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BERICHT/007: Gefesselte Kunst - Verwertungsregime okkupiert Kreativität (SB)


Sarat Maharaj über kulturindustrielle Herausforderungen


Die Grundsatzfrage, welche Wirkung Kunst in der Gesellschaft erzielen kann und will, war Thema einer öffentlichen Podiumsdiskussion, zu der die Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin am 8. Februar im Rahmen der zweitägigen Konferenz "radius of art" Kulturinteressierte eingeladen hatte. Moderiert von der schwedischen Professorin Gertrud Sandqvist diskutierte der renommierte Kunstwissenschaftler Sarat Maharaj mit dem Kulturkritiker Diedrich Diederichsen, der amerikanischen Aktivistin und Geographin Ruth Wilson Gilmore und dem in Brüssel lebenden Künstler Simon Thompson unter der Überschrift "The next revolution will not be funded". Konzipiert war eine historisch eingebettete, kritische Diskussion zur Zukunft der Förderstrukturen im Kontext der aktuellen politischen und zivilgesellschaftlichen Veränderungsprozesse.

Jürgen Bock, Direktor der Maumaus School of Visual Arts in Lissabon, warf in seiner Einführung die Frage auf, ob man Kunst als eine philosophisch handelnde Entität auffassen könne - ein Markenzeichen der Moderne, das revolutionär und dauerhaft unvollendet bleibe, für das ein Publikum erst noch erfunden werden muß, oder im Gegenteil nur dann ermutigt, unterstützt und anerkannt werde, wenn sie vorgeschriebene Kriterien erfüllt und lediglich die Kulturindustrie versorgt. Im zweiten Fall wäre die Konsequenz, daß bedeutende Projekte, die schwer zu fassen und ihrer Natur nach "unverstehbar" sind, durch das Netz der Funding-Strukturen und Medien fielen.

Sarat Maharaj - Foto: © 2012 by Schattenblick

Sarat Maharaj
Foto: © 2012 by Schattenblick

Den einleitenden Vortrag hielt Prof. Dr. Sarat Maharaj, Gastprofessor am Goldsmiths College, University of London, wo er von 1980 bis 2005 Professor für Kunstgeschichte und Kunsttheorie gewesen war. Er ist derzeit Professor für Visual Arts & Knowledge Systems an der Malmö Art Academy, Lund Universität, in Schweden. Maharaj gilt in Forschung und Publikationen als Experte für Marcel Duchamp, James Joyce und Richard Hamilton. Er war Co-Kurator der Documenta XI (2002), Farewell to Postcolonialism, Guangzhou (2008), und Art Knowledge and Politics, S’o Paulo Biennale (2010) sowie leitender Kurator des Pandemonium: art in a time of creative fever, Göteborg Biennale (2011).

In seinem Vortrag führte Sarat Maharaj aus, daß Funding heute in einem System erfolge, das Antworten gibt, bevor Fragen gestellt werden. Wenngleich in einer demokratischen Kultur Sponsoren natürlich wichtig und hochwillkommen seien, habe man es doch mit unerwünschten Nebeneffekten des Finanzierungssystems zu tun. Daher müsse man den Prozeß institutioneller Unterstützung sehr genau unter die Lupe nehmen. Dieser bediene vorgefertigte Schemata und Positionen, wohingegen Kunst vom Nichtwissen ausgehe und über ein Modell zu Schlußfolgerungen gelange, die unvorhersehbar seien. Radius of art - wie weit kann man Kunst in die soziale und politische Sphäre strecken, ohne daß sie ins Gegenteil zurückschlägt?

Wenngleich man es bei Kunst mit etwas zu tun habe, das in sich selbst unmeßbar sei, fehlte es nie an Bestrebungen, sie für politische Zwecke zu instrumentalisieren. So sei der Philosoph und Staatsrechtler Carl Schmitt in den 1930er Jahren der Frage nachgegangen, welche Anteile der Kunst sich institutionalisieren ließen. Ihn irritierte Hamlet wegen dessen Unentschlossenheit, irgend etwas zu beenden, womit der Dänenprinz so gar nicht der von dem NS-Kronjuristen favorisierten "nordischen" Tatkraft entsprach. Maharaj kontrastierte dies mit Walter Benjamins Aussage, daß das Leben in den Städten einer neuen Geometrie der Überwachung unterworfen werde, und hob damit unausgesprochen darauf ab, daß Schmitt und Benjamin, wie von Giorgio Agamben beschrieben, maßgebliche Antipoden im frühen Diskurs um die Bedeutung staatlicher Macht in Zeiten der Krise waren.

Public space sei nicht länger homogen, sondern stelle sich heute heterogen und rätselhaft dar. Man habe es nicht mit einem klar definierten akademischen, sozialen oder politischen Raum, sondern einem sich selbst generierenden und wieder auflösenden Raum zu tun, der uns mit seiner Unmeßbarkeit konfrontiere. Anspruchsvolle zeitgenössische Kunst erlaube es nicht, unsere Sprache wie ein Netz über das Werk zu legen, sondern verlange uns ab, sich von Grund auf ein Bild vom ihm zu machen. Expertise entwickle sich folglich durch Austausch, Konversation und Debatte. Kunst müsse in ihrer Diversivität gesehen werden, da es keine einheitliche Definition von ihr gebe.

Wiewohl Kunst ihrem Wesen nach unmeßbar sei, werde sie doch in den Ländern des Südens zu einem Wirtschaftsfaktor, wie das auch in der westlichen Welt in zunehmendem Maße der Fall sei. Indessen hätten die Riots in England die Auffassung davon, was public space sei, grundlegend verändert. Als man der Frage nachging, welche sozialen Schichten sich an den Unruhen beteiligten, kam man zu einem frappierenden Ergebnis. Die aufrührerischen Jugendlichen hätten nicht wie vermutet nur der Unterschicht der Arbeiterklasse angehört, sie seien vielmehr zumindest in gewissen Anteilen aus allen Bevölkerungskreisen gekommen, wie aus den Gerichtsakten hervorgehe. Dieses Phänomen verweise auf die Komplexität der Stadt und ihrer Räume, die epidemisch entstehen und wieder verschwinden.

Um Kreativität, Politisierung und Partizipation zu verstehen, müsse man die Folgen der globalen Produktionskreisläufe untersuchen, fuhr Maharaj fort. Die Ökonomie beschränke sich längst nicht mehr auf "nationale Container", sondern entfalte sich in einer weltweiten Kette von West nach Ost und wieder zurück. Mit dem Aufkommen der seriellen Massenproduktion von Fahrrädern und später Autos im Zuge der Fordismus und dessen tayloristischer Arbeitsorganisation sei der menschliche Geist, der sich Tagträumen hingeben, kreativ werden, Kunst schaffen kann, auf die Parameter effizienter Arbeit und ihrer kostengünstigen Rationalisierung reduziert worden. Dies verwandelte den Menschen gleichsam in einen Roboter, wiewohl der Zukunftstraum Henry Fords in einer Mechanisierung der Arbeitswelt bestand, in der Maschinen die Arbeit von Menschen verrichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Fordismus seinen Höhepunkt überschritten, worauf mit Japan ein Verlierer des Krieges im Toyota-Modell ein System schuf, das als schlanke Produktion bezeichnet wurde und die weltweite Konkurrenz an Effizienz übertraf.

Demgegenüber produzierte Volvo in Schweden in Abkehr von der Beschränkung des Arbeiters auf minimale Kenntnisse und Entfaltungsmöglichkeiten Fahrzeuge nunmehr ohne Fließband und kooperativ von der Planung bis zur Fertigung. Dieses zunächst als wegweisend gerühmte Modell existierte jedoch nur vier Jahre lang. In der Folge schufen Ford und Toyota gemeinsam ein innovatives System, in dem der Arbeiter ständig bereit sein muß zu improvisieren und Innovationen durchzuführen. So wurde die schöpferische Energie des Arbeiters in den Produktionsprozeß eingespeist, und dies sicherlich nicht aus humanen oder altruistischen Gründen.

Wie kommt die Kunst dabei ins Spiel? Seit den 1960er Jahren gab es unter Künstlern Überlegungen zur Verbindung von Kunst und Industriearbeit. Allerdings verlief die Entwicklung eher andersherum, indem Kreativität als Ressource für industrielle Produktivität entdeckt wurde. An dieser Stelle warnte der Referent vor einer Verabsolutierung des Terminus Kreativität, die geradezu zu einer pandemischen Verwendung dieses Schlüsselbegriffs entuferte. Marx werde heutzutage wieder häufiger gelesen, da man den Aufstieg des Kapitals wie auch seinen gegenwärtigen Untergang verstehen wolle. Er habe die Frage aufgeworfen, wer der eigentliche Produzent und Schöpfer sei: Der Produzent des Pianos, der Spieler oder gar der Zuhörer? Ganz genau lasse sich diese Frage nicht beantworten, so Maharaj. Marx beharre jedenfalls darauf, daß nur die Arbeiter als Produzenten und Schöpfer zu bezeichnen seien, weil sie allein den Mehrwert schaffen.

Der englische Kunsthistoriker und Sozialphilosoph John Ruskin warf im ausgehenden 19. Jahrhundert Fragen auf, die Mahatma Gandhi so beindruckten, daß er, angestoßen durch einen Text Ruskins über Kunst, Ökonomie und Politik, gelobte, sein Leben zu ändern. Gandhi erinnerte später in einer seiner eigenen Schriften daran, daß ökonomische und politische Werte nie in Reinkultur existieren, sondern stets mit menschlichen Bedürfnissen korrespondierten. Die gegenwärtige Ökonomie versuche jedoch ausschließlich, aus Geld mehr Geld zu machen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, so Maharaj.

Einige prominente Denker der sich entwickelnden Welt des Südens seien der Wertschätzung des Kapitalismus und seines Produktionssystems als Katalysator kreativer Prozesse verfallen. Die aufgezwungene Verflüssigung traditionellen Kapitals werde in diesen Ansätzen in Afrika und Lateinamerika wiederholt, indem Gemeinschaftsbesitz, ja selbst Wasser privatisiert wird. Wie läßt sich der radius of arts definieren, wenn der Kapitalismus inzwischen einen derart großen Teil der Kreativität und Transformation für sich reklamiert?

Was ist der Künstler? Ein öffentlicher Experte, ein Techniker, ein Narr, jemand der sich nicht einfügen kann? Seine vollständige Einvernahme durch den Primat der Produktion und deren Perfektionierung müsse analysiert und kritisiert werden, um zu verstehen, wer wir sind, und um auszuschließen, daß wir uns im Kreis bewegen. Der Künstler als Genius, als Konzeptualist und heute als Unternehmer - dort koppelt sich die Kulturindustrie an die kreative Kunst an. Deshalb gelte es, die eingangs von Jürgen Bock gestellte Frage sorgfältig zu prüfen. Vielleicht müsse man der Superproduktivität die Verhältnisse der vorkapitalistischen Zeit entgegensetzen, die so faul und träge gewesen seien, als schwimme man in Honig. Interessanterweise habe Marx' Schwiegersohn Paul Lafargue ein Manifest der Faulheit verfaßt. Das Primat der Produktivität habe eine Welt herbeigeführt, in der selbst die Konsumption nur noch ein Faktor zur Ankurbelung der Produktion ist. Innovation könne jedoch keine wahre Kreativität sein, weil sie sich innerhalb der Protokolle bewege, die die Prinzipien der Produktivität befördern. Demgegenüber hoffe er nach wie vor, daß Kunst nicht meßbar sei und ohne Protokoll arbeite, schloß Sarat Maharaj seinen Vortrag.

Saal mit Publikum - Foto: © 2012 by Schattenblick

Grundfragen verhandelt vor großem Publikum
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die bloße Dauer des einstündigen Vortrags nach einem ereignisreichen Konferenztag oder die vom Referenten selbst eingestandene Neigung zu entufernder akademischer Brillanz vermochten ein wenngleich unterschwelliges, so doch spürbares Unbehagen in Teilen der Zuhörerschaft nicht restlos zu erklären. War man von einer Fragestellung ausgegangen, die einen nicht aufzulösenden Widerspruch zwischen künstlerischer Freiheit und deren Indienstnahme und Zähmung im Zuge finanzieller Förderung durch gouvernementale und korporatistische Einbindungsstrategien postulierte, so hatte sich Maharaj dem wohl von seinem Vortrag erhofften versöhnlichen Brückenschlag verweigert. Er rückte von der proklamierten Unmeßbarkeit der Kunst keinen Deut ab und untermauerte seine Warnung vor einer Einschränkung seitens institutioneller Unterstützung mit einem Streifzug durch die Geschichte kapitalistischer Verwertung. Deren Degradierung des arbeitenden Menschen zu einem maschinengleichen Fragment und mehr noch ihre Okkupation seiner innovativsten Potentiale zum Zweck, auch und gerade aus schöpferischen Kräften Mehrwert zu pressen, läßt keinen Raum, in dem sich in ihren Resultaten unvorhersehbare und mithin nicht diktierbare Kunst zum beiderseitigen Nutzen entfalten könnte.

Was sich zählen und messen läßt, bleibt demnach der Sphäre fremdnütziger Bewertung und Verwendung unterworfen, lautete konsequent zu Ende gedacht die Botschaft Sarat Maharajs. Diese Schlußfolgerung stellt allerdings jeden Versuch, qualitative Kriterien künstlerischen Schaffens zu dem Zweck zu definieren, finanzielle Unterstützung unter der Maßgabe ihres Nutzens zu generieren, vor ein schier unlösbares Dilemma: Wie der Arbeiter im weitesten Sinn seine Arbeitskraft verkauft und sich in diesem Prozeß ihrer Verwertung unterwirft, muß sich auch der Kunstschaffende fragen, ob sich sein Metier nicht denselben Zwängen fügt. Das zu konstatieren wäre banal, huldigte man bedenkenlos einer marktwirtschaftlichen Ideologie von fortschrittsfördernder Konkurrenz und kommerziellem Erfolgsstreben.

Hingegen türmen sich auf der Stelle Probleme auf, sobald man auf einem emanzipatorischen Anspruch von Kunst beharrt und dessen Übertrag auf die Gesellschaft postuliert. Wollte man sich mit einem Beitrag zu deren Verschönerung begnügen, die die Unerträglichkeit alltäglicher Existenznot und Entwürdigung mit dem Schleier befristeter Entrückung versieht, ließe sich Versöhnung zumindest predigen. Verzichtet man nicht darauf, die Fallstricke bedrückender sozialer Verhältnisse als Wesensmerkmale innovativer Fortschreibung bestehender Herrschaftsverhältnisse zu entschlüsseln, steht man buchstäblich vor der Wand. Dorthin hatte der Referent seine Zuhörer letzten Endes geführt, was mancher als Zumutung empfinden mochte. Der Künstler habe gut reden, solange sich praktisch denkende Experten bei der Beschaffung der Gelder aufrieben, schwang als unausgesprochener Vorwurf in der halblaut geäußerten Beschwerde mit, nun sei es aber genug. Dabei hatte Sarat Maharaj im Grunde nichts anderes getan, als die eingangs formulierte Widerspruchslage nicht zum Zweck ihrer Entsorgung als rhetorische Fragestellung abzuqualifizieren, sondern aufrechtzuerhalten, indem er sein Verständnis von künstlerischer Freiheit nicht preiszugeben bereit war. Wer diese Verweigerung für kontraproduktiv hielte, landete schnurstracks bei eben jener Verwertungslogik, wie sie der Referent zuvor als Wesensmerkmal des kapitalistischen Produktionsprozesses ausgewiesen hatte.

(wird fortgesetzt)

Deutsches Theater Berlin - Foto: © 2012 by Schattenblick

Subventionierte Kultur vis à vis zur Heinrich-Böll-Stiftung
Foto: © 2012 by Schattenblick

24. Februar 2012