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BERICHT/060: Ausstellung zur Künstlervereinigung DIE KUGEL - reich mir die Hand ... (SB)



Dämmern einer neuen Menschheit. Magdeburger Ausstellung zur spätexpressionistischen Künstlervereinigung DIE KUGEL. Avantgarde in Mitteldeutschland um 1920

von Christiane Baumann, Februar 2018



Plakat zur Ausstellung - Grafik: © 2018 by DIE KUGEL

Grafik: © 2018 by DIE KUGEL

Der Name Kurt Pinthus ist Literaturinteressierten ein Begriff. Pinthus schrieb sich mit der weltberühmt gewordenen Anthologie Menschheitsdämmerung (1919), einem "Dokument des Expressionismus", in die Literaturgeschichte ein. Was kaum bekannt ist: Pinthus leistete von 1915 bis 1918 in Magdeburg seinen Militärdienst ab und war 1916, während der Erste Weltkrieg tobte, Initiator der ersten Ausstellung expressionistischer Kunst in der Elbestadt. Er hatte gute Verbindungen zu Gründungsmitgliedern der Magdeburger Künstlervereinigung DIE KUGEL, u.a. zu den Malern und Grafikern Bruno Beye und Franz Jan Bartels, und publizierte 1919 in deren gleichnamiger Zeitschrift "für neue Kunst und Dichtung", von der allerdings nur zwei Hefte erschienen. In der ersten Ausgabe der Zeitschrift lieferte Pinthus in seinem Beitrag Expressionismus in bildender Kunst, der die Ausstellung 1916 eröffnet hatte, eine Charakteristik expressionistischer Kunstauffassung. Sie habe "das edle Bestreben, das Wesen tieferer Wirklichkeit und stärkerer Leidenschaft aus uns zu schleudern, unsere innere Wirklichkeit mit allen uns möglichen und gemäßen Ausdrucksmitteln einander sichtbar zu machen, eine durch des Geistes Bohrkraft, Beweglichkeit, Klärungssehnsucht besiegte und bewältigte Welt explosiv neu zu gebären und nach unserm Willen zu möglichster Vollkommenheit zu formen."(1) Aufbruch, Aufruhr und Protest eigneten dieser Kunst, deren Gesellschaftskritik sich in einem Auf-Schrei, in einer entfesselten Sprache wie Bilder-Sprache, Bahn brach. Johannes R. Bechers Gedicht Ewig im Aufruhr! legte davon ein beredtes Zeugnis ab und ahnte bereits gesellschaftliche Veränderung, wenn es hieß: "Nicht mehr den Reichen nur / Schenkt sich die Welt."(2) Dieses Gedicht wurde in der Anthologie Menschheitsdämmerung und wenig später im zweiten Heft der Magdeburger KUGEL abgedruckt. Dass es sich keineswegs um eine homogene Kunstrichtung, sondern um eine widerspruchsvolle und facettenreiche Bewegung handelte, die gegen die "entartete Gesellschaftsordnung"(3) rebellierte und sich zwischen Weltuntergangsszenarien und utopischem Anspruch auf Weltverbesserung bewegte, zeigt einmal mehr die Ausstellung Bruno Beye - Max Dungert - Günther Vogler und die Künstler der Magdeburger Kugel. Avantgarde in Mitteldeutschland um 1920, die noch bis Ende März im Literaturhaus Magdeburg zu sehen ist.

Anfang 1919 sammelten sich in Magdeburg, noch ganz unter dem Eindruck der Schrecken des Ersten Weltkriegs und der Novemberrevolution in Deutschland, bildende Künstler, Schriftsteller und Musiker in der Künstlervereinigung DIE KUGEL. Geboren aus dem "Martyrium" der Zeit hofften sie auf "die Erweckung einer neuen Menschheit"(4). Ihr weltanschauliches Spektrum reichte von bürgerlich-humanistisch bis radikal-kommunistisch. Was Pinthus unter dem Titel Menschheitsdämmerung zusammenfasste, spiegelte sich im Manifest der KUGEL vom 1. März 1919 in den Leitbegriffen "Freie Kunst - Freie Geister - Freie Menschheit"(5) wider. Zu den Unterzeichnern gehörten neben Bruno Beye und Franz Jan Bartels, der Maler und Grafiker Alfred John, der Bildhauer Rudolf Wewerka und der Autor Robert Seitz, der auch als Schriftleiter der Zeitschrift fungierte. Andere Künstler schlossen sich an, so die Maler und Grafiker Max Dungert und Günther Vogler oder Erich Weinert, der sich im Sommer 1919 in der ersten Ausstellung der KUGEL als bildender Künstler präsentierte und in der Zeitschrift mit Gedichten sein literarisches Debüt gab. Auf Beye, Dungert und Vogler liegt der Schwerpunkt der Ausstellung, die inhaltlich an die 1993 im Magdeburger Kloster Unser Lieben Frauen gezeigte Exposition zur KUGEL anschließt. Insbesondere den intensiven Nachforschungen des Wittenberger Sammlers Gerd Gruber ist es zu danken, dass seitdem biographische Lücken geschlossen und bislang wenig untersetzten Verbindungen zu anderen Künstlervereinigungen der Zeit neue Aspekte hinzugefügt werden konnten. Zu Dungert und Vogler liegen nunmehr im informativen und materialreichen Ausstellungskatalog ausführliche Biographien vor.

Die Ausstellung, die zahlreiche Graphiken und Dokumente der Sammlung Gruber präsentiert und insbesondere mit Materialien aus dem Archiv des Literaturhauses verknüpft, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen machen die Exponate das Zusammenwirken der Künste in Ausstellungen, literarischen Veranstaltungen und Konzerten der Magdeburger KUGEL sichtbar. Erich Weinert ist nicht nur mit ungewöhnlichen Zeichnungen (u.a. "Instruktion in der Exerzierhalle") vertreten, sondern auch als KUGEL-Rezitator, der im Juni 1919 einen Vortragsabend mit Werken u.a. von Friedrich Hebbel, Peter Hille, Richard Dehmel und Friedrich Nietzsche bestritt. 1920 lud er mit einem Holzschnitt zur "intimen Vorlesung" in Max Dungerts Atelier, in der er auch eigene Lyrik präsentierte. In der Magdeburger "Monatskampfschrift" Wir aber, die es nur zu einer Ausgabe brachte und die ebenfalls KUGEL-Künstler initiierten, kamen Musikstücke zum Abdruck, warb der Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt für die neue Musik von Bartok bis Schönberg, die parallel in "Expressionisten"-Konzerten propagiert wurde. Zum anderen zeugt die Ausstellung von der nationalen Bedeutung und überregionalen Bezügen der Künstlervereinigung KUGEL. Da sind zunächst die Kontakte zur Berliner Novembergruppe zu nennen, mit der viele KUGEL-Künstler verbunden waren, insbesondere Beye und Dungert. Die "Bresche" schlug die Novemberrevolution, wie der KUGEL-Künstler Gerhard Kahlo 1968 rückblickend schrieb. Aber auch nach Halle, Karlsruhe oder Düsseldorf zu Mutter Ey und deren Künstlern liefen die Fäden. An den vier Ausstellungen der KUGEL (1919, 1921, 1922, 1923) beteiligten sich als Gäste unter anderem Otto Dix und Walter Gropius. Nicht zu vergessen die Impulse, die von der von Franz Pfemfert 1911 begründeten expressionistischen Zeitschrift Die Aktion ausgingen, die während des Ersten Weltkriegs für einen entschiedenen Pazifismus stand. Für die Magdeburger KUGEL lieferte sie das Vorbild. Bruno Beye veröffentlichte in Pfemferts Zeitschrift zwischen 1916 und 1921 zwölf Holzschnitte. Sein Triumph des Todes I erschien 1919 auf der Titelseite des Blattes. Die Schönebecker Künstlerin Katharina Heise, ebenfalls ein KUGEL-Mitglied, wurde 1918 sogar mit einem Sonderheft der Aktion geehrt.

Die expressionistische Bewegung, und damit auch die Magdeburger KUGEL, zerfiel nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sehr schnell. Pinthus Menschheitsdämmerung war 1919 ein "abschließendes Dokument dieser Epoche"(6). Im Ergebnis der Oktoberrevolution nahm eine neue Gesellschaftsordnung konkrete Gestalt an. Das utopische Pathos der Expressionisten hatte sich überlebt. Die Künstler der Bewegung nahmen zum Teil sehr unterschiedliche Wege. Beye und Dungert, die Magdeburg 1921 verließen und nach Berlin gingen, schlossen sich der KPD an. Weinert, der im gleichen Jahr seine Schritte nach Leipzig lenkte, gehörte 1928 zu den Gründern des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller und trat 1929 der KPD bei. Vogler wurde Mitte der 1920er Jahre Mitglied der Vereinigung der Frontkämpfer Stahlhelm, engagierte sich aber in den 1930er Jahren im antifaschistischen Widerstand. Die Magdeburger Ausstellung deutet diese biographischen Entwicklungen an. Gezeigt werden Beyes hellsichtige Graphiken der 1930er Jahre. Hinter der "Nazilarve" erscheint der Totenkopf, im Hintergrund werden Menschen gefoltert und gepeinigt ("Was hinter der Nazilarve steckt", 1932).

Die Ausstellung im Literaturhaus schlägt in vielfältiger Hinsicht den Bogen zur Gegenwart. So werden die seit den 1970er Jahren nachweisbaren Bemühungen des Magdeburger Autors Heinz Kruschel (1929-2011) um die Wiederentdeckung der KUGEL-Künstler dokumentiert, vor allem um Max Dungert und Bruno Beye. Immer wieder wird deutlich, welche nachhaltigen Impulse von der Kunstgewerbe- und Handwerkerschule Magdeburg ausgingen, die 1793 als Zeichenschule ihren Anfang nahm und deren Wirken 1963 in der DDR mit der politisch motivierten Schließung abrupt beendet wurde. Beye, Dungert, Vogler, Bartels, John und Weinert, Initiatoren und Mitglieder der KUGEL, studierten an dieser Schule, an deren historischem Ort sich seit 2005 mit dem Forum Gestaltung wieder eine Kunst- und Kulturstätte etabliert hat, die zu Lesungen, Konzerten, Ausstellungen, zu Meinung und Debatte einlädt sowie an die Geschichte der Kunstschule erinnert.

Nicht zuletzt zeigt die Ausstellung die Auswirkungen von Krieg und Nationalsozialismus im Leben und Werk der Künstler Beye, Dungert und Vogler. Als "entartete Kunst" von den Nazis diffamiert und aus Galerien und Museen entfernt, werden große Teile ihres Werkes 1945 im Bombenhagel vernichtet. Dungert wird in den letzten Kriegstagen mit einem ranghohen Nazi verwechselt und von russischen Soldaten erschossen. Vogler kommt 1944 nach einer Denunziation aufgrund antifaschistischer Äußerungen in Haft, muss in einer "Bewährungskompanie" Dienst tun und erleidet 1945 in den Kämpfen um Berlin eine schwere Verwundung, die zum Tod führt.

100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs erinnert die Magdeburger Ausstellung an ein utopisches Denken, das von der Sehnsucht und vom Glauben an eine bessere Menschheit beseelt war und mahnt, diese Sehnsucht wachzuhalten.


Die Ausstellung im Literaturhaus Magdeburg ist bis zum 30. März 2018 montags bis freitags von 10-12 Uhr sowie von 14-16 Uhr zu besichtigen.


Zur Ausstellung erschien der Katalog:

DIE KUGEL.
Bruno Beye - Max Dungert - Günther Vogler und die Künstler der Magdeburger Kugel.
Avantgarde in Mitteldeutschland um 1920.
Hg. v. der Cranach-Stiftung Wittenberg und dem Literaturhaus Magdeburg.
Lutherstadt Wittenberg 2017.
67 Seiten
10,00 Euro
ISBN: 978-3-00-057466-5


Anmerkungen:

(1) Pinthus, Kurt: Expressionismus in bildender Kunst. In: DIE KUGEL. Zeitschrift für neue Kunst und Dichtung. 1 (1919) Nr. 1 (Mai 1919), S. 7.
(2) Becher, Johannes R.: Ewig im Aufruhr! In: DIE KUGEL. Zeitschrift für neue Kunst und Dichtung. 2 (1920) H. 2 (Januar/Februar 1920), S. 1.
(3) Pinthus, Kurt (Hg.): Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Einleitung von Werner Mittenzwei. Leipzig 1986, S. 39.
(4) DIE KUGEL. Zeitschrift für neue Kunst und Dichtung. 1 (1919) Nr. 1 (Mai 1919), S. 1.
(5) Die Kugel" - eine Künstlervereinigung der 20er Jahre. Spätexpressionistische Kunst in Magdeburg. Ausstellung vom 22.10.1993 bis 16.1.1994, Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg. Hg. v. Matthias Puhle. Magdeburg 1993, S. 7.
(6) Pinthus, Kurt (Hg.): Menschheitsdämmerung. A.a.O., S. 43.

18. Februar 2018


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