FH: Schafft die Präkarisierungstendenz unter den Künstlern eine Verbindung? Ein großer Teil der jüngeren Generation sieht sich mit atypischen Arbeitsmarktverhältnissen konfrontiert. Kann dies nicht eine Art "Volksnähe" herstellen?

LUST: Der Vorteil, den der Künstler hat, ist, dass er in seiner Armut noch sein Gehirn beschäftigen kann. Ich bin auch arm, per Definition, aber ich fühle mich ganz und gar nicht so, da ich sehr reichhaltig beschäftigt bin. Es ist eine Frage der Selbstwahrnehmung.

KOCH: Es gab in den vergangenen 15 Jahren viele Künstler, die sich mit Prekarität beschäftigt haben. Oft anlässlich der eigenen Lebenssituation. Da, wo ein Kunstwerk solche Armut zu thematisieren vermag, ist es ästhetisch aber nicht immer so überzeugend, dass man es wieder und wieder betrachten möchte. Das ist ein Grundproblem bei Kunst, die sich mit politischen Themen befasst. Sie kann heute interessant sein, aber ästhetisch nicht nachhaltig. Museen kaufen sie dann vielleicht nicht, und dann ist sie nicht in der Öffentlichkeit und nimmt auch nicht an der Diskussion teil. Die Kernfrage könnte lauten: Gibt es eine wirklich überzeugende Kunst, die in ihrer Form eine Auseinandersetzung führt und zugleich auch eine politische Problematik sucht und abhandelt? Die gibt es in der Tat. Es gibt komplexe Kunst, die das auf interessante Weise tut. Bei der kann man dann aber nicht mehr einfach nur sagen, dass sie sich z.B. mit Prekarität beschäftigt.

LUST: Ich denke, dass es sich um ein dramaturgisches Problem handelt, das die Prekariats-Kunst in sich birgt. Sie lässt sich nicht so gut verkaufen, weil sie langweilig ist. Während die Kinder im Sudan sich sehr gut verkaufen, weil diese plakativ sind. Das ist ein PR-Problem, kein formales oder inhaltliches.

TUROWSKI: Was sich im Zusammenhang mit dem Prekariat gesamtkulturell in den letzten Jahren manifestiert hat, ist die Betonung von Selbstverwirklichung und Kreativität.

Klassisch Kulturschaffende sind nur ein kleiner Teilbereich eines viel größeren Prozesses einer kulturellen Werteverschiebung des neoliberalen Diskurses Richtung Selbstvermarktung.

NG/FH: Die Aufgabe der Kunst wäre es doch gerade, dem Sinnverlust entgegen zu wirken.

TUROWSKI: Genau diesbezüglich muss beachtet werden, inwieweit es die Kunst schafft, sich selbst als Medium, in genau diesem Sinne der Ideologie-Produktion kritisch zu befragen. Natürlich spielt das Ideal des erfolgreichen Künstlers in unserer Medienwelt eine entscheidende Rolle.

Nicht nur politische Themen zu reflektieren, sondern die Kunst als Teil eines politischen Prozesses zu verstehen, was bedeutet dies in der Mediengesellschaft? Welche Rolle spielen Comics, Bildende Kunst im Zusammenhang mit der Visualisierung der Kultur? Welche intellektuellen Diskurse können wir heute noch führen? Welche Qualität ist noch möglich in der heutigen Mediengesellschaft mit ihren Alphajournalisten? Diese Fragen fände ich spannend.

LUST: Das Wort "Ideologie-Produktion" ist in diesem Zusammenhang treffend, weil die Künstler Anfang des 20. Jahrhunderts diese betrieben und so an gesellschaftlichen Umstrukturierungen mitwirkten. Und heute tut man sich wahnsinnig schwer angesichts dieser lauten Stimmen der Medien, gegen die man kaum ankommt. Dabei wäre Orientierung eine große Aufgabe der Kunst.

Ich wäre gern stärker politisch aktiv und ziehe mich dann jedoch immer auf meine Position als Kulturproduzentin zurück. Ich kann immerhin Atmosphären beschreiben und Subtexte in die für mich richtige Ideologierichtung kommunizieren.

NG/FH: Das ist aber doch genau der Ansatz von Kunst. Hat Kunst als Subsystem nicht gerade die Aufgabe, komplexe Sachverhalte ästhetisch aufzubereiten? Wirkt die Kunst, wo sie politisch Stellung bezieht, also eher vieldeutig mit subtilen Botschaften?

KOCH: Die Beschreibung "subtil" erscheint mir eher veraltet. Die Kunst kommt eher in voller Widersprüchlichkeit daher. Selbstbewusst widersprüchlich.

Als Künstler weiß ich, dass die Stimme, die ich versuche zu erheben, oft eine Unmöglichkeit ist. Ich weiß, dass die Unterdrückung von Menschen innerhalb eines so elitären und hoch finanzierten Betriebs wie jenem der Kunst kaum darstellbar ist. Trotzdem versuche ich aus diesem Betrieb heraus zu kommunizieren, dass ich die Problematik erkenne. Ich kann es nur in dieser Ambivalenz versuchen auszuhalten. Und das trifft auf eine Wahrheit. Und das ist nicht subtil, sondern viel näher dran an den wirklichen Verhältnissen.

Als Beispiel: Santiago Sierra ist ein vieldiskutierter Künstler, dessen Vorgehen ich so beschreiben würde, dass er einen Kurzschluss zwischen zwei Realitäten herstellt. Zwischen der Formensprache des Minimalismus und der Realität der Arbeitswelt. Er nimmt Elemente aus beiden Realitäten und schließt sie kurz, indem er zum Beispiel vier Arbeitslose in quadratische Pappkartons steckt. Er bezahlt sie dafür, dass sie täglich mehrere Stunden in einer Kiste unsichtbar sind, weswegen ihm Zynismus vorgeworfen wurde. Seine Antwort darauf: Wenn ich es mache, ist es Zynismus, wenn es jeden Tag überall auf der Welt passiert, ist es einfach nur Arbeitsrealität.

Damit trifft er den Nagel auf den Kopf. Das ist nicht subtil, das ist straightforward. Das ist nicht wie Grass und Staeck, nicht plakativ und auch nicht belehrend.

TUROWSKI: Vielleicht ist es aber auch eine Abbildung von Verzweiflung. Das Problem, was ich versuchte zu verdeutlichen, ist, dass wir im Gegensatz zu dem Glauben in den 20er Jahren, die Welt verändern zu können, mittlerweile in einer Realität angekommen sind, in der sich mehr Leute das Ende der Menschheit vorstellen können als das Ende des Kapitalismus, um Frederic R. Jameson zu zitieren.

Wir sind in dieser politischen Endlosschleife gefangen. Und was gerade über Sierra gesagt wurde, ist der letzte Versuch, politische Bedeutung in einen Prozess hineinzubringen, der nicht überwindbar erscheint. Das würde ich als "Abbildungsverzweiflung" beschreiben. Das ist zwar sehr ehrenwert, aber im Grunde weiß man, dass man nicht mehr als über die Abbildung hinauskommt.

KOCH: Es sei denn als Mobilisierung. In Form einer Provokation, die den Menschen wehtut. Betroffenheit stellt in diesem Fall einen "Gewinn" dar.

NG/FH: Geht es also um "reflexive Moderne", so Ulrich Beck, Selbstreflexion und anderen Fortschritt?

LUST: Wir werden den Zustand nicht von selbst verändern, wenn jeder an seinen kleinen Bequemlichkeiten festhält.

KOCH: Ich würde neben der Kunstproduktion noch die Ebene der Vermittlung miteinbeziehen. Von dem, was wir uns wünschen, ist bei den Künstlern vieles schon vorhanden. Bereits die Vielfalt an methodischen Ansätzen und unterschiedlichen Interessen garantieren, dass wir in der Kunst sehr viel finden und als Gesellschaft nutzen können. Gefragt ist aber der Vermittlungsberuf - die Tätigkeit der Kritiker, der Kuratoren, der Museumsdirektoren, der Galeristen - diese Schätze auch zu heben. Beispielsweise den Fokus auf Prekarität zu lenken.

Bruce Nauman hat bereits in den 70er Jahren besonders plastisch vermitteln können, was es bedeutet, wenn das eigene physische und berufliche Leben auf dem Spiel steht. Das ist Prekarität, schon damals. Dazu muss man keine Theorie gelesen haben, sondern das kommt auf einer sehr existenziellen Ebene rüber, Wir haben sehr viel Kunst, die längst schon etwas mit unserer politischen Situation zu tun hat - in der Vergangenheit und in der Gegenwart.

TUROWSKI: Bezüglich der Ausführungen zur Vermittlung würde ich einen Schritt weiter gehen und fragen, in welcher medialen, öffentlichen Sphäre können diese kritischen Diskurse geführt werden?

In den meisten kulturpolitischen Debatten habe ich das Gefühl, dass der Fokus von einer Veränderung der Öffentlichkeit im Zuge der Medienrevolution abgelenkt wird.

Es fehlt die Sphäre, in der dieser Kunstdiskurs in einer Breite und Öffentlichkeit verhandelt werden kann. So kommt man wieder zu der Ausgangsfrage, was die Kunst eigentlich verhandelt und wie dies in die Gesellschaft ausstrahlen kann, damit die Kunst ihrer Funktion, ein Raum des Nachdenkens der Gesellschaft zu sein, nachkommen kann. Da kann die Kunst die tollsten Ideen haben, wenn keine Sphäre in der Gesellschaft existiert, in der diese Diskurse geführt werden können.

LUST: Dafür gibt es aber doch zum Beispiel das Feuilleton, als Ort für diese Verhandlungen.

TUROWSKI: Natürlich wird heute über Kunst so viel berichtet wie noch nie in der Geschichte. Aber es wird eher von spektakulären Shows oder der Schlange vor der MoMa-Ausstellung berichtet, nicht über die kritische Reflexion. Diesbezüglich hat sich das elitäre Feuilleton geändert, was nunmehr verstärkt auf Marktbewegungen eingeht. Es geht nicht darum, dass über Kultur berichtet wird, sondern über welchen kritischen Diskurs berichtet wird.

LUST: Der Kunstdiskurs sollte für die breite Masse verständlich gemacht werden!?

KOCH: Die künstlerische Produktion ist viel näher an der Gesellschaft, als die Gesellschaft schon weiß. Aber damit die Gesellschaft es merkt, müsste es diese Räume geben, in denen man gemeinsam darüber kommuniziert, was diese Kunst tatsächlich mit unserem gesellschaftlichen Leben zu tun hat.

Wenn man wirklich "reingeht" in die Themen, findet man kaum Akteure oder eine Plattform, die diese tiefe Auseinandersetzung wirklich wollen. Das hat viel mit der Ökonomisierung und Kommodifizierung von Kulturproduktion zu tun. Wir haben beispielsweise kaum ein Dutzend unabhängige Kunstkritiker in Deutschland, die von ihrem Beruf leben können. Folglich muss sich dann gefragt werden, in welchem Rahmen diese Reflexionsleistung erbracht werden soll? Und wie viele Artikel werden produziert, um das zu kommunizieren? Verschwindend wenige.

TUROWSKI: Die Sphäre verschwindet, trotz der Tatsache, dass mehr über Kunst geredet wird als zuvor. Es ist eigentlich nur ein scheinbarer Widerspruch.

NG/FH: Also kann die Kunst ihrer Rolle als kritisches Korrektiv zu agieren, nicht mehr gerecht werden, was weniger an ihr selbst, vielmehr an der Veränderung von Öffentlichkeit liegt?

TUROWSKI: Ja, meines Erachtens liegt es nicht so sehr an der Kunst. Es gibt genug interessante und engagierte Künstler.

LUST: Das mag sein, aber man neigt sehr zu einer in sich eingeschlossenen Sprache.

KOCH: Aber das liegt an den Vermittlern. Von den Künstlern erwarte ich nicht, dass sie diese klare Sprache finden.

LUST: Die Künstler möchten die Zwischenräume offen lassen, in denen nicht alles klar verständlich ist. Dafür ernten sie mehr Anerkennung als für klare Aussagen.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2011, S. 42-49
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2011