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BERICHT/013: Gerhard Richter - Kulturelle Lebensqualität im Blick (SB)


Sehenswertes "Panorama" in der Neuen Nationalgalerie in Berlin

Neue Nationalgalerie mit Ausstellungsplakat - Foto: © 2012 by Schattenblick

Weithin sichtbares Ziel für Kunstinteressierte aus aller Welt
Foto: © 2012 by Schattenblick

Nähert sich der Besucher Berlins der Neuen Nationalgalerie vom Potsdamer Platz her, so kann er auf diesem kurzen Weg einen städtebaulichen Paradigmenwechsel bestaunen, der die architektonische Zukunft der inszenierten Stadt in ein wenig erfreuliches Licht taucht. Wollte man das um diesen Berliner Verkehrsknotenpunkt versammelte Ensemble von Hochhäusern, Straßenverbindungen und Kunstelementen auf einen gemeinsamen Nenner bringen, so besteht dieser in der stilistischen Unvereinbarkeit jeweils für sich genommen hart an der Grenze zum monströsen Imponiergehabe lavierender Bauelemente. Das postmoderne Allerlei beeindruckt weniger durch seine disparate Vielfalt, als daß es mit der Wucht einer himmelwärtsstrebenden, in Glas, Metall und Stein gegossenen Suprematie imperialer Hybris droht. Geradezu gemütlich wirkt die auf der Höhe ihrer Zeit zivilisationskritisch geschilderte Urbanität eines Alfred Döblin oder Hans Fallada gegenüber der kalt funktionalisierten, in ihrem privatwirtschaftlichen Interesse keinerlei Rücksicht auf die Autonomie des Menschen nehmende, sondern zu Lasten seines Sinnes für homogene Formen und Proportionen stets gegen das andere Monument auftrumpfenden Metropolenlandschaft.

Hochhäuser am Potsdamer Platz - Foto: © 2012 by Schattenblick

Erratische Monumente vergeblichen Himmelsstrebens
Foto: © 2012 by Schattenblick

Neue Nationalgalerie - Foto: © 2012 by Schattenblick

Neue Nationalgalerie
Foto: © 2012 by Schattenblick

Ganz anders der Eindruck, wenn der Passant nach einigen hundert Metern bei der Neuen Nationalgalerie angelangt ist. Weder frönt das von Mies van der Rohe entworfene, ohne tragende Wände auskommende Ausstellungsgebäude einer kommerziellen Zwecken gewidmeten Raumaufteilung, noch versucht es, die Blicke mit gleißenden Farben und aggressiven Signalen einzufangen. Die klaren Linien des quadratischen Bauwerks, das ebenmäßige, durch rechteckige Steinquader strukturierte Fundament, auf dem es ruht, und die Transparenz seiner Glasfassade vermitteln ein großzügiges, von Enge unbelastetes Raumgefühl. Wie geschaffen für eine Ausstellung namens "Panorama", die 50 Jahre des Schaffens eines der bekanntesten zeitgenössischen Maler Deutschlands dokumentiert.

Die Retrospektive auf das Werk Gerhard Richters wurde bereits in der Londoner Tate Modern und dem Pariser Centre Pompidou gezeigt, allerdings auf jeweils eigene Weise, wie die Berliner Aussteller betonen. Gut 130 Gemälde und mehrere Glasskulpturen werden von den 196 Farbtafeln der Serie "4900 Farben" quasi umschlossen, verläuft diese doch, an fünf Meter hohe weiße Wände gehängt, über alle vier Seiten der Nationalgalerie und ist damit gleichzeitig ganz verschiedenen Tageslichtern ausgesetzt. Nach Lösung des Tickets im ebenfalls weitläufigen Untergeschoß, dessen Besuch schon ein Blick auf Willi Sittes furioses Historiengemälde "Leuna 1921" lohnt, wird der Gast noch vor dem Durchgang, an dem die Eintrittskarte gescannt wird, mit großformatigen abstrakten Bildern aus der jüngsten Schaffensphase des Malers empfangen.

In der hohen Halle der Nationalgalerie geht es durchaus andachtsvoll zu, niemand stört den anderen beim Betrachten der Bilder, Bänke laden zum Verweilen ein, fotografiert wird nur ohne Blitz, und der Rucksack ist gefälligst in der Hand zu tragen. Man legt Wert auf einen gemessenen Umgang, um die sinnliche Erfahrung mit den Werken Richters nicht durch den Lärm profaner Alltagsgeräusche zu beeinträchtigen. Unterzieht er sich der Mäßigung leiser Töne und Schritte, wird der Betrachter durch einen ästhetischen Genuß belohnt, der der Expertise nicht bedarf, um seiner kognitiven Subjektivität Erlebnisse des Blicks zu erschließen, die seine auf Informationstransfer und Reizbindung geeichte Bahnung fast mühelos transzendieren.

Sollte sich jemand vorwitzigerweise fragen, worin die künstlerische Eigenleistung anhand fotografischer Vorlagen erstellter Gemälde eigentlich besteht, so wird er schon bei den ersten, in chronologischer Reihenfolge aufgehängten Bildern verstummen. 1965 entstand mit "Tiger" eine die animalische Energie dieser Großkatze beim schemenhaften Durchstreifen des Dschungels fast physisch erlebbare Abbildung, in der die optisch diffuse Maltechnik des Künstlers Nähe und Distanz ineinander verschmelzen ließ. Im "Stadtbild Paris" von 1968 scheinen sich die Häuser in alle Richtungen auszudehnen, als sei ihre bauliche Statik in organischen Wildwuchs übergegangen. Das 1963 entstandene Bild "Bomber" provoziert bei Zeitzeugen Erinnerungen an die Fernsehbilder aus den durchaus heißen Konflikten des angeblich Kalten Kriegs, der seit 1964 in zeitloser Beschleunigung befindliche "Ferrari" läßt den von ökologischen Bedenken freien Automobilismus vergilbter Herrenreiter Revue passieren. Diese im Spektrum zwischen weiß und schwarz changierenden Bilder wirken wie Zeitmarken einer Epoche, in der die kulturelle Lebensqualität bei allen Widersprüchen des kriegerischen Kapitalismus noch nicht von einer in immer neuen Rekorden der Taktraten und Rechenleistung gipfelnden Prozeßlogik bestimmt war, die Warenumschlag und Kapitalakkumulation zu geschichtsloser Gegenwart verdichtet.

Wie ein verwunschener Platz am Fuße des Doms, das Sonnenlicht so hell wie die schattigen Gemäuer dunkel, wirkt die 1988 entstandene "Domecke II". Die Farbgebung ist so unaufdringlich, daß das Bild fast schwarzweiß erscheint und erst bei näherem Hinsehen erdbraune und blattgrüne Kontraste erschließt. Drei vertikal übereinander gehängte Wolken in verschiedenen Blautönen aus dem Jahr 1970 fliegen regelrecht davon. Das "Seestück" von 1970 hebt oben und unten in der scheinbar symmetrischen Spiegelung der Meeresoberfläche auf. In der Glasinstallation "11 Scheiben" von 2004 erzeugt die den Blick in seiner Suche nach Fixpunkten so wirksam auflösende Unschärfe ein irreales Empfinden, das die sich darin spiegelnden Betrachter und Passanten in Wesen hinter den Spiegeln verwandelt, ganz wie im Film "Orphée" von Jean Cocteau.

Die zahlreichen abstrakten Bilder aus den verschiedenen Schaffensphasen Richters erfreuen den Betrachter nicht minder, was auch für die farbenfrohen Aquarelle gilt. Was die Fotobilder zu einem besonderen Erlebnis macht, ist die räumliche wie zeitliche Tiefe einer gegenständlichen Kunst, die einen breiten Horizont menschlicher Erfahrungen mit der persönlichen Lebenswelt des Künstlers verbindet. Geht man auf die Bilder zu und wieder von ihnen weg, dann erzeugt ihre strukturelle Beschaffenheit ganz unterschiedliche Eindrücke. Als Ergebnis eines Produktionsprozesses, der den kurzen Augenblick der Belichtung des Films in der physischen Handhabung des Pinsels entgrenzt, in dem das Ergebnis einer hochentwickelten technischen Apparatur auf die körperliche Bewältigung einer archaischen Kulturtechnik übersetzt wird, legen diese Bilder genuine Zeugnisse menschlicher Eigenständigkeit ab und beziehen den Betrachter im besten Fall auf emphatische Weise ein.

In einer idealen Welt initiierte eine solche Schau bei Menschen, die zu sehen verstehen, weil sie den Augensinn nicht zur höchsten Instanz der Erkenntnis erheben, sondern seiner der Blendung und Spiegelung gleißenden Lichts geschuldeten Trägheit gewahr sind, ungeahnte Schaffenskräfte. Im antagonistischen Widerstreit herrschender Vergesellschaftungsformen können Bilder wie diese zumindest Fenster öffnen, die den Blick von instrumenteller und quantifizierbarer Zweckbindung befreien. Das wäre viel für eine Kunst, die, wie Richter meint, eine andere Form des Denkens darstellt. Der in spektakulären Verkaufserlösen sich manifestierende Warencharakter der Bilder Richters hingegen ist alles anderes als dies. In ihm nimmt der vergebliche Versuch Gestalt an, noch nicht in die große Maschine einspeisbare Formen menschlicher Subjektivität so sehr teil- und zählbar zu machen, daß sie des Potentials zur Aufhebung aller schmerzhaften und versklavenden Verhältnisse verlustig gehen.

Anders als in London und Paris war der 1988 geschaffene Zyklus "18. Oktober 1977", der Gefangene der RAF auf der Basis von Polizeibildern vor wie nach ihrem Tod zeigt, nicht in die Werkschau "Panorama" integriert. In der ehemaligen Frontstadt Berlin, die in der Ausbildung linksradikaler Militanz in der BRD einen zentralen Platz einnahm, wird dieser 15 schwarz-weiße Gemälde umfassende Zyklus zeitgleich in der Alten Nationalgalerie präsentiert. In der Publikation Deutsche Bank Art Works wird die Auftrennung der originären Ausstellung unter dem Titel "Elegante Lösungen" mit der angeblichen Entpolitisierung des Zyklus begründet. Diese "'Auslagerung'" "in unmittelbare Nachbarschaft zu Historiengemälden des 19. Jahrhunderts und Bildern von Caspar David Friedrich, den Richter bewundert", "entrückt die RAF-Bilder der Sphäre des Politischen, in der sie häufig diskutiert werden. Stattdessen betont der Standort die kunsthistorische Tradition, in der diese Bilder stehen." [1]

Daß die Historisierung des RAF-Zyklus überhaupt notzutun scheint, spricht eher dafür, ihn nicht ins Abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit, die um die Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie entstanden ist, zu verbannen. Da der Künstler niemals eine politische Absicht mit dieser Bilderserie verfolgt und sich stets zurückhaltend zur Wahl seiner Motive geäußert hat, bleibt es der Subjektivität des Betrachters überlassen, diesen nur scheinbar abgeschlossenen Konflikt zu reflektieren. Die schemenhaften Darstellungen, mit denen Richter den gescheiterten Akteuren eines revolutionären Kampfes im Limbus einer flüchtigen Momentaufnahme zu zeitloser Existenz verhilft, können bei Zeitzeugen starke Erinnerungen an eine Ära der politischen Auseinandersetzung hervorrufen, deren Beweggründe alles andere als aus der Welt sind.

Die Konfrontation des Betrachters mit virulenten gesellschaftlichen Widersprüchen bei der Rezeption von Kunst auszusparen entledigt sie ihres größten Vitalfaktors. Die Gebrochenheit und Zerrissenheit des vergesellschafteten Menschen mit dem Ziel in Angriff zu nehmen, in eindeutiger Positionierung überprüfbare und unumkehrbare Entwicklungen zu initiieren, liegt im Vermögen einer Subjektivität, die nicht passiv konsumiert, sondern aktiv forscht. Wo Richter mit seinen Gemälden Fenster für Reflektionen und Visionen aufstößt, die den Schein einer in allen Belangen durchregulierten und nutzenbezogenen Welt perforieren, trifft der Betrachter auf das Unzureichende und Unerfüllte eigener Existenz. Über die Auseinandersetzung mit abstrakter Formsprache oder figurativer Repräsentation hinaus bietet das Nachdenken über den eigenen Blick hinsichtlich der anziehenden wie abstoßenden Kriterien seiner Selektivität und seiner Verbindung zur Emphase allgemein menschlicher und kollektiver Erfahrung wertvolle Hinweise für die eigene soziale und gesellschaftliche Praxis. Die Historisierung in Bildern gebannter Zeitläufe hingegen ist ein Verwaltungsakt, der das Potential des Menschen zu Emanzipation und Autonomie negiert, weil das auch in der Kunst verfolgte Anliegen der Befreiung in seiner Unteilbarkeit nicht verwaltbar und damit beherrschbar ist.

Fußnote:

[1] http://db-artmag.de/de/68/feature/elegante-loesungen-gerhard-richter-in-berlin-und-frankfurt/

Innenansicht der Kuppel des Sony-Centers - Foto: © 2012 by Schattenblick

In der Kathedrale des Konsumismus ...
Foto: © 2012 by Schattenblick

Blickrichtung Potsdamer Platz - Foto: © 2012 by Schattenblick

... illuminierte Unwirtlichkeit
Foto: © 2012 by Schattenblick

20. März 2012