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INTERVIEW/024: Traumgenau dem Wunsch entgegen - mit Hanna Schygulla im Gespräch (SB)


Interview mit Hanna Schygulla am 28. Oktober 2013

Trotzdem



Eine Katze, sagt man, hat sieben Leben. Hanna Schygulla auch - bis jetzt. Zusammen mit Rainer Werner Fassbinder wurde sie Ende der 60er Jahre zum Wegbereiter des Neuen Deutschen Films, Die Ehe der Maria Braun und Lili Marleen machten sie weltberühmt, die Liste der Regisseure, mit denen sie gearbeitet hat, ist so lang wie namhaft: Jean-Luc Godard, Marco Ferreri, Volker Schlöndorff, Wim Wenders, um nur einige wenige zu nennen. Daneben hat sie auch immer wieder Theater gespielt, beeindruckte als Gerhart Hauptmanns Rose Bernd oder in Elfriede Jelineks Der Tod und das Mädchen. Anfang der 80er startete sie eine Karriere als Sängerin und tourte mit französischen Chansons, Brechtschen Balladen und klassischem Liedgut durch ganz Europa. Mit Dokumentationen und Videoinstallationen machte sie sich auch als Filmemacherin einen Namen. Als ihre Eltern hilfsbedürftig werden, wird sie zur Altenpflegerin. Anläßlich ihres 70. Geburtstages im Dezember hat sie jetzt ihre Autobiographie vorgelegt: Wach auf und träume. Im nächsten Jahr wird sie als Dozentin an der Hochschule für Gestaltung in Genf ein Gastspiel geben.

Mit dem Schattenblick sprach Hanna Schygulla über die Motivation zu schreiben, Vergangenheit und Zukunft, Träume und Visionen, die Zeit von '68, über Deutschland, Zufälle und Widersprüche und über alte Klischees.

Foto: © Beat Presser

Hanna Schygulla
Foto: © Beat Presser

Schattenblick (SB): Frau Schygulla, ich habe Ihre Autobiographie mit großem Interesse und mit Vergnügen gelesen, und ich war überrascht, wieviel gelebtes Leben in so ein doch relativ schmales Bändchen paßt.

Hanna Schygulla (HS:) Ich hatte nie vor, ein dickes Buch zu schreiben. Wenn ich selber ein dickes Buch sehe, entfährt mir immer ein Seufzer, weil ich schon weiß, daß ich nicht bis zum Ende komme.

SB: Es gibt vielerlei Motive und Beweggründe, eine Autobiographie zu schreiben. Manch einer möchte mit der Aufzeichnung seines Lebens der Nachwelt ein Stück Zeitgeschichte erhalten, für andere ist es eine Möglichkeit zur Selbstreflexion, ein Lebensresümee oder auch Teil der Selbstfindung. Was waren Ihre Motive?

HS: Als allererstes war, ganz oberflächlich gesehen, die Dringlichkeit da, daß, wenn ich sie nicht schreibe, wird es jemand anders tun. Denn es sind schon Anfragen gekommen, und das wollte ich auf keinen Fall. Wenn, wollte ich selber schreiben, weil ich gerne schreibe, wenn auch nicht viel und nicht oft, aber wenn ich mich dann ransetze, ist das so eine Form von Kneten und Kristallisieren, die ich ganz schön finde. Andere Gründe spielen natürlich auch mit hinein. Wie ich ja auch an einer Stelle im Buch gesagt habe, möchte man sich vielleicht mit so einem Buch selbst überleben. Und dann ist jeder Mensch natürlich auch ein Vertreter seines Zeitgeistes. Ein Einzelleben ist auch ein Porträt seiner Zeit. Ich frage Leute immer nach dem, was sie selbst erlebt haben. Mich interessieren Lebensläufe, und insofern bin ich davon ausgegangen, daß der meine auch interessieren könnte.

SB: Sie beschreiben manchmal auf sehr kurze Weise sehr viel, zum Beispiel eine Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen in drei Zeilen. Und treffen das Wesentliche, so habe ich das beim Lesen empfunden.

HS: Ja, das habe ich gerne, daß ebenso viel ungesagt bleibt wie gesagt ist. Da fängt der Leser an, aus seinem Erfahrungsschatz zu ergänzen. Ich hätte auch das Dreifache schreiben können. Manchmal habe ich auch deshalb nicht so ausführlich geschrieben, um etwas für mich zu behalten, aber manchmal auch, weil ich immer daran gedacht habe, was da mitschwingen könnte im Leser. Natürlich sind meine Leser genauso von mir verschieden wie jeder Mensch vom andern, aber trotzdem sind wir alle Menschen.

Hinzu kommt noch, daß ich selber Dokumentarisches fast immer spannend finde und Fiktion nur selten. Das ist ein Widerspruch zu meiner Laufbahn, weil ich ja durch den Spielfilm immer im Bereich der Fiktion war. Aber ich konnte das schon beim Fernsehen beobachten, daß ich eher bei den Dokumentationen hängengeblieben bin.

Trotzdem finde ich natürlich nach wie vor, daß die Phantasie auf andere Weise begreift und Unsichtbares sichtbar machen kann. Ich halte ja sowieso sehr viel von der Phantasie, weil das Vermögen, sich etwas vorzustellen, der erste Schritt dazu ist, daß es dann vielleicht Wirklichkeit wird.

SB: Träumen ist in anderen Kulturen, beispielsweise bei den Aborigines in Australien, eine höchst schöpferische und Wirklichkeit kreierende Angelegenheit. In ihrem Titel `Wach auf und träume` klingt ebenfalls etwas sehr Aktives an. Was bedeutet Träumen für Sie?

HS: Ich interessiere mich für beide Arten zu träumen. Für Nachtträume, wo aus dem Unbewußten, ungefiltert und in bildhafter Sprache, Dinge an die Oberfläche geworfen werden, die wir uns manchmal selber verbergen möchten oder die wir in dieser Deutlichkeit gar nicht fähig sind zu sehen. Das interessiert mich sehr. Ich habe ja auch vor meiner eigenen Videokamera Traumprotokolle entwickelt, die als Videoinstallation ab Ende Januar in der Akademie der Künste in Berlin gezeigt werden. Und es interessiert mich natürlich das Tagträumen. Das ist ja sozusagen zu meinem Beruf geworden, mir vorzustellen ich hätte ein anderes Leben oder ich wäre eine andere.

Foto: Verlagsarchiv Schirmer/Mosel

1978 als Maria Braun, Filmstill
Foto: Verlagsarchiv Schirmer/Mosel

SB: Es gibt kaum einen Bericht, eine Dokumentation, ein Interview, in dem Ihr Name nicht fest, ja fast symbiotisch mit dem von Rainer Werner Fassbinder verknüpft wäre. Ist das tatsächlich zutreffend in dieser Art von Symbiose, und welches Verhältnis haben Sie heute zu ihm und zu Ihrer gemeinsamen, doch sehr intensiven Zeit?

HS: Ein Teil davon ist Vergangenheit, und ich habe es nicht gerne, immer auf die Vergangenheit zurückgebunden zu werden. Aber auf der anderen Seite ist etwas davon auch Gegenwart, das heißt, ich habe einiges aus diesen Impulsen, nach denen er seine Kreationen gemacht hat, wenn auch in bescheidenerer Form in meine eigene Kreativität von heute mit herübergenommen. Ich mache ja nur kleine Filme, Miniaturformen, an die ich herangehe, ohne mir erstmal irgendwelche Grenzen der Unmöglichkeit zu setzen, einfach mit dem, was ich um mich herum habe.

Mit Fassbinder habe ich die allerersten Filme gemacht, die ersten Schritte, und ich habe gemerkt, wie er das Unmittelbare aus dem, was in seinem Leben war, hinein verwoben hat in seine Fiktionen. Es gibt einen Satz von ihm: "Man kann nicht Filme über etwas machen, man kann nur Filme mit etwas machen, mit Menschen, mit Licht, mit Blumen, mit Spiegeln, ..." Damit wollte er sagen, es sind ganz konkrete Dinge aus unserem Leben, woran sich ein Phantasiegebilde entzündet, so wie man aus Seife und Atem mit einem Ring, den man in die Lauge taucht, eine schillernde Blase machen kann. Er hatte diesen Mut zum Ausdruck, auch ohne große Ausbildung. Er hat zunächst vom Zuschauerraum her das Filmen gelernt. Und ich konnte ihm dann bei seiner Art zu filmen zuschauen. Ohne ihn wäre ich gar keine Schauspielerin geworden. Er hat mein Leben in eine neue Bahn gebracht. Es war die entscheidendste Begegnung für das, was aus mir beruflich geworden ist und wovon ich seitdem leben kann.

Hanna Schygulla liegend am Strand - Foto: Verlagsarchiv Schirmer/Mosel

1983 in 'Die Geschichte der Piera' von Marco Ferreri, für die sie die Goldene Palme in Cannes erhält
Foto: Verlagsarchiv Schirmer/Mosel

SB: Sie haben die Aufbruchszeit um '68, auch zusammen mit ihm, ja unmittelbar erlebt. Viele Zeitgenossen von damals haben ihre Handlungsweisen, ihre Erfahrungen und Erkenntnisse dieser Jahre später gern als Jugendsünden und altersbedingten Ausbruch entschuldigt, nach dessen Scheitern sie zur Vernunft gekommen und realistisch geworden seien. Wie sehen Sie diese Zeit, und möchten Sie sich aus dieser Zeit etwas bewahren?

HS: Auf jeden Fall möchte ich mir aus dieser Zeit etwas bewahren. Schon allein aus den Sprüchen dieser Jahre: 'All we need is love' zum Beispiel oder 'Make love not war' oder 'Ein ganzer Mensch werden' oder vor allem: Sein statt Haben und dies von Adorno: 'Gibt es ein richtiges Leben im Falschen?' Ich sehe das als Frage, die immer aufs Politische schauen läßt. Auch wenn uns oft nichts anderes bleibt, als die Dinge im eigenen Bereich zu verwirklichen und nicht darauf zu warten, daß sich das Soziale in der Politik ausbreitet, sondern sich selber sozial zu verhalten, zu helfen, wo man kann, und zu teilen. Wobei das Anarchistische, glaube ich, wahrscheinlich im künstlerischen Bereich besser zu Hause ist als im politischen. Aber trotzdem, die Eruptionen braucht es auch. Deutschland scheint mir zur Zeit unheimlich verfestigt und selbstzufrieden. Wir sind die Musterschüler Europas, und jetzt haben wir eine Mutti, die sorgt dafür, daß wir unser Schäfchen im Trockenen halten können. Ohne jede Vision. Visionen sind ja auch Formen von Träumen.

Ich bin nur gegen das allzu Theoretische, das habe ich schon damals so empfunden, wenn auf den Sit-ins in der Uni die Reden geschwungen wurden. Da hab' ich mir oft gedacht, na ja, die wissen's auch nicht. All das abstrakte Reden in Begriffen ist mir immer etwas gewesen, das einerseits an mir abgleitet - und bestimmt nicht nur an mir -, und was mir auch immer ein Zeichen dafür war, daß es nicht gelebt ist. Es bleibt Programm.

SB: Visionen müssen ja zu ihrer Existenzberechtigung auch nicht unmittelbar mit dem Anspruch auf Realitätstauglichkeit antreten, sondern sie tragen die Potenz des Möglichen in sich, aber sie müssen keine Garantien abgeben, daß es auch alles so läuft.

HS: Sie müssen durch die Wirklichkeit hindurchgehen, sind Funken aus dem Luftraum der Gedanken und werden da zum Antrieb. Aber trotzdem finde ich, daß man die Qualität von Visionen auch daran ablesen kann, wieviel sich davon verwirklichen läßt.

Man sagt ja immer, der Wunsch sei der Vater des Gedanken - und ich würde sagen, der Wunsch ist auch die Mutter der Wirklichkeit. Die Franzosen haben den Ausdruck 'la flamme sacrée' dafür, das ist diese kleine heilige Flamme in uns. Man sollte meines Erachtens seine Kinderwünsche nie vergessen. Wenn ich jemanden näher kennenlernen möchte, frage ich sehr oft, was er sich als Kind gewünscht hat, wovon er als Kind geträumt hat, das er einmal sein wird, was die ersten Phantasien waren. Ich finde, daß das etwas aussagt über unsere Natur und über unsere Begabung.

Foto: Verlagsarchiv Schirmer/Mosel

Im Alter von fünf Jahren, München 1948
Foto: Verlagsarchiv Schirmer/Mosel

SB: Sie wandern auch in Ihrer Biographie ja durchaus zwischen den Zeiten und sagen, manchmal sind wir zum Beispiel dreizehn und manchmal dreiundsechzig.

HS: Ja, das empfinde ich ganz stark, dieses Wandern in den verschiedenen Altersstufen. Dabei kommt es auch darauf an, mit wem ich zusammen bin.

Während meines Philologiestudiums habe ich unter anderem das Märchen zum Thema gehabt, daß unsere Lieblingsmärchen etwas aussagen über unseren Psychotypus. Deshalb habe ich auch ein paar Zeilen darüber in der Biographie geschrieben, weil ich finde, daß sich darin zeigt, was wir unbewußt fühlen, was unser Weg sein könnte. Wobei ich heute gar nicht mal weiß, ob die Märchen noch lebendig sind. Vielleicht in Cartoonform oder bei Harry Potter, diesem Zauberlehrling, ich habe das nie gelesen. Aber der Wunsch nach den Wundern im Leben, das ist schon etwas, was ich in mir fühle und was ich auch erlebe. Ich finde vieles wunderbar. Das muß nicht spektakulär sein, aber daß da etwas Unbegreifliches oder auch Begreifliches sich vollzieht, das einer verborgenen Gesetzmäßigkeit folgt oder einer Geheimschrift oder wie auch immer...

SB: Wobei zwischen Wunder erleben und Wunder tun ja noch ein Unterschied besteht.

HS: Das weiß ich gar nicht. Wir haben das alles so abgegrenzt von unserem Leben, da denkt man sofort an die Bibel und an Heilige und so etwas, aber so, wie ich das ja auch erwähne, daß meine Mutter wahrscheinlich gedacht hat, ihr geschieht ein Wunder, daß ausgerechnet ich, die ich sie in einer gewissen Phase doch sehr bekämpft habe, ihr soviel Zeit gegeben habe und soviel Leben von meinem - diese Wunder meine ich. Die auch in der Liebe passieren, weil das eine Zaubermacht ist (lacht), das spürt doch jeder, wenn die Liebe in ihn hineinfährt, auch in ihrer ruhigeren Form. Alles, was man mit Liebe tut, führt zu diesem 'Sesam, öffne dich', was ja eine Märchenformel ist, daß etwas aufgeht, was sich vorher nicht ermöglicht hat, was nicht da war.

SB: Sie werden, Frau Schygulla, immer wieder mit Attributen wie "schlafwandlerisch", "abwesend verträumt", von "schwebend tranceartiger Ausstrahlung" oder "angenehm einschläfernder" Sprachmelodie charakterisiert. Es umgibt Sie angeblich immer ein wenig die Aura des Entrücktseins.

HS: Ja, das sind aber die allerersten Attribute, die man mir damals gegeben hat.

SB: In einem Interview in der FAZ aus dem Jahr 2007 spricht André Müller von Ihrem "berühmten Phlegma", und Der Tagesspiegel titelte am 20. Oktober diesen Jahres mit "Säuselnde Schläfrigkeit"...

HS: Über diese Überschrift habe ich mich geärgert, was hatte das mit dem Artikel zu tun?

SB: Manchmal hat man den Eindruck, da wird ein Klischee kolportiert und der eine übernimmt's vom anderen, als würde er befürchten, daß er sonst etwas Wesentliches vergißt, wenn er über Sie schreibt. Ich jedenfalls kann all das, wenn ich Sie sehe, höre oder auch lese, nicht finden und hielte es da eher mit der Brecht'schen Kunst der Verfremdung, was manche Ihrer Rollen betrifft. Handelt es sich bei dieser Schublade, die als eine Art Markenzeichen immer weitergetragen wird, vielleicht eher um die Verschleierung eines Unverständnisses Ihrer Person oder Ihrer Rolleninterpretationen? Was meinen Sie dazu?

HS: Erstens glaube ich, wird es einfach aus geistiger Trägheit immer weitergeschleppt. Und zweitens wird da etwas verwechselt, weil wir ja doch in einem sehr rationalen, materialistischen Kulturraum sind. Da wird diese Zuneigung zum Traumartigen in mir, also auch die Verwandlung von Trauma in Traum, diese psychische Arbeit also, verwechselt mit Schläfrigkeit. Es kann schon auch sein, daß ich sehr lange schweige, wenn ich zuhöre, und früher hatte ich natürlich das Problem der Introvertiertheit, da bin ich aber ziemlich rausgekommen. Dieses Schweigsame hat vielleicht auch dazu beigetragen und eine gewisse Langsamkeit in mir, das ist so ein slawisches Element. Ich kenne auch sehr große Geschwindigkeiten, so daß manche sagen, um Gottes Willen, bitte sag es nochmal, ich kann nicht folgen. Auch im Kreativen, wenn ich etwas zu Papier bringe, dauert es erstmal lange, bis ich anfange, aber dann geht es so schnell, daß ich kaum nachkomme.

Foto: © Beat Presser

Foto: © Beat Presser

Ich glaube schon, daß ich ein ziemlich wacher Mensch bin, aber eben auch einer, der im Wachsein - deshalb ja der Titel meines Buches - immer auf die innere Stimme zu hören versucht. Ich will mir die Einflüsterungen der Intuition bewahren, daß sie nicht untergehen, daß ich da mein Ohr immer ganz nah dran habe. Das ist es vielleicht, was einen Teil meiner Faszination ausmacht, wenn überhaupt, daß da jemand gegen das übliche Erfolgsrezept doch bei dem zu Innersten bleibt, also das, was durch die Intuition eigentlich jedem Menschen zugeflüstert wird, aber manche hören eben nicht darauf.

SB: In Ihrem Leben spielt der Zufall eine nicht unerhebliche Rolle. Sie schreiben, "der Zufall hat mich immer geführt", oder, "wenn es der Zufall so will, brauche ich es nicht mehr zu wollen". Andererseits sprechen Sie vom "magischen Denken, das Bilder erfinden und zu Entwürfen neuer Wirklichkeiten machen kann - ich erfinde, also finde ich." Geht das zusammen?

HS: Je einfacher das Bild, in dem ich eine gewünschte Veränderung begreife, desto mehr wird es in meine Wirklichkeit eingreifen und desto mehr kommt mir darin der Zufall entgegen. So wie jetzt zum Beispiel, seit ich denke, so viele geben etwas weiter, was gibst du eigentlich? Denn das gehört doch auch zum Leben, an die Jüngeren etwas weiterzugeben, und seit ich so denke, daß das eigentlich schön wäre -, kamen dann Vorschläge, mich an Hochschulen für Kunst und Gestaltung zu einem Dialog mit den Studenten zu holen. Ich weiß überhaupt nicht, wie das geht, aber ich bin bereit. So meine ich das. Wenn wir in unserer Routine einhalten und uns fragen, wie kann 's denn weitergehen, wo geht das innere Pendel hin, dann kommen die Gelegenheiten per Zufall.

SB: Sie schreiben, Sie brauchen das Geheimnisvolle wie das tägliche Brot, um gern zu leben. Wie meinen Sie das?

HS: So, wie ich 's gesagt habe. Das Geheimnisvolle offenbart sich mir im Zufall, diesen plötzlichen, unbeabsichtigten Querverbindungen. Zufall heißt ja im Französischen auch 'coïncidence', meint also das Zusammenfallen von Ereignissen.

SB: Das Wort "trotzdem", auch das ist in Ihrem Buch zu lesen, hat immer eine Hauptrolle gespielt. Was bedeutet es Ihnen heute?

HS: Ich möchte trotz meines Alters immer noch neue Leben anfangen. Ich möchte trotz meiner gesundheitlichen Einschränkung, und obwohl ich bewegungsmäßig sehr vorsichtig leben muß, in dieser ständigen Vergegenwärtigung eines Schwachpunktes in meiner Wirbelsäule auch eine neue Stärke finden. Es heißt eigentlich in der letzten Konsequenz: Freu dich, so lange du laufen und dich bewegen kannst, und das nicht einfach so selbstverständlich zu nehmen und die Tage nicht so routinemäßig verstreichen zu lassen.

SB: Was sind Ihre aktuellen Projekte und was Ihre nächsten Pläne?

HS: Meine nächsten Pläne sind, erst einmal noch weiter das Buch vorzustellen. Das heisst weitere Öffentlichkeit. Am 24. November zum Beispiel gibt es im Renaissance Theater in Berlin eine solche Veranstaltung. Anschließend werde ich nach Kuba fahren. Ich habe eine neue Filmminiatur mit meiner kubanischen Freundin Alicia gemacht über die Kunst des Erzählens, die wird auf dem Film-Festival gezeigt. Dann will ich dort eine Ozonkur machen, und wenn ich zurückkomme, beginnt am 31. Januar die Ausstellung "Traumprotokolle" in der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin. Und dann fängt schon das erwähnte Hochschulprojekt an. Darüber hinaus sehe ich eigentlich im Moment noch nicht. Ich gebe mir noch zwei Jahre, um zu beobachten, ob ich nun den großen Umzug nach Berlin mache, um eben auch zu sehen, was sich da in Berlin für mich auftut an neuen Begegnungen. Eine Stadt, das sind ja eigentlich die Begegnungen, die man in ihr hat und die Freundschaften.

SB: Zum Schluß habe ich noch eine etwas märchenhafte Frage. Wenn Sie drei Träume - und ich sage bewußt nicht Wünsche - frei hätten, deren Realisierung lohnenswert wäre, welche wären das?

HS: Eine Altersrolle, in der auch das Lächerliche und der Humor eine gewisse Rolle spielen, eine aktive, eine gebende Rolle. Dann vielleicht, ein zweites Buch schreiben, das könnte "Moment mal" heißen. Also Momente erweitern und zu einer Zeitlosigkeit bringen. Und als drittes, keine Angst mehr haben, ich könnte nochmal in den Rollstuhl müssen.

SB: Frau Schygulla, wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.


Anmerkung:

Die Rezension zum Buch von Hanna Schygulla Wach auf und träume finden Sie unter:
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REZENSION/028: Hanna Schygulla - Wach auf und träume (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/buch/biograph/bubir028.html


7. November 2013