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BERICHT/031: Fluchträume und Grenzen - zum Beispiel Kunst und Frau (SB)


Heike Friauf über die Geschlechterfrage in der Kunst

Vortrag am 1. September 2012 in Kassel



Die Geschlechterfrage in der Kunst zu stellen ist keineswegs antiquiert, selbst wenn sie nicht in der Terminologie des Gender-Diskurses formuliert wird. Ganz im Gegenteil, wie die Kultursoziologin Heike Friauf mit ihrem Vortrag auf der Tagung der Marx-Engels-Stiftung anläßlich der dOCUMENTA (13) in Kassel bewies. Sie warf diese Frage aus explizit feministischer Sicht auf und ließ keinen Zweifel daran, daß es mit dem formalen Anspruch auf Gleichstellung im bürgerlichen Kulturbetrieb nicht getan ist, wenn sich Frauen nicht zu Sachwalterinnen der dort nicht minder als in anderen Bereichen gesellschaftlicher Produktivität bezogenen Positionen kapitalistischer Klassenherrschaft machen wollten. Die Befreiung der Frau vom Patriarchat kann ohne die Befreiung des Menschen von kapitalistischer Fremdbestimmung nicht gelingen, weil beide Formen der Unterdrückung auf innigste Weise miteinander verwoben sind, so die rote Linie eines Vortrags, der die Scharaden mit neoliberaler Simulation in ihr Gegenteil gewendeter emanzipatorischer Ideale auf durchaus unterhaltsame Weise durchschaubar machte.

Im Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Heike Friauf
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die einleitende Bilanzierung feministischer Errungenschaften im Kunstbetrieb wie die zahlreichen Frauenkunstausstellungen der beiden letzten Jahrzehnte und der theoretischen Reflektionen zum Thema Frauen in der Kunst erwies sich angesichts des Sachstands, nach dem keineswegs von einer Gleichbehandlung und -berechtigung von Frauen in der Kunst sowohl als Künstlerinnen wie auch als Wissenschaftlerinnen zu sprechen wäre, schnell als so zweckmäßige wie trügerische Fassade vor einem nach wie vor geschlechtspezifischen Mißverhältnis. Zweifellos seien viele Frauen in der Kunst präsent, wie nicht zuletzt die künstlerische Leiterin der diesjährigen Documenta, Carolyn Christov-Bakargiev, belege. Friauf warnt jedoch davor, sich von dem dadurch entstehenden Eindruck täuschen zu lassen, und charakterisiert die bekennende Ökofeministin als Frau, deren Feminismus keiner sein müsse, auch wenn sie diesen Anspruch erhebe.

Für Frauen im Kunstbetrieb macht sie geltend, daß diesen selbst in hervorgehobenen Positionen häufig ein Mann vorgesetzt sei und es gerade dort viele Dauerpraktikantinnen gebe, die in permanenter Selbstausbeutung leben, um Ausstellungen kuratieren zu können. Der Anteil an Künstlerinnen und Autorinnen auf der dOCUMENTA (13) umfaßte der Referentin zufolge ein Drittel der 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Das seien weniger als auf der Documenta 12, wo das Verhältnis ausgeglichen gewesen sei. Bei der 1997 erstmals von einer Frau, der französischen Kuratorin Catherine David, geleiteten documenta X war der Frauenanteil mit 20 Prozent weit geringer. Neun hochrangige Museumsdirektoren und -direktorinnen, sieben Männer und zwei Frauen, aus aller Welt hätten eine Findungskommission gebildet, die nach langer Tagung mit Christov-Bakargiev die letzte Documenta-Leiterin bestimmte, womit Friauf illustriert, daß die Vorherrschaft männlicher Funktionsträger gerade auf administrativer Ebene ungebrochen ist.

Dies gelte auch für den Bereich der Kunstgeschichte, die seit jeher von Männern geschrieben wurde, so daß Künstlerinnen kaum in ihr vorkämen. Dies zu ändern sei ein Anliegen der Frauenbewegung der 1970er Jahre gewesen, was immerhin dazu geführt habe, daß die Frage, wer für die Ursprünge der Kunst in prähistorischer Zeit verantwortlich sei, mittlerweile gestellt wird. Heute werde ganz selbstverständlich auch in der Kunstgeschichte nach dem Geschlecht und seinen Implikationen gefragt, zudem entwickle sich die theoretische Diskussion im Rahmen der Genderforschung zu einem eher unbestimmten und grenzüberschreitenden Geschlechtsbegriff weiter. In diesem Zusammenhang verwies Friauf auf die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) in Berlin, wo 2005 die Ausstellung "1-0-1 [one 'o one] intersex" [1] stattfand. Mit der Absicht, "Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung" zu kritisieren, wurde dort die Praxis, Säuglinge auf ein bestimmtes Geschlecht festzulegen, selbst wenn die Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig sind, und die daraus hervorgehende Problematik für Menschen, die sich weder auf das weibliche noch männliche Geschlecht festlegen lassen möchten, künstlerisch aufgearbeitet. Da sich auch der Deutsche Ethikrat umfassend mit Intersexualität befaßte, sei eine Offenheit und Bewußtheit für das Geschlechterthema erreicht, das sogar über das hinausgehe, was Feministinnen ursprünglich einmal beabsichtigt hätten.

Heute würden auch Künstlerinnen oder Künstler nicht mehr zwingend auf ein bestimmtes Geschlecht festgelegt. Dies betreffe unter der großen Zahl im Kunstbetrieb tätiger Menschen zwar nur eine kleine Gruppe, doch fänden Künstlerinnen und Künstler, die mit der Geschlechterfrage spielten, in den Medien besonders große Beachtung. Das habe sich auch anhand der großen Beachtung gezeigt, die der Film "The Ballad of Genesis and Lady Jaye" auf der Berlinale 2011 erhalten habe. Dieser Dokumentarfilm zeigt, wie sich das Künstlerpaar Genesis P-Orridge und Lady Jaye mittels plastischer Chirurgie in geschlechtlicher Sicht aneinander angleicht, was auch in der konservativen Presse mit großer Anteilnahme honoriert wurde. Selbst das blutige Prozedere zur Manipulation der jeweiligen Geschlechtsmerkmale, in dem sich das von William S. Burroughs entwickelte literarische Konzept des Cut Up quasi körperlich materialisiert, schockiert heute kaum noch, was Friauf zu der Schlußfolgerung veranlaßt, daß die Sache der Frauen oder des Feminismus demgegenüber "irgendwie sehr alt" aussehe.

Da die Akteure in dem Film als Künstler ihrer selbst anerkannt würden, könne man dies allerdings auch für die bisherige Kunst geltend machen. Jahrzehntelang hätten Künstlerinnen um Gleichberechtigung gekämpft, und mit einem Mal sei das Geschlecht überhaupt nicht mehr wichtig. Es fungiere als Verfügungsmasse zur beliebigen Verwendung, um als Künstlerin oder Künstler Aufmerksamkeit zu erlangen. So hält Friauf künstlerische Arbeiten auf dem Gebiet der Gender-Debatte oder Queer-Theorie eher für Unterhaltung auf hohem Niveau oder Dekoration des öffentlichen Lebens, wo mit Preisen auf Filmfestivals gekürt werde, was als politischer Impuls keine Relevanz besitzt, selbst wenn das Gegenteil behauptet wird.

Dies sei keinesfalls die Absicht der feministischen Künstlerinnen der 1960er und 1970er Jahre gewesen, sie hätten vielmehr eine wirkliche Veränderung im Kunstbetrieb und in der Gesellschaft angestrebt, in der die völlige Gleichstellung von Frauen, Männern und Angehörigen aller anderen geschlechtlichen Zuordnungen verwirklicht worden wäre. Als Beispiel dafür, daß es auch heute noch feministische Künstlerinnen mit einer explizit politischen Agenda gibt, verweist Heike Friauf auf die 1985 in New York gegründeten Guerilla Girls, die sie anhand zweier Aktionen vorstellt. Die Aktivistinnen tragen bei ihren öffentlichen Auftritten stets eine Gorilla-Maske, so auch auf den Plakaten, mit denen die Frage aufgeworfen wird, was frau tun müsse, um im New Yorker Metropolitan Museum of Art (Met) ausgestellt zu werden. Die Antwort braucht nicht eigens ausgesprochen zu werden, wenn weniger als 5 Prozent der dort ausgestellten Kunstwerke von Frauen gemacht wurden, dafür aber 85 Prozent der in dem Museum zu sehenden nackten Körper weiblich sind [2].

Zwar seien geschlechtsbezogene Themen durchaus im Kunstbetrieb angekommen, doch gelte das nicht für die gesellschaftskritischen Potentiale der Kunst. Dazu trage die Musealisierung feministischer Kunst bei, was auch für Performances gelte, einer ursprünglich radikalen Form künstlerischer Stellungnahme, die heute im Museum von Studenten nachinszeniert würde oder dort in Form von Videos zu betrachten sei. Dies könne man auf viele Formen politischer Kunst anwenden, wie Friauf anhand eines Exponats der dOCUMENTA (13) illustrierte. Die im Ottoneum ausgestellte Erde in Goldbarrenform, die das große Problem der Landlosenbewegung Südamerikas symbolisiert, der durch den Verkauf des Bodens, auf dem die Bauern zumindest ihre eigene Nahrung anbauen könnten, an transnationale Agrarkonzerne die Lebensgrundlage entzogen wird, würde kurz betrachtet, und schon gehe man zum nächsten Ausstellungsstück weiter. Durch diese Musealisierung einer ursprünglich politischen Kunstrichtung könne jede soziale Bewegung mundtot gemacht werden, indem man ihr zwar Öffentlichkeit verschaffe, die aber folgenlos bleibt. Kritik, die nicht weh tut, bleibt Dekoration, meint Friauf auch zum Occupy-Camp, das auf der dOCUMENTA (13) quasi ausgestellt wurde.

Das neoliberale Wirtschaftsregime habe schon lange im Kulturbetrieb Einzug gehalten, so Friauf in Hinsicht auf die aus den USA bekannte Abhängigkeit öffentlicher Kunstevents, Museen und Akademien von privaten Mäzenen. Diese nähmen durchaus Einfluß auf die Auswahl der Kunstwerke und die Thematik der Ausstellungen, die sie finanzieren, und dieses Prinzip setze sich auch in Europa immer mehr durch. Durch die zahlreichen Kuratorinnen und Autorinnen im Kunstbetrieb entstehe ein falscher Eindruck. Sie hätten keine Kontrolle über ihre finanzielle Bemittelung, wodurch sich ihre Situation von einem Moment auf den anderen schlagartig ändern könne. Der Betrieb sei nicht nur männerdominiert, er sei vor allem kapitaldominiert, was allen abhängig Beschäftigten unabhängig von ihrem Geschlecht größte Probleme bereiten könne. So stand das Frauenmuseum in Bonn, das älteste seiner Art, zu dem ein Archiv von großem historischen Wert gehört, kurz vor der Schließung. Dies konnte nur mit größter Mühe verhindert werden.

Derartige Entwicklungen dokumentierten den Druck, der etwa auf Kuratorinnen lastet, die lediglich über einen Zeitvertrag auf Honorarbasis verfügen und in ihrer Gestaltungsfreiheit durch das Eintreiben von Sponsorengeldern ebenso eingeschränkt seien wie durch politische Rücksichtnahmen aller Art. Kunst von Frauen werde gerne gezeigt, aber nur in einem gewissen Rahmen politischer Artikulation, die zum Beispiel akzeptabel sei, wenn sie sich der Inhalte und Terminologie der Genderdebatte bedient.

Folie von Heike Friauf mit Begriffskolonne - Foto: 2012 by Schattenblick

Arbeit am Begriff ...
Foto: 2012 by Schattenblick

Folie von Heike Friauf mit Begriffskolonne - Foto: 2012 by Schattenblick

... im Treibsand postmoderner Referenzen
Foto: © 2012 by Schattenblick

An dieser Stelle erklärt Friauf, warum sie weiterhin mit dem als altmodisch geltenden Begriff des Feminismus arbeitet. Ihr gehe es um die soziale Protestbewegung, die am Anfang der feministischen Bewegung gestanden habe. Dies illustriert sie mit einer Sammlung von Begriffen zum Thema Feminismus, die sie innerhalb einer Woche völlig wahlfrei gesammelt habe. Die Unbestimmtheit und Beliebigkeit der von ihr präsentierten Begriffsbildungen und Wortschöpfungen mache verständlich, wieso sich eine offiziell familienfeindliche Politik betreibende Bundesfamilienministerin Feministin nennen könne, so Friauf zur beispielhaften Illustration der von ihr diagnostizierten gedanklichen Verwirrung um das Thema Feminismus. Zwei grobe Richtungen, die einen streitbaren politischen Feminismus im Kern abwehrten, ließen sich dennoch feststellen: Zum einen fungiere Feminismus als Verkaufsargument, zum anderen als Schreckgespenst. Letzteres dokumentiert die Referentin mit einer Aussage der sehr erfolgreichen, allgemein als feministische Künstlerin gehandelten Fotografin Cindy Sherman, die gegenüber einer deutschen Zeitung erklärte, sie würde sich die lieber nicht als solche bezeichnen, da Feministinnen als "angry", als "Frauen, die alle Männer stoppen wollen", wahrgenommen würden.

Zudem sei es ein großes Problem, wenn Frauen als Opfer oder Verlierer identifiziert würden und aus dieser Negativposition heraus argumentieren müßten. Ihrer Ansicht nach liege darin einer der Gründe für das vorläufige Scheitern der emanzipatorischen Bewegungen. Friauf hält es nicht nur für die Frauenbewegung, sondern alle emanzipatorischen Bewegungen für verhängnisvoll, allein aus der Opfer- oder Verliererposition zu argumentieren, dann habe man tatsächlich verloren. Feminismus sei weder das eine noch das andere, so die Referentin, die statt dessen eine Formulierung anbietet, mit der man zu arbeiten anfangen könne: "Feminismus als politische und ästhetische Kategorie, die in alle Gesellschaftsbereiche eingreift."

Friauf betont noch einmal, daß es um Herrschaftsfragen, um Macht und Ressourcen gehe und nicht nur darum, einige Frauen in hervorgehobene Positionen zu hieven. Dennoch verwahrt sie sich unter Verweis auf die im Kultursektor üblicherweise Männer bevorzugenden Verhältnisse der Erwerbsarbeit wie der Würdigung künstlerischer Leistungen gegen die Behauptung, Frauen hätten heutzutage die gleichen Bedingungen. Sie würden in weit größerem Maße als Männer unter prekären Erwerbsformen leiden, wie eigene Forschungen erbracht hätten, völlig unabhängig davon, wie sehr sie sich darauf zurichteten, flexibel und anpassungsfähig zu sein.

Heike Friauf - Foto: © 2012 by Schattenblick

Plädoyer für einen widerständigen Feminismus
Foto: © 2012 by Schattenblick

Als Ausnahme von der Regel präsentiert Friauf gegen Ende des Vortrags zwei international erfolgreiche Künstlerinnen, für die das nicht gilt. Beide würden in internationalen Anthologien stets im Zusammenhang mit feministischer Kunst genannt, was die Referentin für nicht zutreffend hält. So habe die französische Künstlerin Orlan 1990 in einer Serie sorgsam dokumentierter plastischer Operationen ihren Körper und ihr Gesicht verändert. Praktisch modellierte sie den eigenen Körper wie eine Plastik mit Hilfe von Chirurgen, die die von ihr entworfenen Veränderungen durch drastische Manipulationen ihres Gesichts umsetzten. Als Vorlage wählte Orlan physiognomische Charakteristika berühmter historischer Frauenbilder, wodurch sie sich konzeptionell in die Lage versetzen wollte, sich die männlich produzierte Kunstgeschichte anzueignen. Orlan gelte als gelungenes Beispiel für den feministischen Anspruch auf Selbstermächtigng, weil ihr keiner vorgebe, wie sie auszusehen hat, weil sie sich weibliche Gestalten der Kunstgeschichte aneigne und damit einer männlich bestimmten Kunsttradition entziehe. Orlan sei ein Kunstwerk ihrer selbst ganz im Sinne eines Foucault, der den modernen Menschen als Wesen beschrieb, das sich beständig neu erfinden könne.

Wie sehr sich die französische Künstlerin damit den Forderungen der neoliberalen Arbeitsgesellschaft unterwirft, liegt auf der Hand. Daß ihre Entscheidung, sich zum fleischgewordenen Objekt körperästhetischer Eingriffe zu machen, was sie als Vertreterin der Body oder auch Carnal Art ausweist, von Feministinnen als Akt der Befreiung verstanden wird, kann nur als schlagendes Beispiel für eine in ihr Gegenteil umgeschlagene Form der Emanzipation verstanden werden. In diesem Zusammenhang geht Friauf auch auf TV-Formate, in denen sich die Kandidatinnen mit schönheitschirurgischen Mitteln ein neues Aussehen verschaffen lassen, und den Boom der plastischen Chirurgie bereits unter Jugendlichen ein. Es sei gerade ein erklärtes Ziel der feministischen Bewegung gewesen, sich beim eigenen Aussehen nicht den meist männlichen Vorgaben zu beugen, während Orlan, die sich perfekt in die Verwaltungsmechanismen des Marktes einpasse, große Anerkennung unter heutigen Feministinnen genieße.

Als zweites Beispiel für die Irrungen und Wirrungen feministischer Theorie geht die Referentin auf die US-amerikanische Performancekünstlerin Vanessa Beecroft ein, die 1998 im Guggenheim-Museum in New York mit einer ihrer Performances zum Shooting-Star des arrivierten Kunstbetriebs wurde. Sie weise mit ihren Inszenierungen von Models in modeaffiner Ausstattung und viel nackter Haut eine große Nähe zum Kommerz auf. Dies werde zwar theoretisch als Kritik angeblicher Schönheitsideale und das Provozieren von Voyeurismus verkauft, doch habe Beecroft mit ihrer Figurenaufstellung vor allem ein Konzept entwickelt, das sich beliebig multiplizieren und je nach Umgebung variieren lasse. Die damit vielseitig wiederverwendbar gewordene Performance erschöpfte sich denn auch in den Variationen dieser Idee.

Friauf betont, daß diese Arbeit vor allem deshalb als Kunst bewertet werde, weil sie in einem Kunstraum stattfindet und das Museum quasi als Namensgeber firmiert. Würden Beecrofts Inszenierungen nicht in diesem Kontext gezeigt, könnte man sie ohne weiteres für Werbeaufnahmen halten, als die sie auch Verwendung finden. Friauf hat nichts dagegen, wenn sich Frauen auf diese Weise zeigen wollten, doch würden die Darstellerinnen in den Performances Beecrofts dafür bezahlt, deren Ideen zu präsentieren. Zudem sei der Unterschied zwischen einem Ausziehen für Beecroft und einem Ausziehen für eine Casting-Show wie Germany's Next Topmodel nur ein gradueller. Während die Veranstalter den kritischen und künstlerischen Anspruch der Arbeiten Beecrofts betonen, bestreitet Friauf schlichtweg, daß es sich bei ihnen überhaupt um Kunst handelt. Heute gebe es fast keinen Widerstand gegen die dort präsentierten Rollenbilder, statt dessen würden sie als besonders erfolgreiche Kunst gefeiert. Um diesem bitteren Resümee ein nach vorne gerichtetes Interesse an Kunst entgegenzustellen, beschließt Heike Friauf den Vortrag mit einem Zitat aus den Lebenserinnerungen des 1927 geborenen Dirigenten und Komponisten Michael Gielen:

"Ich habe immer gemeint und meine noch immer, die Funktion von Kunst sei es, den Menschen die Konflikte ihrer Zeit und ihres Inneren paradigmatisch vorzuführen, und nur das sei die Wahrheit der Kunst. In meinem Alter erkenne ich, daß noch etwas dazukommt, das nicht weniger wichtig ist, daß die Kunst uns vor allem die utopischen, die ersehnten Momente zeigt." [3]
Heike Friauf - Foto: © 2012 by Schattenblick

Jenseits der Genderdebatte Position beziehen
Foto: © 2012 by Schattenblick

Aus gescheiterten Aufbrüchen lernen ...

Anknüpfend an Stimmen aus dem Publikum stellt sich die Frage, wie es nicht nur im Kunstbetrieb, sondern auf breiter gesellschaftlicher Ebene dazu kam, daß emanzipatorische Ideen im Laufe der Zeit in ihr Gegenteil umschlugen. So stellt ein Zuhörer die These zur Diskussion, daß diese Entwicklung schon in der ursprünglichen Konzeption als Ergebnis einer unzureichenden Positionsbestimmung enthalten gewesen sein könnte. In der Linken sei häufig behauptet worden, daß die Klassenfrage der Hauptwiderspruch und die Unterdrückung der Frau ein Nebenwiderspruch sei, was im Klartext bedeutet, daß das feministische Anliegen irrelevant sei. Doch auch die Reihenfolge, zuerst seine persönliche Problematik zu lösen, bevor man die Klassenfrage stellt, gehe der Konfrontation mit dem zentralen gesellschaftlichen Konflikt aus dem Weg. Nicht zuletzt prozessiere das Anliegen eines Unterdrückten, auch Herr zu werden, oder des Armen, auch reich zu werden, die im Kern zu überwindenden Verhältnisse.

Von daher birgt die Warnung der Referentin, daß es im Sinne des feministischen Anliegens unzweckmäßig oder gar kontraproduktiv sei, als Opfer oder Verliererin die Stimme zu erheben, die Gefahr, reale Gewaltverhältnisse nicht mehr auf konsequente Weise anzusprechen. Hier könnte man unterscheiden zwischen einer gesellschaftlichen Zuschreibung, die den einzigen Zweck verfolgt, das unterdrückte Subjekt weiter in Sprachlosigkeit und Handlungsunfähigkeit zu halten, und dem gerade dadurch, daß der Mensch sich in diesem Gewaltverhältnis auf eine Seite stellt, machbar werdenden Anliegen der Befreiung. Es ist kein Zufall, daß die Begriffe "Loser" oder "Verlierer" im sozialchauvinistischen Neoliberalismus als beleidigendes Schimpfwort Verwendung finden, sondern entspricht der Totalität seiner Bezichtigungslogik, der Mensch, der die an ihn gestellten Forderungen nicht "eigenverantwortlich" verwirklicht, sei selbst an seiner sozialen Misere schuld.

Gleichzeitig wird die Kategorie des "Opfers" in einem herrschaftsstrategischen Sinn zur Negation selbstbestimmter Subjektivität eingesetzt. Wer sich als Opfer deklariert, unterwirft sich desto bereitwilliger der damit adressierten Instanz administrativer Zuständigkeit. Sie erfüllt dieses Mandat im rechtstaatlichen oder völkerrechtlichen Kontext etwa dadurch, daß die Rechte von Angeklagten im Strafprozeß mit dem Argument des "Opferschutzes" geschwächt oder daß unter dem Vorwurf des genozidalen Machtmißbrauchs als humanitär ausgewiesene Militärinterventionen durchgeführt werden. Als Opfer anerkannt zu werden kann von Nutzen sein, wenn die dadurch aufgerufene Bringschuld als Tauschwert gegenüber einem karitativen Sozialmanagement fungiert, das wiederum die Legitimation des kapitalistischen Normalbetriebs betreibt.

Da der Verlierer als Schattenriß des Gewinners zu diesem in einem sozialen Verhältnis steht, droht die Frage nach der Wirksamkeit politischer Positionierung mit der Adaption einer herrschaftsförmig bestimmten Identität in sich zusammenzufallen. Sie könnte weiterführen, wenn die schonungslose Analyse der gesellschaftlichen Teilhaberschaft, die ihre Wirkung auch in der Situation der Klassenunterdrückung entfaltet, dazu führte, die erlittene Ohnmacht in eine Streitposition zu verwandeln, die sich jeglicher fremdbestimmter - und damit auch die Kategorien des Kapitalverhältnisses reflektierender - Zuschreibung zugunsten eigener Handlungsfreiheit und Kampfkraft widersetzt.

Hillary Clinton at the 2004 March for Women's Lives - By Becca from Vassalboro, ME, USA (March for Women's Lives) [CC-BY-2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Common

Hillary Clinton, Vorkämpferin für einen waffenstarrenden Feminismus By Becca from Vassalboro, ME, USA (March for Women's Lives) [CC-BY-2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons

Die aufschlußreichen Ausführungen der Referentin zum Einsatz der plastischen Chirurgie in der Kunst ließen sich zu einer Debatte um die Kommodifizierung des menschlichen Körpers in Arbeit, Medizin und Kultur erweitern, die ein eigenes Seminar wert wäre. Die Adaption kulturindustriell produzierter Körperideale durch eine als feministisch geltende Kunst ist ein Paradebeispiel für den Verlust einer Kritikfähigkeit, der der Fetischcharakter kapitalistischer Warenproduktion einst selbstverständlich war. Zu erschließen, wie sehr die Zurichtung des menschlichen Körpers in den verwertungsorientierten Vorgaben der neoliberalen Konkurrenzgesellschaft begründet ist, wie sehr sich der reaktionäre Rückgriff auf ein biologistisches Menschenbild einer sozialeugenischen "Lebenswert"-Ideologie andient und daß auch die geschlechtsspezifische Identitätsbildung als Mittel der Unterwerfung eingesetzt wird, könnte als Ausgangspunkt künstlerischer Produktivität erheblich zur Mobilisierung kritischer Potentiale beitragen. Der von Friauf geschilderte Wandel in Theorie und Praxis feministischer Emanzipationsbestrebungen kann daher als Ausdruck einer Affinität zu den Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung betrachtet werden, der zuvorderst auf den Grund zu gehen wäre.

Fußnoten:
[1] http://www.101intersex.de/de/fs_index_de.htm

[2] http://www.guerrillagirls.com/posters/nakedthroughtheages.shtml

[3] Michael Gielen: Unbedingt Musik. Erinnerungen. Frankfurt am Main 2005

Zur Analyse und Kritik schönheitschirurgischer Zurichtung siehe auch
BERICHT/017: "Die Untoten" - Das zweite Gesicht des Schönheitskultes (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/bildkult/report/bkrb0017.html

Bilder mit Palästinenserinnen im Vortragssaal - Foto: © 2012 by Schattenblick

An der Wand Frauenschicksale aus anderen Kämpfen
Foto: © 2012 by Schattenblick

9. Oktober 2012