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BERICHT/063: MS Artville - Kunstanimierte Protestbereitschaft ... (SB)


Lebensecht wirkende Gestalt eines Jungen vor dunklem Hintergrund - Foto: © 2019 by Schattenblick

Wenn Kunstwerke mit ihrer Umgebung verschmelzen - plötzlicher Blickkontakt beim Spaziergang über das MS-Artville-Festivalgelände
Foto: © 2019 by Schattenblick

In Zeiten von zunehmendem Populismus und gleichzeitiger Erosion politischer Inhalte, gewinnt Kunst als kritisch reflektierender Gesellschaftsspiegel zunehmend an Bedeutung. Klassische Demonstrationen und Transparente, die Jahrzehntelang Ausdruck schlechthin des politischen Protests waren, haben ausgedient und erzeugen weder mediale Aufmerksamkeit noch scheinen die komplexen Inhalte noch transportieren zu können. Neue kreative Formen des Protests sind gefragt, neue ProtagonistInnen an der Schnittstelle von Kunst, Aktivismus und Medienwirksamkeit erobern die Protestlandschaft. In den letzten Jahren hat sich dabei ein neues Genre von kreativem Aktivismus als Hybrid aus Kunst und Protest entwickelt, das inhaltliche Kritik und Aktionskunst verbindet und gleichzeitig medienwirksam vermittelt. Dabei werden durch Kunst bewusst und ganz gezielt bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen und soziale Ungleichgewichte innerhalb der Gesellschaft thematisiert und öffentlich zur Diskussion gestellt.
umdenken Heinrich-Böll-Stiftung Hamburg e.V., Veranstalterin des Symposiums des MS Artville-Festivals am 20./21. Juli 2019 [1]

Gleißende Sonne, stehende Luft, verdörrtes Gras, trocken-staubiger Boden. Schlagworte, die an Dürregebiete irgendwo auf dem Planeten denken lassen und doch einen Normalzustand skizzieren, wie er sich inmitten der Industriemetropole Hamburg in ihrer eigentlich gemäßigten Klimazone feststellen läßt. So gesehen in den frühen Nachmittagsstunden des 20. Juli 2019 auf dem MS-Artville-Gelände in Hamburg-Wilhelmsburg, einem zu einer Open-Air-Kunststätte umfunktionierten ehemaligen Industriegelände, auf dem in diesem Jahr schon zum 12. Mal ein Festivalsommer veranstaltet wird. [2]

Gleich im Eingangsbereich werden die Besucherinnen und Besucher von einem Riesenmaulwurf empfangen, einer Tierskulptur des portugiesischen Künstlers Bordalo II. Da Maulwürfe bei zunehmender Trockenheit vermehrt an die Oberfläche kommen, ist das aus Plastikmüll, Autoteilen und ausgemusterten Mülltonnen auf einem Holzgerüst konstruierte Werk als Mahnmal gegen die katastrophalen Auswirkungen von Klimaveränderungen und Vermüllung konzipiert.


Ein aus Plastikmüll gefertigter bunter Riesenmaulwurf - Foto: © 2019 by Schattenblick

Riesenmaulwurf des portugiesischen Street-Art-Künstlers Bordalo II im Eingangsbereich des Festivalgeländes
Foto: © 2019 by Schattenblick

Die spürbaren Auswirkungen einer Klimakatastrophe, die nicht erst morgen zu befürchten, sondern als längst wirksame Realität kaum noch zu verleugnen ist, veranlassen viele zumeist junge Menschen, mit Nachdruck Fragen nach der ihnen geraubten Zukunft zu stellen und von den Regierenden eine echte Zäsur in der Klima-, aber auch Sozialpolitik zu verlangen. Angesichts der sinkenden, wenn nicht verlorengegangenen Bereitschaft, sich durch Versprechungen und Lösungsperspektiven noch länger hinhalten zu lassen, steigt das Interesse an Protest- und Widerstandsformen und der Frage nach ihrer Effizienz.

Politische Demonstrationen, traditionelle Aufmärsche und Kundgebungen werden von vielen Menschen als nicht mehr zeitgemäß empfunden - nur zu verständlich, sobald ihre Wirksamkeit zum Maßstab erhoben wird. Ob die von seiten der Veranstaltenden getroffene Feststellung, Kunst würde "als kritisch reflektierender Gesellschaftsspiegel" demgegenüber an Bedeutung gewinnen, die vermißte Effizienz tatsächlich erbringen kann, ist eine der vielen Fragen, die während des Richtfests auf dem Symposium in einer Podiumsdiskussion unter Beteiligung namhafter internationaler und nationaler Künstlerinnen und Künstler hätte diskutiert werden können.


Im Hintergrund Industrieanlagen, im Vordergrund sandiger Boden - Foto: © 2019 by Schattenblick

Blick aufs MS-Artville-Festivalgelände kurz vor Beginn des Richtfests
Foto: © 2019 by Schattenblick

"Zukunft ist machbar - aber wie beeinflussen wir sie, heute und morgen?" lautet das Motto, unter das das diesjährige MS-Artville-Festival gestellt wurde. Aus Gründen, die sich dem Zugriff der Veranstaltenden und aller sonstigen Beteiligten und interessierten Gäste entzogen, konnte die mit Mitwirkung des Publikums geplante Diskussion über "Möglichkeiten, Grenzen und Wirkweisen neuer kreativer Protestformen" nicht realisiert werden. Nach den ersten drei Referaten (von Anne Wizorek, Penelope Kemekenidou und Vermibus [3]) hatte eine heranziehende Gewitterfront aus Sicherheitsgründen den Abbruch der gesamten Veranstaltung erzwungen.

Vorgesehen waren Auftritte bekannter Gruppen, die sich "an der Schnittstelle von Kunst, Aktivismus und Medienwirksamkeit" längst einen Namen gemacht haben, wie beispielsweise das "Zentrum für politische Schönheit" (ZPS) oder das Kollektiv "Peng!". Das ZPS versteht sich nach eigenen Angaben als "eine Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinnheit". Auf ihrer Webseite heißt es:

Wir arbeiten an der Zukunft des politischen Widerstands im 21. Jahrhundert ("aggressiver Humanismus"), setzen auf Menschlichkeit als Waffe und experimentieren mit den Gesetzen der Wirklichkeit. Widerstand ist eine Kunst, die weh tun, reizen und verstören muss. Wir drängen in eine Leerstelle, die jahrzehntelang von öffentlichen Intellektuellen besetzt wurde: das moralische Gewissen. [4]

In Öffentlichkeit und Medien eine Resonanz erzeugt zu haben, läßt sich dem Zentrum für politische Schönheit nicht absprechen. Tatsächlich gehen ihre Aktionen vielen Menschen "an die Nieren" in dem Versuch der Aktivisten, die vorherrschende Gleichgültigkeit und politische Lethargie, und sei es punktuell, aufzubrechen. So geschehen, um nur ein Beispiel zu nennen, mit der "Beerdigung einer ertrunkenen Mutter in Europas politischer Hauptstadt". [4]

Aus Sicht des Bundesinnenministeriums tragen die Aktionen des ZPS dazu bei, "eine Polarisierung der politischen Debatte voranzutreiben und einer Spaltung der Gesellschaft Vorschub zu leisten". Träfe dies zu, könnte sich die selbsternannte humanitäre Sturmtruppe diese ministerielle Einschätzung als positive Bestätigung ihres Protests ans Revers heften, stellt doch der Vorwurf, einer gesellschaftlichen Spaltung zuzuarbeiten, ein Totschlagargument gegen jedweden Protest dar, der ja, gerade weil er die herrschende Front gesellschaftlich dominierender Kräfte und Interessen als gegen sich gerichtet bewertet, nach Wegen und Mitteln sucht, um sich aus einer Position der Schwäche heraus Gehör und Durchsetzungskraft zu verschaffen.

Auf dem Festivalgelände machte die bekannte Street-Art- und Aktionskünstlerin Barbara. ihr künstlerisch-politisches Anliegen deutlich: "Mir ist schon klar, dass ich die Welt nicht retten kann, aber ich möchte es trotzdem versuchen."


Barbara.s Satz in weißer Schrift auf schwarzer Plakatwand, dahinter Industrieanlagen - Foto: © 2019 by Schattenblick

Botschaft der Street-Art-Künstlerin Barbara. auf dem MS-Artville-Festival 2019
Foto: © 2019 by Schattenblick

Ausgefallen ist im "Symposium zu neuen Formen und (digitalen) Räumen des Protests" beim Richtfest des MS Artville auch der Auftritt des Kollektivs "Peng!", einer Gruppe von Künstlern, Aktivisten, Handwerkenden und WissenschaftlerInnen in Berlin, die mit ihren spektakulären Aktionen schon vielfach für Furore gesorgt haben. Der Verein Peng! hat nach eigenen Angaben eine "subversive Aktionskunst" entwickelt mit dem Ziel, die Zivilgesellschaft zu Protesten zu ermutigen und wurde dafür 2018 mit dem Aachener Friedenspreis geehrt.

Ungeachtet des durch den gewitterbedingten Abbruch unvollendet gebliebenen Richtfests stehen die aufgeworfenen Fragen und präsentierten Ansätze zum Thema "The Art of Protest" im Vordergrund des Festivals in der Wilhelmsburger Open-Air-Galerie, das noch bis zum 10. August andauern wird. Zu sehen sind Skulpturen, Installationen und Malereien nationaler wie internationaler Kunstschaffender, ein Teil der präsentierten Werke stammt aus den Festivals der vergangenen Jahre. Den Interessierten wird ein wechselndes Programm mit Workshops und Spaziergängen geboten.

Welche Antworten die beteiligten Protestkünstlerinnen und -künstler auf die zentrale Frage, wie "wir morgen leben wollen", gefunden haben, können Besucher beim "Kunstgucken" jeweils sonntags, dienstags und mittwochs zwischen 14 und 22 Uhr in Erfahrung bringen. Die Open-Air-Galerie steht dann allen Besucherinnen und Besuchern offen, geboten werden bei freiem Eintritt stündliche Führungen, Musik und sonstige Darbietungen.


Hölzerner Stand zum Schildermalen - Foto: © 2019 by Schattenblick

Einstieg in die Protestkunst für kleine und große Interessierte - Schildermalen bei "Fridays for Future"
Foto: © 2019 by Schattenblick

Die Aufbauarbeiten zum diesjährigen Festival haben drei bis vier Wochen in Anspruch genommen. In dieser Zeit lebten und arbeiteten die beteiligten Künstlerinnen und Künstler bereits auf dem Gelände. Ihre Werke sind hier entstanden und wurden aus Müll, der in der Umgebung aus Abfalltonnen geholt oder im Hafen eingesammelt wurde, gefertigt. Nicht von ungefähr wurden Gäste und an der Frage nach Protestkunst interessierte Besucherinnen und Besucher auf dem weitläufigen Gelände von der Atmosphäre einer Künstlerkommune empfangen.

Das Zusammenleben unter freiem Himmel, ein bißchen freie Natur und die vermeintliche Ferne zu den tatsächlich nah gelegenen Stätten industrialisierter Produktion, eines hochtechnisierten Warenumschlags, Massenverkehrs und großstädtischen Lebens wies doch genug Substanz auf, um Erinnerungen wachzurufen an die Utopie selbstbestimmten Lebens, wie sie gerade unter Menschen, die sich den Protestbewegungen vergangener und mehr noch zukünftiger Tage verbunden fühlen, keineswegs vergessen sind.


Bäume und Wiesen, Schild mit der Aufschrift 'Respect the Nature' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Schützenswert - jedes bißchen "Natur" inmitten Hamburgs, hier am Rande des Festivalgeländes
Foto: © 2019 by Schattenblick

Eine kleine Bilderauswahl zu der auf dem diesjährigen MS-Artville-Festival präsentierten Protestkunst soll an dieser Stelle einen ersten Eindruck von den vielfältigen Darbietungsformen bieten, die aus Sicht der beteiligten Künstlerinnen und Künstler nicht (in erster Linie) dem ästhetischen Genuß, sondern den politischen Inhalten und Stellungnahmen gewidmet sind.


Im Gedenken an die Widerstandsgruppe "Weiße Rose"

Arkane, ein französischer Künstler, hat im hinteren Bereich des Festivalgeländes ein einer historischen Fotovorlage nachempfundenes Werk geschaffen, das die Mitglieder der "Weißen Rose" Traute Lafrenz und Hans Scholl zeigt. Auf einer gewellten Containerwand ist ein großformatiges Bildnis entstanden, das die Aufmerksamkeit der Besucherinnen und Besucher sogleich auf sich zieht.


Foto: © 2019 by Schattenblick

Traute Lafrenz und Hans Scholl - dargestellt in einer Arbeit des französischen Künstlers Arkane
Foto: © 2019 by Schattenblick


Jono Wots - Impressionen aus Südafrika

Wie einer Info-Tafel nahe der großformatigen Arbeit von Jono Wots zu entnehmen ist, läßt der südafrikanische Street-Art-Künstler und Illustrator "die Grenze zwischen Natur und Kultur und zwischen Welt der Tiere und Welt der Menschen verschwimmen" und stellt die Frage: "Hat der Mensch die Oberhand über die Natur gewonnen und die Klauen des Tigers entwaffnet? Oder schlägt die Natur zurück und die Krallen des Tigers hinterlassen ihre blutigen Kratzspuren?" Die Antwort des Künstlers könnte sinnfälliger nicht sein: "Es liegt ganz im Auge des Betrachters."


Stilisierter Tiger, überwiegend in schwarz-weiß gehalten - Foto: © 2019 by Schattenblick

Arbeit des südafrikanischen Street-Art-Künstlers Jono Wots
Foto: © 2019 by Schattenblick


Eine Hommage an die urbane Rebellionskultur

Der britische Künstler Dave the Chimp will sein Werk als Auf- und Weckruf verstanden wissen. Wer würde dem Titel "The Future is now - so don't wait!" (nicht warten, die Zukunft ist jetzt) schon widersprechen? Handelt es sich bei seiner Arbeit um eine Zeitreisemaschine, wie die auf ihr angebrachten Sätze "What do we want? Time Travel" und "When do we want it? Irrelevant" vermuten lassen könnten? Eine Hinweistafel klärt darüber auf, daß Dave the Chimp von den ersten Anfängen an bei Street Art und Skateboardfahren dabei war - zwei wichtigen Bestandteilen einer urbanen Rebellionskultur, die "niemals aufhört ihre Meinung zu sagen."


Gebäude - eine Zeitmaschine? - mit Schriftzügen - Foto: © 2019 by Schattenblick

Zeitreise?! Weckruf des britischen Künstlers Dave the Chimp
Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] https://calendar.boell.de/de/event/das-symposium-des-ms-artville

[2] Zu den diesjährigen Sommerveranstaltungen gehören neben dem MS Artville das Elektronik-Festival Vogelball, das Beatkultur-Festival Spektrum und der Poetry-Slam-Abend Slamville.

[3] Über die Vorträge der drei Genannten wird der Schattenblick die Berichterstattung über das MS-Artville-Festival 2019 fortsetzen.

[4] https://politicalbeauty.de/


23. Juli 2019


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