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MELDUNG/073: Die Welt von hinten gesehen - Irakischer Künstler trägt Kamera im Kopf (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. Februar 2011

Kultur: Die Welt von hinten gesehen - Irakischer Künstler trägt Kamera im Kopf

Von Dalila Mahdawi


New York, 8. Februar (IPS) - Wafaa Bilal hat die letzten zwei Monate nicht mehr richtig schlafen können. Der irakische Künstler, der in den USA lebt, ließ sich als erster Mensch eine Kamera in den Hinterkopf einsetzen. Jede Minute wird nun hinter seinem Rücken ein Foto geschossen.

Bilals irrwitzige Aktion ist Teil seines einjährigen Kunstprojekts '3rdi'. Dafür nahm er sogar eine riskante Operation und anhaltende Beschwerden auf sich. "Es tut noch immer weh", sagte er im Interview mit IPS. Das gehöre aber zu seiner Arbeit dazu. In seinem Schädel stecken drei Titan-Schrauben, an denen die Kamera befestigt ist.

Auf den Bildern ist ein Sammelsurium an Motiven zu sehen: langweilige Küchenregale, irritierende Ansichten von Gegenständen und Passanten auf der Straße. Bilal lädt die Fotos auf die '3rdi' Website hoch, von wo sie in das kürzlich eröffnete Museum für zeitgenössische Kunst in Katar gestreamt werden.

Mit '3rdi' setzt sich Bilal mit seinen persönlichen Verlustängsten auseinander. Der Iraker, der in einer konservativen Familie unter dem Regime von Saddam Hussein aufwuchs, musste nach der irakischen Invasion Kuwaits fliehen, da er den Wehrdienst verweigert hatte. Zwei Jahre lang lebte er in einem Flüchtlingslager in Saudi-Arabien, bevor er in den USA Asyl erhielt.

Die Zeit in dem Lager beschrieb Bilal als "eine der härtesten Erfahrungen meines Lebens". Die Flüchtlinge wurden von saudischen Soldaten schikaniert, viele Menschen starben. "Nur die Kunst hat mich damals noch daran erinnert, dass ich am Leben war", sagte der Künstler, der inzwischen an der 'Tisch School of The Arts' in New York Fotografie lehrt.


Durch die Flucht traumatisiert

Durch seine Flucht aus dem Irak hat Bilal viele vertraute Orte und Menschen verloren. Daher hatte er Bedürfnis, chaotische, schmerzliche oder banale Momente des Abschiednehmens fotografisch festzuhalten. "Einzeln für sich betrachtet mögen die Bilder unbedeutend aussehen", erklärte er. Insgesamt seien sie jedoch "ein schönes Mosaik eines Lebens".

'3rdi' beschäftigt sich auch mit anderen Problemen des Alltags, wie der Überwachung der Bürger durch Sicherheitskameras und dem aggressiven Vormarsch neuer Technologien. "Es gibt kein Privatleben mehr", meinte Bilal. "Die Maschinen dienen uns nicht, sondern machen uns zu Sklaven."

Der Iraker hat nicht zum ersten Mal seinen Körper in ein Kunstobjekt verwandelt und damit heftige Debatten ausgelöst. Im vergangenen Jahr veranstaltete er eine 24-stündige Performance, bei er sich die Namen irakischer Städte in seinen Rücken tätowieren ließ. Mit unsichtbarer Tinte wurden ihm außerdem 100.000 Punkte eingestochen, die für mehr als die 100.000 anonymen Opfer des Irak-Kriegs stehen. 5.000 Punkte für die im Krieg getöteten US-Soldaten sollen noch hinzukommen.

Bei einer früheren Aktion mit dem Titel 'Erschieße einen Iraker/Innere Spannungen' schloss sich der Künstler 30 Tage lang in einer Art Gefängniszelle ein und ließ sich vom Publikum im Internet mit einer Farbpistole beschießen. Hacker drangen auf die Website der Ausstellung vor und programmierten die Pistole so, dass Bilal jede Minute eine Farbladung abbekam.

Er habe vor allem diejenigen ansprechen wollen, die noch nicht politisch aktiv seien, sagte Bilal. Dies scheint ihm gelungen zu sein. Als die Ausstellung zu Ende ging, hatten rund 65.000 Menschen aus mehr als 130 Ländern virtuell auf ihn gefeuert.


Aus der "Komfortzone" in die "Konfliktzone"

Als einer seiner Brüder 2004 durch eine US-Drohne getötet wurde, nahm Bilal mit seinen Werken noch stärker als vorher auf die Politik Bezug. Er wolle die Menschen aus der "Komfortzone" in die "Konfliktzone" führen, erklärte er. Die Foltermethode 'Waterboarding', bei der Ertränken simuliert wird, erprobte Bilal im Selbstversuch. Die US-Armee hatte diese Folter mit der ausdrücklichen Billigung des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush an Häftlingen in Bilals Heimatland Irak praktiziert.

Die nächsten zehn Monate wird Bilal wegen der Kamera in seinem Kopf wohl weiter Schlafstörungen in Kauf nehmen müssen. Das Experiment habe ihn bereits jetzt gelehrt, die Gegenwart intensiver zu genießen, sagte er. "Die meiste Zeit existieren wir nicht im Jetzt. Ich denke, wir sollten alles langsamer angehen lassen, in die Winkel unseres Lebens schauen und den gegenwärtigen Augenblick erleben." (Ende/IPS/ck/2011)


Links:
http://3rdi.me/
http://wafaabilal.com/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=54385

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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Februar 2011