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BERICHT/040: Museum, Kunst und Träume - Fadenschein und Pinsel (SB)


Augenweide im Metropolenbeat

MICHAEL RAEDECKER. tour im Sprengel Museum Hannover


Seitliches Profil vor Gemälde - Foto: 2014 by Schattenblick

Michael Raedecker
Foto: © 2014 by Schattenblick

Ein spannendes Feld zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion, zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiver Bildwelt betritt der Besucher einer soeben eröffneten Ausstellung des niederländischen Malers Michael Raedecker. Das Sprengel Museum Hannover bietet mit der bislang größten Werkschau des in London lebenden Künstlers einen Überblick über 20 Jahre eines eigenwilligen Zugangs zur modernen Malerei. Die "tour", so der Titel der vom 9. März bis 15. Juni 2014 dauernden Ausstellung, illustriert die künstlerische Entwicklung Raedeckers anhand seiner wichtigsten, aus aller Welt für diese Präsentation zusammengeführten Werke. Die sprichwörtliche tour d'horizon in den großzügigen Sälen des Sprengel Museums führt darüber hinaus an jene Grenze des auf figurative Elemente und perspektivische Fokussierung orientierten Blicks, an der die semantische Befrachtung des Betrachteten in bloßer Form und Farbe aufzugehen droht.

Was manch einer an Raedeckers Gemälden als minimalistisch, ja spartanisch empfinden mag, erschließt in einer auf die Genres Landschaft, Stilleben und Interieur reduzierten Motivauswahl die eher verborgenen Qualitäten einer Sichtweise, die nahe am originären Quell in geometrischer Struktur und wiedererkennbarer Sachlichkeit ausgeführter Malerei siedelt. Häuser, deren funktionale Schlichtheit vom Prunk bedeutungsschwangerer Architektur entlastet, Kronleuchter, deren Kristalle im stummen Klang ornamentaler Überfülle schwingen, eine Hochzeitstorte, die das Glücksversprechen der Ehe mit süßer Last zu ersticken droht, suggerieren eine Bedeutsamkeit, die im standardisierten Charakter der Objekte zugleich aufgehoben wird.

Kronleuchter in grauer Farbgebung - Foto: Alex Delfanne, © Michael Raedecker

Michael Raedecker, pretence, 2012, Acryl und Faden auf Leinwand, The Mario Testino Collection
Foto: Alex Delfanne, © Michael Raedecker

Wie Michael Raedecker beim Gang durch die Ausstellung erklärt, bezieht er seine Inspiration bei der Wahl der Motive nicht zuletzt aus Katalogen, in denen der immer gleiche Gegenstand in zahllosen Variationen angeboten wird. Dies gilt auch für die von ihm verwendeten Häuser, so der Künstler unter Verweis auf entsprechende Angebote für künftige Eigenheimbesitzer. Der Eindruck, es dabei mit einer industriell vervielfältigten Gegenständlichkeit zu tun zu haben, täuscht also nicht. Die Normalität einer Produktionsweise, die den Komfort menschlicher Lebenswelten mit ganz profanen Dingen von alltäglichem Gebrauchswert sichert, wird in den Bildwelten Raedeckers in monochromatische Landschaften eingebettet, aus denen irreguläre, die Linien perspektivischer Tiefe durchbrechende Strukturen von archaischer Kraft emporwuchern.

Raedeckers spezifische Herangehensweise, den Vorgang des Malens mit geradezu eruptiver Kreativität in kurzer Zeit zu bewältigen, um sich dann mit Nadel und Faden niederzulassen und die zweidimensionale Oberfläche der Leinwand mit Stickereien in einem viele Tage andauernden Schaffensprozeß räumlich zu erweitern, ist dem Endergebnis gut abzuspüren. Der Blick aus kurzer Distanz eröffnet dem Betrachter eine vielgestaltige Oberfläche, deren morphologische Zerklüftung einen fast synästhetischen Zugang aus haptischer und visueller Wahrnehmung eröffnet. Die Struktur im Mikrokosmos des Bildausschnitts, die Farbgebung und Leuchtkraft des textilen Materials, bilden so eine inverse Ebene der Betrachtung, die den großzügigen räumlichen Entwurf und die Geometrie der Bildperspektive mit der Vielfalt organischen Wachstums auf höchst reizvolle Weise konterkariert. Dabei nimmt das verwendete Material mitunter - wie im Fall einer aus Fäden gewebten Wäscheleine - die Funktionalität des Dargestellten an, während es ansonsten als strukturgebendes Element das für Raedeckers Bilder spezifische Oberflächenprofil hervorbringt.

Am Tisch in der Pressekonferenz - Foto: © 2014 by Schattenblick

Reinhard Spieler, Michael Raedecker
Foto: © 2014 by Schattenblick

Vor der Ausstellung im Sprengel-Museum wurde der Künstler in Ludwigshafen gezeigt. Beide Schauen wurden von dem Kunsthistoriker Dr. Reinhard Spieler kuratiert. Er zog sozusagen mit diesem Thema vom Wilhelm-Hack-Museum, als dessen Direktor er fungierte, nach Hannover, wo er seit Februar 2014 dem Sprengel-Museum vorsteht. Auch wenn Michael Raedecker in der Bundesrepublik noch nicht zu den bekannten Namen zeitgenössischer Malerei zählt, so ist er in den kunstsinnigen Kreisen der englischsprachigen Welt spätestens seit seiner Nominierung für den renommierten Turner-Preis im Jahr 2000 ein Begriff. Vertreten von so bekannten Galerien wie Hauser & Wirth, Max Hetzler und Andrea Rosen und versehen mit einer eindrucksvollen Liste von Einzel- und Gruppenausstellungen, bedarf der an der Rijksakademie van Beeldenden Kunsten in Amsterdam und am Goldsmiths College in London ausgebildete Künstler keiner besonderen Empfehlung, um auch hierzulande mit seinen Werken zu beeindrucken.

Auf einer Führung im Vorfeld der Ausstellung konnten Pressevertreter interessante Details über die Arbeitsweise des Künstlers in Erfahrung bringen. So läßt sich der ursprünglich als Modedesigner ausgebildete Raedecker gerne von Musik inspirieren, ja er arbeitet, etwa beim Aufschneiden und Wiederaneinanderfügen der Leinwand, ganz ähnlich wie ein Musiker, der im Sampling und im Remix vertrautes Material rekombiniert und daraus etwas genuin Neues schafft. Die Wiederholung eines Motivs wie in den Endlosloops des House, Trance und Dub-Reggae tritt insbesondere in den vertikalen Trennlinien zusammengefügter Leinwandstreifen hervor, in denen bisweilen abrupt abbrechende, die Dynamik gegenläufiger Beats simulierende Hausfassaden vor durch rudimentäre Linienführung evozierten Landschaften die Spannung unvollständiger und dadurch vorwärtstreibender Formen erzeugen. Als klassischere musikalische Äquivalente zur Potentialität des Werdenden in dieser Malerei wäre auch an die urwüchsige Energie der Sheets of sound eines John Coltrane oder die in kaum merkbaren Modifikationen fast statisch erscheinenden Wandlungen in der Minimal Music eines Terry Riley zu denken.

Bild in grüner Farbgebung mit Häusern und Landschaft - Foto: FXP Photography, London; © Michael Raedecker

Michael Raedecker, repeat, 2011, Acryl und Faden auf Leinwand, Caldic Collectie, Wassenaar (The Netherlands)
Foto: FXP Photography, London; © Michael Raedecker

Erklärtermaßen ein Perfektionist im Anspruch an die Ausführung seiner Arbeit durchbricht der Künstler die von ihm selbst erkannte Gefahr, in der vollendeten Form keinen Raum mehr für die Imagination des Betrachters zu lassen und damit langweilig zu werden, durch gezielte Destruktionen wie das Durchlöchern der Leinwand oder deren Aufschneiden. Raedecker ist fasziniert vom Atmosphärischen in der Kunst, dem etwa das Haus als Metapher eines Äußeren dient, das ein spekulatives Inneres postuliert. Ob der Blick an der zugezogenen Gardine bricht oder ein helles Portal zur Frage anregt, woher seine Leuchtkraft stammt, der Betrachter wird gezielt in Unwissenheit gelassen, um, wie Raedecker sagt, eine Atmosphäre des Enthüllens und Verbergens zur gleichen Zeit zu schaffen. Am Ende wird nichts enthüllt, und man wird mit den Spekulationen über die düsteren Machenschaften hinter den allzu heilen Fassaden Suburbias auf die eigenen Mutmaßungen zurückgeworfen.

Raedecker gesteht ein, als mit dem Fernsehen aufgewachsener Europäer von der kulturellen Signifikanz der Filmgeschichte durchdrungen zu sein, was zu der Frage Anlaß gibt, wie sich ein über einen längeren Handlungsverlauf gestrecktes Geschehen im Film auf ein im Strom der Zeit fixiertes Bild übersetzen läßt. In den lesenswerten, die Textur der Bildwelten Raedeckers sprachlich-analytisch hochauflösenden Beiträgen des Ausstellungskatalogs von Jörg Heiser und Astrid Ihle wird die Frage nach den Narrativen aufgeworfen, die Raedeckers Bilder transportieren mögen oder auch nicht. Was die Kommunikation über Kunst erleichtert, erscheint insofern nachrangig, als die Sprache dieser Malerei auch ohne den Rückschluß auf das Imaginäre kultureller Imprints unmittelbar verständlich ist. Sie erschließt sich in der Aura der zwischen Figuration und Abstraktion je nach subjektiver Intention und Kognition frei changierenden Originalität dieser Kunstwerke auch dem kunstgeschichtlich nicht vorgebildeten Betracher.

Haus mit Baumreihe und hell abgesetztem Portal in blauer Landschaft - Foto: Peter Cox, © Michael Raedecker

Michael Raedecker, ins and outs, 2000, Acryl und Faden auf Leinwand, G. Steinmeijer
Foto: Peter Cox, © Michael Raedecker

Dabei steht Raedeckers Malerei, wie Dr. Spieler einleitend erklärt, unter dem Leitmotiv, daß Kunst sei, was Kunst auf keinen Fall sein sollte. Das zu tun, was die Konvention verbietet, und sei es unter Anwendung von Konventionen, entspreche dem Wandel künstlerischer Gestaltung durch die Generationen, die sich von ihren Vorläufern ebenso inspirieren lassen wie sie versuchen, dem erreichten Stand und seiner langen Vorgeschichte etwas Neues abzugewinnen.

Hier stellt sich die Frage nach dem gesellschaftlichen Bezug einer Kunst, die ihr im Falle Raedeckers konzeptionell und kontextuell immanent bleiben will. Daß dies nur bedingt gelingen kann, zeigt schon die Verwendung bildgebender Motive, die etwa im Fall normgerechter Haustypen auf die industrielle Produktionsweise gebauter Umwelt verweisen. Das Bemühen um eine inhaltlich nicht fixierte Bildgebung, die Form und Farbe auch unterhalb der Schwelle vollständiger Abstraktion die Freiheit vielfältiger Deutbarkeit verleiht, verbleibt stets in den sozialen und kulturellen Bezügen ihrer Zeit. So läßt die Abwesenheit menschlicher Körper und Gesichter in den Bildern Raedeckers an das aktuelle post- bis antihumanistische Credo der Bildenden Kunst denken, das etwa auf der dOCUMENTA (13) von der künstlerischen Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev programmatisch vorgegeben wurde [1].

Was zum einen den anthroprozentrischen Blick auf die Lebenswelten nichtmenschlicher Tiere und biologischer Organismen erweitert, läuft zum andern Gefahr, die drängenden Widersprüche und Konflikte kapitalistischer Vergesellschaftung so sehr aus den Augen zu verlieren, daß eine solche Kunst jegliche emanzipatorische Relevanz einbüßte. Als bloßes Faszinosum ästhetischer und imaginativer Art überantwortete sie sich dem instrumentellen Charakter eines kulturindustriellen Tauschwerts, der nur mehr beschwichtigt, was als Momentum herausragender künstlerischer Errungenschaften maßgeblich zur Erkenntnis und Überwindung zwingender und fesselnder Bedingungen beiträgt.

Blick vom Boden einer Ecke eines Ausstellungssaals auf zwei Wände mit Bildern - Foto: 2014 by Schattenblick; © Michael Raedecker

Viel Platz für Kunst
Foto: 2014 by Schattenblick; © Michael Raedecker

MICHAEL RAEDECKER. tour
09. März 2014 - 15. Juni 2014
Sprengel Museum Hannover,
Kurt-Schwitters-Platz, 30169 Hannover
http://www.sprengel-museum.de/


Fußnote:

[1] BERICHT/030: Fluchträume und Grenzen - dOCUMENTA (13) (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/kunst/report/kurb0030.html

13. März 2014