Schattenblick →INFOPOOL →KUNST → REPORT

INTERVIEW/009: Gefesselte Kunst - Dan Baron zu Sprachen der Kunst im pädagogischen Dialog (SB)


Interview mit Dan Baron am 9. Februar 2012 in Berlin



Dan Baron lebt in Brasilien, ist Theaterdirektor, schult Theaterpädagogen am "Institut of Transformance: Culture & Education" in Belem und versteht sich als Kultur-, Sozial- und Umweltaktivist sowie Lobbyist. Er arbeitet eng mit der Gewerkschaft seines Landes sowie mit der "Pedagogy of the Land" in Brasilien, dem "Living Culture Movement" in Lateinamerika und dem "Culture, Education and Communication Secretariat" der brasilianischen Regierung zusammen. Ehemalige Mitgliedschaften: Chair of the World Alliance for Arts Education, Präsident der IDEA (International Drama/Theatre and Education Association), Member of the International Council of the World Social Forum (WSF) sowie Mitglied des UNESCO Scientific Committee for the UNESCO World Conference on Arts Education in 2010.

Im Rahmen der Konferenz "radius of art" war er Moderator des Plenums "The role of art for a global (environ)mental cultural change" und einer der Referenten des Forums "Fostering the transition towards cultures of sustainability - A policy debate". Am Rande der Tagung beantwortete Dan Baron dem Schattenblick einige Fragen.

Dan Baron - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dan Baron
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Was hat Sie seinerzeit dazu veranlaßt, nach Brasilien zu gehen?

Dan Baron: Ich wurde 1995 nach Brasilien eingeladen, aber erst zu Beginn des Jahres 1998 flog ich schließlich hin. Damals war ich Universitätsdozent in Wales und folgte einer Einladung zur Zusammenarbeit zweier Universitäten. Im Rahmen dieser Kooperation sollte ein Theaterstück geschaffen werden, es ging aber darüber hinaus auch darum, einen Erfahrungsaustausch über Community Theatre als Element der Ausbildung zu ermöglichen. Nun hatte ich mich seit 1972 intensiv mit den Werken des brasilianischen Pädagogen Paolo Freire beschäftigt und war sehr interessiert an einer ganzheitlichen - heute würde ich sagen dialogischen - Pädagogik, die auf den Künsten als Sprachformen basiert.

Ich glaube, ich verließ Wales damals mit dem Gefühl, daß ich neue und andere Herausforderungen brauchte und auf der Suche nach ihnen war. Als ich dann nach Brasilien kam, traf ich nicht nur auf Repression, sondern auch auf eine Vielfalt von Erziehungsmethoden, künstlerischer Pädagogik und sozialer Bewegungen, so daß ich den Eindruck gewann, daß dieses Land womöglich über die größten Kapazitäten verfügt, um jenen Teilen der Welt die Menschlichkeit zurückzugeben, die sie verloren haben, und diese Vielfalt im Sinne der Entwicklung eines neuen Paradigmas der Zivilisation verführerisch sein würde. Anfangs erfaßte ich diese reichhaltigen Möglichkeiten gleichsam intuitiv, aber das reichte aus, meine Universität zu verlassen und nach fünf Monaten in Brasilien die Entscheidung zu treffen, nie wieder an meine alte Wirkungsstätte zurückzukehren.

SB: Was inspirierte Sie am meisten, als Sie nach Brasilien kamen?

DB: Ich fand es sehr interessant, daß volkstümlicher Tanz und volkstümliche Musik die Grundlagen des Erziehungswesens darstellten, das nicht nur eine formale Ausbildung anerkannte, sondern Wissen als etwas auffaßte, das durch Sprach- und künstlerische Kulturen übermittelt wird. Musik und Tanz waren nicht nur bei Festen und Feiern üblich, die geradezu eine eigene Kultur bildeten, sondern wurden gleichzeitig reflexiv und analytisch untersucht, was meinem eigenen Verständnis von Kunst als Künstler sehr viel näher kam. Musik und Tanz sind nicht nur Sprachen des Ausdrucks, sie sind Sprachen der Reflexion und der Übermittlung von Wissen.

SB: Brasilien ist ein Land sehr reicher und sehr armer Menschen. Wie haben Sie diese Extreme erlebt?

DB: Ich war von jemandem nach Brasilien eingeladen worden, der sehr am urbanen Community Theatre interessiert war. Nachdem ich aber ins Flugzeug gestiegen und angekommen war, sah ich Bilder von der Bewegung der Landlosen - den Zeitungstext konnte ich damals noch nicht lesen -, suchte sie wenig später auf und integrierte eine ihrer Siedlungen in unsere Projektarbeit. Es dauerte keine sechs Monate, bis ich dazu eingeladen wurde, zunächst auf staatlicher und dann auch auf internationaler Ebene mit der Landlosenbewegung zu arbeiten. Ich war in der Lage, die Anregung einzubringen, daß Kultur die Grundlage sozialen Wandels und nicht bloß eine attraktive Option darstellt. Von der Landlosenbewegung schritt ich fort zur indigenen Bewegung und von dieser zur Gewerkschaftsbewegung, wobei ich rasch herausfand, daß ich in der Lage war, einen profunden Beitrag zu leisten, der eine Herausforderung bedeutete, aber zugleich auch meine Kenntnisse bestätigte. Demgegenüber verlief das Denken in den Universitäten in viel engeren Bahnen.

SB: Würden Sie sich selbst als Künstler, Aktivist oder als einen politischen Menschen beschreiben?

DB: Bis 2010 war ich Präsident einer weltweiten Vereinigung für Theaterausbildung namens IDEA, deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 120 Ländern kommen und die in mehr als 40 Ländern nationale Verbände besitzt. Bei dieser Tätigkeit konnte ich politische Fähigkeiten in Bereichen wie Mediation, Führung und Organisation entwickeln. Schon zuvor hatte ich derartige Fähigkeiten in den frühen siebziger Jahren durch meine Arbeit in sozialen Bewegungen erworben.

An Engagement für politische Aktivitäten hat es mir also nie gefehlt. Ich war jedoch immer mehr an der Frage interessiert - und das ist vielleicht die pädagogische Dimension -, wie Menschen Demokratie erlernen können und auf welche Weise sich ein neues Paradigma partizipativer Demokratie entwickeln und umsetzen läßt. Ich fühlte mich also immer zur Erziehung hingezogen, wobei es mir stets mehr um Methoden als um Blaupausen ging. Persönlich habe ich immer mit den Sprachen der Kunst im Sinne pädagogischen Dialogs und nicht auf instrumentalisierende Weise gearbeitet. Heute weiß ich, was ich vor ungefähr 25 oder 35 Jahren eher intuitiv erfaßt hatte: Für jeden Aspekt unserer Intelligenz gibt es eine korrespondierende Bildung und Sprache.

Wir haben visuelle, akustische, plastische oder auch kinästhetische Sprachen, die in ihrem Zusammenspiel unser Menschsein bereichern, unser Menschsein geradezu verkörpern. Und sie verfeinern unsere Kreativität und Sensitivität. Ich denke, daß diese integrierte Intelligenz unser Menschsein ausmacht, und wenn man von uns verlangt, sie aufzugeben, oder uns nicht erlaubt, sie auszuleben, werden wir tatsächlich von unserem Menschsein ausgeschlossen, wobei ich nicht denke, daß sich dies auf die herkömmliche Definition von Ausschluß bezieht. Die meisten Leute denken in diesem Zusammenhang lediglich an Ausschluß in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht.

Meines Erachtens wird jedes menschliche Wesen innerhalb des gegenwärtigen Paradigmas der Erziehung, basierend auf Wettbewerb, Logozentrismus und einer bestimmten Art des Rationalismus, eingeschränkt. Emotionen können jedoch rational oder irrational sein, wie es auch Formen von Intelligenz gibt, die nicht notwendigerweise in unserer bewußten Erfahrung auftauchen müssen, gleichwohl aber in anderen Formen von Erfahrung in Erscheinung treten. Wenn es uns nicht gestattet ist, diese auszuüben, wird uns unser Menschsein unzugänglich.

Daher lautet meine Antwort: Ich bin ein Künstler, der in sozialen Fragen aktiv ist, wie auch in Organisationen und bei der Entwicklung neuer Konzepte von Politik, der aber auch sehr stark interveniert. Ich glaube, je mehr Risiken man auf sich nimmt, desto stärker wächst der persönliche Mut, und je mehr der persönliche Mut anwächst, desto mehr verändert man sich, gemeinsam mit anderen. Ich finde es wirklich schwierig, Kunst, Pädagogik und sozialen Aktivismus voneinander zu trennen.

SB: Wir sprachen über eine Dekolonisierung von Kultur. Nun ist Brasilien ein Land mit moderner Sklaverei in den Regenwaldgebieten, ein Land, dessen dunkelhäutige Bevölkerung sich in 70 oder 80 verschiedene Bezeichnungen der Hautfarbe differenziert, um nicht als schwarz zu gelten. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, daß Jahrhunderte der Kolonisation in den Menschen stecken, in ihrem Denken verankert sind. Auf welche Weise könnte dies Ihres Erachtens umgewandelt werden?

DB: Ich denke, das ist eine sehr gute Frage. Ich bin jetzt Wahl-Brasilianer. Es ist ein riesiges Land, und was Sie sagten trifft zu. Brasilien ist auch in dem Sinne ein sehr widersprüchliches Land, daß die Menschen gewissermaßen singen und tanzen, um nicht stillzustehen, um nicht in der Stille all die Stimmen zu hören. Ich denke offen gesagt, daß Brasilien noch nicht einmal begonnen hat, seine Erinnerung und demzufolge auch seine Imagination zu dekolonisieren. Ich sehe jedoch viele hoffnungsvolle Zeichen, daß das geschehen wird.

Ich habe viele Jahre als Bildhauer, Autor, Dichter und Drehbuchautor und am Theater gearbeitet. Doch heute - und das mag sich morgen oder im nächsten Jahr ändern -, denke ich, daß Tanz der wirksamste Weg ist, um zwanghafte Erinnerung in neue Ausdrucksformen unseres Menschseins zu verwandeln. Ich denke, wir haben sehr wenig Zeit und sind gehalten, wie ich das vorhin in der Diskussion formuliert habe, Raum und Zeit zu dekolonisieren, und das kann man durch Tanz oder auch durch Theater tun. Es geht um die Dekolonisierung von Sprache, Zeit und Raum sowie aller Elemente des zwanghaften Verhaltens, die sich in die Zukunft fortzuschreiben drohen. Dieser Prozeß erfolgt nach meinem Verständnis am besten durch die am wenigsten selbstzensierende Sprache, über die wir verfügen: die Sprache des Tanzes. Es ist schwer für den Körper zu lügen. Und es ist sehr interessant, wie Verhalten muskulär umgesetzt wird. Um diese Wandlung zu vollziehen, kann man nicht Worte verwenden. Man muß eine andere Sprache haben.

SB: Sie sprachen im Forum über die Intelligenz des Körpers - daß man körperlich nicht nur fühlt, sondern mit dem gesamten Körper auch denkt und handelt, nicht nur gesteuert vom Gehirn.

DB: Ich würde es so formulieren, daß das Gehirn ein Teil des gesamten Körpers ist, der, wie mir durchaus bewußt ist, gewissermaßen über eine spezifische Hardware verfügt. Indessen bin ich der Auffassung, daß man diesen Umstand nicht unzulässig vereinfachen darf. Die verschiedenen Aspekte unserer Intelligenz stehen in Beziehung zu sensorischem Wissen und den Ressourcen der Sinneswahrnehmung, über die wir verfügen. Ich denke daher, daß diese Intelligenz, die über den gesamten Körper verteilt ist, nicht nur durch eine einzige Sprache angesprochen werden kann.

SB: Ich möchte Ihnen eine letzte Frage stellen. Von außen betrachtet erscheint Brasilien als eine führende Wirtschaftsmacht und Lula da Silva als Held einer ganzen Generation. Ist das die ganze Wahrheit?

DB: Ich bin wirklich froh, daß Sie diese Frage zum Abschluß stellen. Ich lebe in einem Ort, an dem das Amazonasgebiet industrialisiert wird. Das ist gleichbedeutend mit der Vertreibung und möglichen Vernichtung neun indigener Zivilisationen. Der Bau der weltweit drittgrößten Wasserkraftanlage wird mit Sicherheit die Gleichgewichte der Umwelt destabilisieren und stören. Im Grunde müßte jeder Wissenschaftler mit etwas Selbstachtung das Risiko auf sich nehmen, diese Konsequenzen beim Namen zu nennen, mit denen wir in der Folge leben müssen. Ich bin der Auffassung, daß auf seiten der brasilianischen Regierung wirtschaftlich motivierter, kurzsichtiger Pragmatismus und Opportunismus vorherrscht. Wenngleich in der Regierung der Arbeiterpartei bedeutende Schritte gemacht werden, sehe ich sehr wenig Beweise dafür, daß die brasilianische Regierung so denkt wie wir. Ich weiß, daß es Berater, Staatssekretäre und Minister gibt, die dieses Gespräch führen und verstehen können. Die Situation am Amazonas ist extrem gefährlich und auch die Wälder am Atlantik, die an Brasilien angrenzenden Flüsse und Ozeane, alles ist in Gefahr.

SB: Auf hoher See werden Bohrungen nach Öl in bislang unerreichter Tiefe vorgenommen, wie sie nie zuvor riskiert wurden, die zwangsläufig außerordentlich gefährlich sind.

DB: Die Gefahrenlage ist umfassend, und ich denke tatsächlich, daß die sozialen Bewegungen geradezu auf perfekte Weise von der Arbeiterpartei in die Irre geführt wurden, indem ihre Führung von der Regierung absorbiert wurde. Ich bin Mitglied des Weltsozialforums und weiß, daß viele soziale Bewegungen in derartigen Fragen noch weit vom Stand unseres Gesprächs entfernt sind. Es gibt wirklich sehr wichtige Ideen, die die brasilianische Regierung erreichen sollten. Was die sozialen - ich möchte nicht das Wort Kräfte verwenden - Bewegungen betrifft, sind diese zwar momentan nicht allzu dynamisch, weshalb Bewegung keine sonderlich geeignete Metapher ist, sind diese Leute doch in gewisser Weise sozial engagiert. Dieses Gespräch sollte seinen Weg zurück nach Brasilien finden, wo es Paolo Freire verstehen würde. Von einer institutionellen Kultur oder einer politischen Kultur kann man in diesem Sinne jedenfalls noch nicht sprechen, und um das zu erreichen, bedarf es wohl noch geraumer Zeit und beträchtlicher Intervention.

SB: Dan Baron, vielen Dank für dieses Gespräch.

(Aus dem Englischen übersetzt von SB-Redaktion)

29. März 2012