Schattenblick →INFOPOOL →KUNST → REPORT

BERICHT/025: "Alice im Wunderland der Kunst" bis 30. September in der Hamburger Kunsthalle (SB)


Die Galerie der Gegenwart als Kaninchenbau surrealer Positionen

Bildersatz

Bildersatz

Den ernsten Blick forschend in eine geheime Welt jenseits des Bildes gerichtet, ragt das überdimensional große kleine Mädchen seit dem 22. Juni 2012 auf einem riesigen Plakat an der Hamburger Kunsthalle empor. Es weist die Stadt darauf hin, dass im Inneren der Galerie der Gegenwart noch bis zum 30. September zu erleben ist, welch unglaublich großen Einfluss eine nie zur Veröffentlichung gedachte, per Hand aufgeschriebene und illustrierte Kindergeschichte auf die internationale Kunst der letzten 150 Jahre hatte: Die Ausstellung "Alice im Wunderland der Kunst", die bereits im Tate Liverpool und im MART Rovereto, Italien, gezeigt wurde, eröffnet eine Vielfalt phantastischer Künstlerperspektiven der angewandten, bildenden und darstellenden Künste. Direkt oder indirekt gehen alle ausgestellten Gemälde, Filme, Installationen und Skulpturen des Präraffaelismus, des Surrealismus und der zeitgenössischen Gegenwart auf verschiedenste Figuren und Aspekte des Literaturklassikers ein, wobei die interessantesten Positionen an den erkenntnistheoretischen Fragestellungen zu Logik, Zeit, Raum und der Arbitrarität von Sprache orientiert sind, die in "Alice im Wunderland" aufgeworfen werden. Ein besonderer Schwerpunkt der in Hamburg gezeigten, leicht abgewandelten Version der Originalausstellung ist die Präsentation von mit Alice in Verbindung stehenden Werken deutschsprachiger, surrealistischer Künstler wie Max Ernst, Oskar Kokoschka, Thorsten Lauschmann, Pipilotti Rist, Thomas Brinkmann oder Richard Oelze, um nur einige zu nennen.

"Alices Adventures under Ground" hieß die erste englische Ausgabe von "Alice im Wunderland", die Lewis Carroll 1862 in Buchform verfasste, um sie seiner kindlichen Freundin Alice Liddel zu Weihnachten zu schenken. Das achtjährige Mädchen, eine der drei Töchter des Dekans, an dessen College in Oxford Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll Mathematik unterrichtete, hatte ihn begeistert gebeten, die Geschichte zu Papier zu bringen, die er auf einem Bootsausflug für sie und ihre Schwestern erfunden hatte. Bereichert um die lebendigen Illustrationen des Karikaturisten Sir John Tenniel, der für das britische Satire-Magazin "Punch" arbeitete, und 1869 fortgeschrieben durch den zweiten Band "Through the Looking Glass", lagen bereits wenige Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes zahlreiche Übersetzungen in anderen Sprachen vor. "Alice im Wunderland" wurde zu einem Bestseller, der seinesgleichen sucht, was auch die ausgewählten historischen Buchausgaben in der Galerie der Gegenwart beweisen, unter denen beispielsweise die 1923 von Vladimir Nabokov übersetzte russische Version zu finden ist.

Bildersatz

Bildersatz

Die Ausstellung setzt Carrolls zum "National Heritage" Großbritanniens gehörende Geschichte zwar als bekannt voraus, gibt dem Besucher jedoch direkt zu Beginn des Rundgangs die Möglichkeit, sein Gedächtnis mit einer digitalen Version des von Carroll gefertigten Originals aufzufrischen. Gleichzeitig weisen ein winziges Carrollsches Aquarell, seine Kamera und mehrere von dem begeisterten und höchst produktiven Amateurfotografen selbst belichtete Fotografien auf den unmittelbaren Lebenszusammenhang des Autors und Mathematikdozenten hin. Der enorme Erfolg seines Buches traf ihn unerwartet, auch wenn er sich bemüht hatte, "Alice im Wunderland" einer breiteren Leserschaft bekannt zu machen. Nicht nur das "Scrapbook", in dem Carroll zahlreiche zu seinen Lebzeiten veröffentlichte Zeitungsberichte über sich und seine Geschichte sammelte, bezeugt die Begeisterung, mit der er liebevoll die Erfolgsgeschichte seines Werks und seiner Figuren antrieb und begleitete.

Episodenhaft werden uns in "Alice im Wunderland" die Erlebnisse der jungen Protagonistin nahegebracht, die, in schwarzen Riemchenschuhen und einem blauem Kleid mit weißer Schürze, aus sonntäglicher Langeweile neugierig einem Uhr lesenden und Zwicker tragenden Hasen in seinen Bau folgt und dort in einen tiefen Schacht fällt. Spätestens seit dem Disneytrickfilm "Alice in Wonderland" (1951) hat die Modewelt dieses Mädchenoutfit zum zentralen Bestandteil einer eigenen Szene gemacht. Die überaus große Bedeutung des Wunderlands für das internationale Modedesign wird in der Ausstellung zwar mit einem Foto der Starfotografin Annie Leibovitz angerissen, das Karl Lagerfeld als König neben einer in Blauweiß gekleideten Kindfrau mit Schweinchen zeigt, bleibt jedoch im Verhältnis zur durchaus bahnbrechenden Wichtigkeit für diesen Bereich eher unterbelichtet.

Auch für den Raum "Alice im Theater" erweist sich das Konzept einer Sammelausstellung als schwierig. Zwei zarte Kostümkleider und eine Alicemarionette erzählen von der Vorstellung, die 1992 im Hamburger Thalia Theater stattgefunden hat, ohne herauszuarbeiten, was dieses Stück so legendär machte. Mit weiteren Fotografien historischer Theateraufführungen wird uns ein sehr kurzer Einblick in die Alicerezeption auf der Bühne gegeben, so dass eine eher unbefriedigende Aufzählung entsteht, die mit zwei Bildern von John Isaacs und Kenton Nelson abgeschlossen wird. Sie weisen abermals auf den befreienden, doch auch bedrohlichen Wandel der Perspektive im Wechsel zwischen Spiel und Realität hin. Als Besucher stehen wir so einer zwar sorgfältig ausgewählten, jedoch überaus diffus-komplexen Schau gegenüber. Das Gefühl, nicht ausreichend über Hintergrund und Entstehung der dargebotenen Kunstwerke und Strömungen informiert und damit einer Art oberflächlichen Bespiegelung des "Alice im Wunderland"-Stoffes ausgeliefert zu sein, kann allerdings ohne weiteres in buchstäbliche Zerstreuung aufgelöst werden, wenn wir uns unvoreingenommen staunend auf die Ausstellung einlassen - dann gelingt uns das Zuhören, das auch Alice erst lernen musste.

Bildersatz

Bildersatz

Auf dem Grund des Schachts angekommen findet sie sich in einer surrealen Welt wieder, in der die Rahmenbedingungen der uns bekannten Realität völlig aus den Angeln gehoben sind. Dinge wie Tische und Stühle, die zunächst "normal" erscheinen, erweisen sich als völlig "kurios", weil Alice' Körpergröße und damit auch ihre Perspektive auf diese Gegenstände sich ständig verändern. Sie ist gezwungen, je nachdem, aus welchem Fläschchen und von welchem Kuchen sie gegessen hat, nahezu unkontrolliert zu wachsen und zu schrumpfen. Diese Wandlungen bringen Alice schließlich so durcheinander, dass sie nicht einmal mehr in der Lage ist, die nur scheinbar banale Frage "Wer bist du?", die ihr des öfteren von sonderbaren Wesen gestellt wird, zu beantworten. Wie sehr wir unser "Ich" über die unmittelbare Umgebung definieren und wie unausweichlich die Notwendigkeit ist, unser "Selbst" an Dingen, die außerhalb von uns liegen, fest zu machen, vermittelt das von der Schweizer Videokünstlerin Pipilotti Rist installierte, überdimensional große Wohnzimmer. Es macht uns genauso plötzlich und unerwartet zu Winzlingen wie Alice. Pipilotti Rist sehe in dieser Verunsicherung und Veränderung der Wahrnehmung eine Rückkehr zur kindlichen Erfahrung von Gegenständlichkeit und nehme sie als bewusstseinserweiternden Gewinn wahr, so Jonas Beyer, kuratorischer Assistent der Ausstellung. Spätestens wenn wir uns bei dem unmittelbar erlebten Wechsel der Perspektive, den auch die überraschenden Installationen "KIM. WER IST KIM" (1995) und "ICHKUPPEL" (1995) von Stephan Huber aufgreifen, ein staunendes Lachen nicht mehr verkneifen können, wissen wir: Jetzt sind wir angekommen im "Wunderland der Kunst", das nichts mehr mit einer thematisch oberflächlichen Beliebigkeit gemein hat.

Bildersatz

Bildersatz

Alles, was Alice anfasst oder was ihr die höchst unterschiedlichen Bewohner des Wunderlandes raten zu tun, um ihre Position in dieser neuen Welt wenigstens ansatzweise zu festigen, funktioniert nicht so, wie sie es sich wünscht. So ist auch die Kommunikation mit den sich bisweilen grausam und skrupellos gebärdenden Fabel- und Phantasiewesen buchstäblich auf den Kopf gestellt: Obwohl oder gerade weil Humpty Dumpty, die schwer zu durchschauende Grinsekatze, der vollkommen verrückte Hutmacher, die Shisha rauchende Pilz-Raupe, die herrische Karten-Königin und der opportunistische König mit ihrem ganzen seltsamen Hofstaat Alice' Schulwissen und Höflichkeit immer wieder ins Lächerliche ziehen, entfaltet sich ein von jeglicher Konvention befreites Verhältnis zwischen ihnen. Alice fasst den Mut, sich eigenhändig um ihre Belange zu kümmern, statt sie von dem Wohlwollen der anderen abhängig zu machen, und beginnt, bei aller Verrücktheit, die Welt für sich und ihre Freunde in Gebrauch zu nehmen. Hier sei das große Bild "Pool of Tears II" (2000) von Kiki Smith genannt, das sich auf die Episode "Der Tränenteich" bezieht und ursprüngliche Originalillustrationen von Lewis Carroll zitiert. Die winzige Alice findet sich mit ihren tierischen Begleitern plötzlich in einem See schwimmend wieder, den sie geweint hat, als sie noch riesig war. Sie retten sich gemeinsam aus dem Nass und trocknen sich in einem von Alice angeregten Wettlaufspiel.

Bildersatz

Bildersatz

Schon früh wurde die Buchpublikation von einem Angebot an Alice-Gebrauchsgegenständen begleitet. So gibt es ein von Carroll angeregtes Briefmarkenheftchen mit Tenniel-Motivik zu sehen, das zusammen mit Alice-Keksdosen und dem feinen Tea-Party-Geschirr in einer bunten Vitrine direkt neben bunten Wunderland-Tapeten und dem tief blauen Teppich von Stephan Balkenhol, Claudia Pegel und Rüdiger Schöttle bestaunt werden kann, der Alice' Begegnung mit dem Hasen im Muster trägt. Diese Art der "Vermarktung" abzuurteilen sei jedoch übereilt, so Jonas Beyer, der sich Zeit nahm, den Schattenblick durch die Ausstellung zu führen. Carrol habe, obwohl der Kontakt zur "historischen" Alice nach ihrem 18. Geburtstag weitgehend abgebrochen war, später wieder Verbindung zu Alice Liddel aufgenommen, um sie zu fragen, ob er das ursprüngliche Manuskript publizieren dürfe. Der Wunsch, die Entstehungsgeschichte des Werkes an die Öffentlichkeit zu bringen, weise nach Beyers Einschätzung über ein rein kommerzielles Interesse hinaus.

Edward Wakeling, der maßgeblich an der Ausstellung "Alice im Wunderland der Kunst" beteiligt war und als angesehener Carroll-Forscher sein Wissen im aktuellen Ausstellungskatalog darlegt, beschreibt Carrolls enge Verbundenheit zu der Künstlerbewegung der "Präraffaeliten". Die Werke dieser Gruppe um John Everett Millais und Dante Gabriel Rosetti, mit dessen Familie Lewis Carroll engen Kontakt pflegte, orientierten sich in der Malerei an "primitiven" Werken vor 1500. Die zu Carrolls Zeit einflussreiche und in ihrer Qualität bis heute oft unterschätzte Künstlerströmung, die einen maßgeblichen Beitrag zur Produktion von sowohl gemalten als auch fotografierten mythologisierenden Natur- und Kindheitsmotiven des viktorianischen Zeitalters leistete, prägte auch die Bildgestaltung des kunstinteressierten Hobbyfotografen Carroll.

© 2012 by Schattenblick

Ausstellungsansicht der Vitrine mit Alice-Gebrauchsgegenständen
© 2012 by Schattenblick

Im Kreis der Präraffaeliten war das Kind als Zeichen der Unschuld ein zentrales Motiv, das auch als Sehnsuchtsprojektion charakterisiert werden könne, erklärt Jonas Bayer. Das habe sich darin niedergeschlagen, dass gerade Kinder von der Bruderschaft der Präraffaeliten sehr häufig portraitiert wurden. Allerdings stünden diese Bildnisse in einer größeren Tradition, die keinesfalls nur den männlichen Blick auf die Kinder wiedergebe. Auch Frauen wie die mit Lewis Carroll bekannte Julia Margaret Cameron hätten Kinder fotografiert, so dass sich der Fokus der hier angesetzten Forschung erweitern ließe, was auch auf die Kostümierung oder Hintergrundgestaltung zutrifft, durch die die Kinder oft in mythologische Kontexte gesetzt wurden. Obwohl einige der Bilder den Eindruck vermitteln, dass auch erotische Sehnsüchte bei der Produktion der Fotos eine Rolle gespielt haben könnten, ist es der aktuellen Carroll-Forschung zufolge aufgrund der hohen moralischen Ansprüche jener Zeit unwahrscheinlich, dass die Intention der Präraffaeliten oder Carrolls in eine solche Richtung gingen. Die Tatsache, dass die Kinder aufgrund des technischen Entwicklungsstands der Fotografie in ihrer Bewegung eingeschränkt werden mussten, um das Gelingen eines Fotos zu gewährleisten, brachte Lewis Carroll dazu, ihnen spielerisch fesselnde Geschichten zu erzählen. Auch als Erwachsene blieben viele seiner Kindermodelle dem Autor freundschaftlich zugetan. An dieser von der Zartheit des heranwachsenden Lebens faszinierten Strömung, die manchmal von einem Hauch Morbidität begleitet wird, orientiert sich gegenwärtig auch Annelies Štrba, die mit drei Teilen der Serie "Nymia" in Hamburg vertreten ist.

Bildersatz

Bildersatz

Auf besondere Weise bestechend sind die ausgeklügelt ausgearbeiteten Hintergründe und Umgebungen in den Bildern des Surrealismus, wie in Max Ernsts "Alice im Jahr 1941" oder Salvador Dalis Lithographien "Alice in Wonderland" (1969). Entweder finden wir die hier oft erwachsen gewordene Alice in einem Feuerwerk aus schönsten Naturumgebungen wieder, die sie, jegliche erotische Konnotation auflösend, beinahe liebevoll umfassen, oder in einer unangenehmen, geradezu sterilen Ödnis mit wüstenhaftem Horizont und brutal idealisiertem Frauenbild. In der Beschäftigung mit den Sedimenten der Alice-Thematik im Surrealismus wird deutlich, dass das Wunderland und Alice zwar bestimmte Werke maßgeblich beeinflusst haben, jedoch ansonsten eher im übertragenen Sinne auf surreale Zusammenhänge anzuwenden sind, da viele Aspekte dem ohnehin herrschenden Zeitgeist entsprachen, der schließlich in die psychedelische Kunst der 60er und 70er Jahre mündete. Jonas Beyer zufolge macht gerade die Tatsache, dass Kunst nicht erschöpfend gelesen werden kann, ihren besonderen Wert aus, denn jede Epoche trage andere Anliegen an sie heran und eröffne so einen neuen Zugang.

Lässt man sich von den Rätseln anregen, die einigen in der Ausstellung gezeigten Werken innewohnen, stellt sich spätestens bei Bill Woodrows Skulptur "English Heritage - Humpty Fucking Dumpty" (1987) die Frage nach Lewis Carrolls politischer Intention und ihrer Reflexion in der Kunst. Verfolgte der Autor überhaupt eine? Die als Herrschaftskritik interpretierbaren Karikaturen des Königspaars und Humpty Dumptys, der unangenehme und meist sinnlose Hektik auslösende Umgang mit Zeit und der militärisch organisierte Hofstaat sind mögliche Hinweise. Dennoch wären weitere Positionen zu diesem wichtigen und weiterführenden Aspekt, vielleicht sogar in einer eigenen Ausstellung, wünschenswert. Veronika Veit, die mit "Wiguld" (2011) am Ende von "Alice im Wunderland der Kunst" den großen Bogen wieder zum spielenden Mädchen schließt, meint: "Mir gefällt der Gedanke, Konventionen, Regeln, sogar Naturgesetze infrage zu stellen und durch andere zu ersetzen. So erscheint alles plötzlich als ein Spiel, dessen Regeln so, aber auch völlig anders sein könnten."

Zu guter Letzt sei auf die den Alltag sprengenden Ereignisse im Rahmen der Sonderveranstaltungen zu "Alice im Wunderland der Kunst" hingewiesen: Für die "Alice Late Night" am 30. August lässt die Hamburger Kunsthalle von 19 bis 23 Uhr alle Uhren stehen, damit turbulente Soundscapes von Sandra Poppe und Gunter Adler zum ersten Alice-Film von 1915 produziert werden können. Gina Schulte am Hülse und Wittwulf Y Malik werden abenteuerliche Intermezzi mit Stimme, Cello und Elektronik zum Besten geben und fünf Poetry Slammer wollen "Alice zwischen den Zeilen" suchen. Außerdem sei die Audiowalk-Führung der Schweden Lundahl & Seitl empfohlen, die vom 11. bis zum 19. August für das Internationale Sommerfestival 2012 auf Kampnagel alle Regeln der visuellen Kunst außer Kraft setzen werden und uns ohne Augenlicht durch die Ausstellung geleiten. Wir dürfen gespannt sein!

Bildersatz

Bildersatz

10. Juli 2012